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III.
Das Problem des Übels

Wenn wir fragen, warum es Übel in der Welt gibt, so ist es dasselbe, als ob wir fragten, warum es Unvollkommenheit gibt, oder mit andern Worten, warum es überhaupt Schöpfung gibt. Wir müssen als selbstverständlich annehmen, daß es nicht anders sein könnte, daß jede Schöpfung sich stufenweise vollziehen und daher immer unvollkommen sein muß, und daß es müßig ist, zu fragen, warum wir da sind.

Unsre Frage sollte vielmehr so lauten: Ist diese Unvollkommenheit die letzte Wahrheit, ist das Übel ein Absolutes? Der Fluß hat seine Grenzen, seine Ufer, aber besteht der Fluß nur aus Ufern? Oder sind die Ufer das Letzte, was sich über den Fluß sagen läßt? Sind es nicht diese Schranken selbst, die seine Wasser vorwärtsdrängen? Das Schlepptau hält das Boot fest, aber will es es damit nur fesseln? Zieht es nicht zu gleicher Zeit das Boot vorwärts? Der Strom der Welt hat seine Grenzen, sonst könnte er nicht sein, aber der Sinn seines Daseins zeigt sich nicht in den Grenzen, die ihn einschränken, sondern in seinem Lauf, der der Vollendung zustrebt. Das Wunder ist nicht, daß es Hemmnisse und Leiden in dieser Welt gibt, sondern daß es Gesetz und Ordnung, Schönheit und Freude, Güte und Liebe gibt. Die Idee Gottes, die der Mensch in seinem Geiste hat, ist das Wunder aller Wunder. Er hat im tiefsten Innern erkannt, daß das, was als unvollkommen erscheint, die Offenbarung des Vollkommenen ist; wie ein Mensch, der ein Ohr für Musik hat, das Lied in seiner Vollendung vernimmt, während er tatsächlich nur einer Folge von Tönen lauscht. Der Mensch hat die große paradoxe Wahrheit entdeckt, daß das Begrenzte nicht in seinen Grenzen gefangen ist, es strömt beständig vorwärts und läßt in jedem Augenblick etwas von seiner Begrenztheit zurück. Ja, Unvollkommenheit ist nicht eine Verneinung der Vollkommenheit, sondern Vollkommenheit, die stückweise in Erscheinung tritt; Endlichkeit ist kein Gegensatz zur Unendlichkeit, sondern Unendlichkeit, die sich innerhalb von Grenzen offenbart.

Der Schmerz, der das Gefühl unsrer Endlichkeit ist, ist nichts Festes in unsrem Leben. Er hat nicht seinen Zweck in sich wie die Freude. Wenn wir ihm begegnen, so wissen wir, daß er nicht zu dem Dauernden in der Schöpfung gehört. Er ist das, was der Irrtum in unserm intellektuellen Leben ist. Wenn wir die Geschichte der Naturwissenschaft in ihrer Entwicklung überblicken, so sehen wir nur ein großes Gewirr von Irrtümern, die sie zu verschiedenen Zeiten in Umlauf gesetzt hat. Und doch wird niemand im Ernst glauben, daß die Naturwissenschaft nur die vollkommene Methode ist, Irrtümer auszustreuen. Das allmähliche Vordringen zur Wahrheit ist das Wesentliche in der Geschichte der Naturwissenschaft, nicht ihre unzähligen Irrtümer. Der Irrtum hat seiner Natur nach keine bleibende Stätte, er muß immer der Wahrheit weichen; wie ein Landstreicher muß er sein Quartier räumen, sobald er seine Rechnung nicht ganz bezahlt.

Was vom Irrtum auf geistigem Gebiet gilt, das gilt vom Übel in jeder Form: es gehört zu seinem Wesen, daß es nicht dauern kann, denn es steht im Widerstreit mit dem Ganzen. Jeden Augenblick wird es von der Totalität der Dinge berichtigt und wechselt beständig sein Aussehen. Wir legen ihm zuviel Wichtigkeit bei, wenn wir es für mehr als etwas Vorübergehendes nehmen. Könnten wir eine Statistik aufstellen über das, was in diesem Augenblick an Sterben und Verwesung auf der Erde vor sich geht, die ungeheuren Zahlen würden uns mit Grauen erfüllen. Aber das Übel ist stets in Bewegung, trotz seines unermeßlichen Umfangs vermag es doch nicht den Strom unsres Lebens zu hemmen, und wir sehen, daß Erde, Wasser und Luft süß und rein bleiben für die, die da leben. Jede Statistik ist ein Versuch, das als Feststehendes darzustellen, was in Bewegung ist, und bei diesem Verfahren erhalten die Dinge in unsrem Geiste ein Gewicht, das sie in Wirklichkeit nicht haben. Aus diesem Grunde ist ein Mensch, der durch seinen Beruf genötigt ist, sich nur mit einer besondern Seite des menschlichen Lebens zu beschäftigen, geneigt, ihre Verhältnisse zu vergrößern; indem er die einzelnen Tatsachen über Gebühr betont, verliert er die Wahrheit aus dem Auge. Ein Geheimpolizist mag Gelegenheit haben, Verbrechen im einzelnen zu studieren, aber er verliert das Gefühl für die Relativität ihrer Bedeutung in der Gesamtheit des sozialen Lebens. Wenn die Naturwissenschaft Tatsachen sammelt, um den Kampf ums Dasein zu illustrieren, der im Reich des Lebens vor sich geht, so beschwört sie vor unsrem Geiste ein Bild von der Natur als blutlechzendem Raubtier. Aber bei solchen geistigen Bildern geben wir Farben und Formen Dauer, die ihrem Wesen nach flüchtig sind. Es ist, als ob wir das Gewicht der Luft auf jedem Quadratzoll unsres Körpers ausrechnen wollten, um ihre zermalmende Schwere zu beweisen. Doch jedes Gewicht hat seinen Ausgleich, und so tragen wir unsre Last leicht. Auch für den Kampf ums Dasein in der Natur gibt es einen Ausgleich. Da ist die Liebe zu Kindern und Kameraden, da ist die Selbstaufopferung, die aus der Liebe entspringt, und diese Liebe ist das positive Element im Leben.

Wenn wir unsre ganze Aufmerksamkeit auf die Tatsache des Todes richteten, so würde uns die Welt wie ein ungeheures Leichenhaus erscheinen, aber in der Welt des Lebens hat der Gedanke an den Tod die denkbar geringste Gewalt über unsren Geist. Nicht weil er die am wenigsten sichtbare, sondern weil er die negative Seite des Lebens ist. Das Leben als Ganzes nimmt den Tod nie ernst. Es lacht, tanzt und spielt, baut Häuser, sammelt Schätze und liebt, dem Tode zum Trotz. Nur wenn wir einen einzelnen Todesfall für sich betrachten, starrt uns seine Leere an, und wir werden von Grauen erfaßt. Wir verlieren das Ganze des Lebens, von dem der Tod nur ein Teil ist, aus dem Gesicht. Es ist, wie wenn wir ein Stück Zeug durch ein Mikroskop betrachten. Es erscheint uns wie ein Netz; wir starren auf die großen Löcher und meinen die Kälte hindurchzuspüren. Aber in Wahrheit ist der Tod nicht die letzte Wirklichkeit. Er sieht schwarz aus, wie die Luft blau aussieht; aber er gibt unsrem Dasein ebensowenig seine Farbe wie die Luft auf den Vogel abfärbt, der sie durchfliegt.

Wenn wir ein Kind beobachten, das zum erstenmal zu gehen versucht, so sehen wir seine zahllosen vergeblichen Ansätze; es gelingt ihm nur selten. Wenn wir unsre Beobachtung auf einen engen Zeitraum beschränken müßten, so würde der Anblick trostlos sein. Aber wir sehen trotz der immer wiederholten vergeblichen Versuche in dem Kinde einen freudigen Antrieb, der es bei seiner scheinbar unmöglichen Aufgabe aufrecht hält. Wir sehen, es denkt weniger daran, daß es immer wieder hinfällt, als daß es imstande ist, wenn auch nur einen Augenblick, sein Gleichgewicht zu halten.

Wie an diesen Fehlschlägen bei den ersten Gehversuchen eines Kindes, so erkennen wir an den Leiden mannigfacher Art, die uns jeden Tag unsres Lebens begegnen, wie unvollkommen unser Wissen ist, wie gering die Kraft, die uns zu Gebote steht, und wie weit unser Tun stets hinter unserm Wollen zurückbleiben muß. Aber wenn dies alles nur dazu diente, uns unsre Schwäche zu zeigen, so müßten wir vor Mutlosigkeit vergehen. Wenn wir nur ein begrenztes Gebiet unsrer Tätigkeit zum Beobachtungsfeld auswählten, so würden unsre persönlichen Mißerfolge und trüben Erfahrungen sich vor unserm Blick hoch auftürmen.

Aber unser Leben führt uns instinktiv zu einem weiteren Ausblick. Es gibt uns ein Ideal von Vollkommenheit, das uns stets über die Schranken des Augenblicks hinausträgt. In uns haben wir eine Hoffnung, die beständig vor uns hergeht und ihr Licht über den engen Kreis unsrer gegenwärtigen Erfahrungen hinauswirft; es ist der unauslöschliche Glaube an das Unendliche in uns; dieser erkennt unser Unvermögen nie als eine endgültige Tatsache an, er kennt keine Schranken, seine Kühnheit geht soweit, zu behaupten, daß der Mensch eins ist mit Gott, und seine phantastischen Träume werden täglich wahr.

Wir sehen die Wahrheit, wenn wir unsern Sinn auf das Unendliche richten. Das Ideal der Wahrheit ist nicht in der engen Gegenwart, nicht in unsern unmittelbaren Eindrücken, sondern in dem Bewußtsein des Ganzen, welches uns in dem, was wir tatsächlich haben, das ahnen läßt, was wir haben sollten. Bewußt oder unbewußt haben wir in unserm Leben dies Gefühl für die Wahrheit, die immer größer ist als ihre Erscheinung; denn unser Leben ist dem Unendlichen zugewandt und bewegt sich ihm zu. Sein Streben geht daher weit über sein Vollbringen hinaus, und in dem Maße, wie es vorwärts kommt, wird ihm klar, daß eine Wahrheit, die sich ihm offenbart hat, es niemals in der Wüste der Endlichkeit ausgesetzt zurückläßt, sondern es darüber hinausträgt. Das Übel kann nicht wie ein Straßenräuber das Leben in seinem Laufe ganz aufhalten und es seiner Habe berauben. Denn es muß weiter, es muß sich zum Guten entwickeln, es kann nicht stehen bleiben und gegen das All kämpfen. Wenn das geringste Übel irgendwo unbegrenzt haften bleiben könnte, so würde es sich einfressen bis an die Wurzeln des Daseins und sie zernagen. Aber so, wie es ist, glaubt der Mensch nicht wirklich an das Übel, ebensowenig wie er glauben kann, daß die Geigensaiten eigens dazu gemacht seien, die empfindliche Tortur disharmonischer Töne hervorzubringen, obgleich man mit Hilfe von Statistiken mathematisch beweisen könnte, daß sie durchweg weit mehr Mißtöne als Wohlklang erzeugen und daß auf einen, der Geige spielen kann, Tausende kommen, die es nicht können. Die Möglichkeit des Vollkommenen wiegt schwerer als die tatsächlichen Erfahrungen, die ihm widersprechen. Ohne Zweifel hat es immer Leute gegeben, die behaupten, daß das Dasein ein absolutes Übel sei, aber der Mensch kann sie nie ernst nehmen. Ihr Pessimismus ist bloße Pose, sei es nun eine Pose des Intellekts oder des Gefühls. Doch das Leben selbst ist optimistisch; es will vorwärts. Der Pessimismus ist eine Art geistiger Trunksucht; er verschmäht gesunde Nahrung, frönt dem Genuß des Haderns und Anklagens und bringt sich künstlich in einen Zustand der Niedergeschlagenheit, der ihn nach stärkeren Mitteln greifen läßt. Wenn das Dasein ein Übel wäre, so bedürfte es nicht erst eines Philosophen, um es zu beweisen. Es ist, als wollte man einen Menschen des Selbstmords überführen, während er die ganze Zeit leibhaftig dasteht. Das Dasein beweist uns durch sich selbst, daß es kein Übel sein kann.

Eine Unvollkommenheit, die nicht ganz Unvollkommenheit ist, sondern Vollkommenheit als Ideal hat, muß allmählich zu ihrem Ziel gelangen. So ist es die Aufgabe unsres Intellekts, die Wahrheit durch ihr Gegenteil zu verwirklichen, und Wissenschaft ist nichts anderes als ein beständiges Verbrennen des Irrtums, um das Licht der Wahrheit zu erzeugen. Unser Wille, unser Charakter muß, um zur Vollkommenheit zu gelangen, beständig Übel überwinden, sei es nun, daß sie von innen oder von außen oder von beiden Seiten kommen; unser physisches Leben muß beständig physische Stoffe verzehren, um die Flamme des Lebens zu erhalten, und auch unser sittliches Leben braucht seinen Brennstoff. Wir sehen und fühlen, wie dieser Lebensprozeß vor sich geht, und wir haben die feste Zuversicht, die keine Einzelerfahrungen vom Gegenteil erschüttern können, daß die Richtung der menschlichen Entwicklung vom Übel zum Guten geht. Denn wir fühlen, das Gute ist das positive Element in der Menschennatur, und das, was dem Menschen immer und überall am höchsten steht, ist sein Ideal vom Guten. Wir haben das Gute erkannt, wir haben es lieben gelernt und wir haben den Menschen die höchste Verehrung erwiesen, die in ihrem Leben gezeigt haben, was das Gute ist.

Man wird fragen: Was ist das Gute? Was ist das, wohin unsre sittliche Natur strebt? Meine Antwort ist: Wenn der Mensch anfängt, sein Selbst in einem weiteren Sinne zu verstehen, wenn er erkennt, daß er viel mehr ist, als er im gegenwärtigen Augenblick zu sein scheint, dann fängt er an, sich seiner sittlichen Natur bewußt zu werden. Dann sieht er das, was er werden soll, vor sich, und sein künftiges Wesen wird ihm mehr Wirklichkeit als sein gegenwärtiges. Und so wird auch seine Anschauung vom Leben eine andre werden, und der Wille tritt an Stelle der Triebe. Denn der Wille ist der höchste und vornehmste Trieb, der Trieb des umfassenderen Lebens, dessen größerer Teil über unsern gegenwärtigen Bereich hinaus liegt und dessen meiste Gegenstände wir nicht sehen. Dann kommt der Konflikt unsres kleineren mit unserm größeren Selbst, unsrer Triebe mit unserm Willen, unsrer Begierde nach Dingen, die unsre Sinne reizen, mit dem Ideal, das wir in unserm Herzen haben. Dann fangen wir an, zu unterscheiden zwischen dem, was wir unmittelbar begehren, und dem, was gut ist. Denn gut ist das, was für unser größeres Selbst begehrenswert ist. So wächst das Gefühl für das Gute in uns in dem Maße, wie wir unser Leben richtig erkennen, das heißt, wie wir es im Zusammenhang mit der Gesamtheit des Lebens sehen und nicht nur das, was wir vor Augen haben, in Betracht ziehen, sondern auch das, was wir nicht sehen und in unsrer Menschlichkeit vielleicht nie sehen können. Der Mensch, der für die Zukunft sorgt, hat das Gefühl für das Leben, das noch kommen soll, hat mehr Gefühl dafür als für das Leben, das er im Augenblick lebt; daher ist er bereit, seine gegenwärtige Neigung der noch nicht wirklich gewordenen Zukunft zu opfern. Darin ist er groß, denn er lebt in der Wahrheit. Sogar um mit Erfolg seiner Selbstsucht zu dienen, muß er diese Wahrheit anerkennen und seine unmittelbaren Triebe im Zaum halten, mit andern Worten, muß sittlich sein. Denn unsre sittliche Fähigkeit ist die Fähigkeit, durch die wir wissen, daß das Leben nicht aus Bruchstücken besteht, ohne Zweck und Zusammenhang. Dies sittliche Gefühl läßt den Menschen nicht nur erkennen, daß das Selbst eine Kontinuität in der Zeit hat, sondern es befähigt ihn auch zu sehen, daß er nicht zu seinem wahren Sein gelangt, solange er sich auf sein eigenes Ich beschränkt. Er ist in Wahrheit mehr, als er rein tatsächlich ist. Er ist aufs engste verbunden mit Wesen, die nicht in sein Ich-Bewußtsein eingeschlossen sind und die er wahrscheinlich nie kennen lernt. Wie er ein Gefühl für sein zukünftiges Selbst hat, das außerhalb seines gegenwärtigen Bewußtseins liegt, so hat er auch ein Gefühl für sein größeres Selbst, das außerhalb der Grenzen seiner Persönlichkeit liegt. Es gibt keinen Menschen, der nicht bis zu einem gewissen Grade dies Gefühl hat, der nie seinen selbstsüchtigen Wunsch um eines andern willen geopfert, der nie die Freude gefühlt hat, irgendeinen Verlust oder eine Beschwerde auf sich zu nehmen, um einen andern zu erfreuen. Es ist eine unzweifelhafte Wahrheit, daß der Mensch nicht ein losgelöstes Wesen, sondern ein Teil des Universums ist, und wenn er dies erkennt, wird er groß. Auch die schlechtgesinnteste Selbstsucht muß diese Wahrheit anerkennen, wenn sie die Kraft zum Bösen finden will, denn sie kann nicht stark sein ohne die Wahrheit. Um also die Hilfe der Wahrheit zu haben, muß die Selbstsucht bis zu einem gewissen Grade selbstlos sein. Eine Bande von Räubern muß sittlich sein, um als Bande zusammenzuhalten; sie können die ganze Welt berauben, aber nicht einander. Wenn ein unsittlicher Anschlag Erfolg haben soll, müssen die Waffen zum Teil sittlich sein. Ja, oft ist es gerade unsre sittliche Kraft, die uns erst wirklich befähigt Böses zu tun, andre in unserm Interesse auszubeuten und ihrer gerechten Ansprüche zu berauben. Das Leben eines Tieres ist nicht-sittlich, denn es lebt nur in der unmittelbaren Gegenwart; das Leben eines Menschen nennen wir unsittlich, das bedeutet, daß wir bei ihm eine sittliche Basis voraussetzen. Was unsittlich ist, ist unvollkommen sittlich, ebenso wie das, was falsch ist, bis zu einem gewissen Grade wahr sein muß, sonst kann es nicht einmal falsch sein. Nicht sehen heißt blind sein, aber verkehrt sehen heißt nur unvollkommen sehen. Des Menschen Selbstsucht ist der Anfang dazu, daß er einen Zusammenhang, einen Zweck im Leben sieht, und wenn er in Übereinstimmung mit ihren Forderungen handeln will, so muß er Selbstbeherrschung üben und sein Verhalten einem Gesetz unterwerfen. Ein egoistischer Mensch nimmt im Interesse seines Ichs Beschwerden auf sich, ohne Murren erträgt er Mühsal und Entbehrungen, nur weil er weiß, daß das, was im engen Zeitraum als Leid und Ungemach erscheint, sich in sein Gegenteil verwandelt, sobald man es im größeren Zusammenhang sieht. So wird das, was für das kleinere Selbst Verlust bedeutet, Gewinn für das größere und umgekehrt.

Für den Menschen, der für eine Idee lebt, für sein Vaterland, für das Wohl der Menschheit, hat das Leben einen umfassenderen Sinn, und in demselben Maße verliert der Schmerz für ihn an Bedeutung. Gut sein heißt das Leben aller leben. Genuß beschränkt sich auf unser eigenes Selbst, aber das Gute dient dem Glück der ganzen Menschheit für alle Zeit. Vom Gesichtspunkt des Guten aus verlieren Freude und Schmerz ihren absoluten Wert so sehr, daß man unter Umständen die Freude flieht und um den Schmerz wirbt und den Tod willkommen heißt, da er dem Leben einen höhern Wert gibt. Die Märtyrer haben dies in der Geschichte bewiesen, und wir beweisen es jeden Tag unsres Lebens in unsern kleinen Martyrien. Wenn wir einen Krug voll Wasser aus dem Meer holen, so fühlen wir sein Gewicht, aber wenn wir ins Meer selbst hineintauchen, so fließen tausend Krüge voll über unsern Kopf hinweg, und wir fühlen ihr Gewicht nicht. Wir müssen den Krug unsres Ichs mit unsrer eigenen Kraft tragen, und während in der Sphäre der Selbstsucht Freude und Schmerz ihr volles Gewicht haben, sind sie in der sittlichen Sphäre so viel leichter, daß der Mensch, der diese Sphäre erreicht hat, uns fast übermenschlich erscheint durch die Geduld und Langmut, mit der er die härtesten Prüfungen und böswilligsten Verfolgungen erträgt.

Vollkommen gut sein heißt, sein Leben im Unendlichen verwirklichen. Dies ist die umfassendste Anschauung des Lebens, zu der wir gelangen können durch die uns innewohnende Kraft, das Leben als Ganzes, im Lichte des sittlichen Ideals zu sehen. Und die Lehre Buddhas geht dahin, diese sittliche Kraft bis zum höchsten Grade auszubilden, zu wissen, daß das Feld unsrer Tätigkeit sich nicht auf die Sphäre unsres engen Ichs beschränkt. Dies ist die Vision Christi vom Himmelreich. Wenn wir zu dem Leben im All, welches das sittliche Leben ist, gelangen, so werden wir befreit von den Banden der Lust und des Schmerzes, und an Stelle des Ich-Gefühls tritt eine unaussprechliche Freude, die grenzenloser Liebe entspringt. In diesem Zustande ist die Tätigkeit der Seele nur um so mehr erhöht, nur sind nicht Begierden die Triebkraft, sondern die aus der Liebe geborene Freude. Dies ist der karmayoga der Gita: der Weg zur Vereinigung mit dem unendlichen Wirken durch Wirken in selbstloser Güte.

Als Buddha darüber nachsann, wie man die Menschheit aus der Gewalt des Elends befreien könne, fand er diese Wahrheit: Wenn der Mensch sein höchstes Ziel erreicht, indem er ins All eintaucht, dann wird er frei von der Knechtschaft des Schmerzes. Laßt uns diesen Punkt eingehender betrachten.

Einer meiner Schüler erzählte mir einst sein Abenteuer bei einem Gewitter und klagte, die ganze Zeit habe ihn das Gefühl gequält, daß in diesem großen Aufruhr die Natur sich ihm gegenüber verhalten habe, als sei er nicht mehr als eine Handvoll Staub. Daß er eine bestimmte Persönlichkeit war mit einem eigenen Willen, habe nicht den geringsten Einfluß auf das, was geschah, gehabt. Ich sagte: »Wenn Rücksicht auf ein Einzelwesen die Natur von ihrem Pfad abbringen könnte, so würden es die Einzelwesen sein, die am meisten zu leiden hätten.« Aber er verharrte bei seinem Zweifel. Die eine Tatsache, meinte er, könne man nicht übersehen, das Gefühl »ich bin«. Dies »Ich« in uns suche nach einer persönlichen Beziehung. Ich erwiderte, daß das Ich zu etwas, das Nicht-Ich sei, in Beziehung stehe. Daher müßten wir ein Medium haben, das beiden gemeinsam sei, und wir müßten unbedingt gewiß sein, daß es zu dem Ich und dem Nicht-Ich in gleicher Beziehung stehe.

Dies muß hier wiederholt werden. Wir müssen uns gegenwärtig halten, daß unser Ich von Natur gezwungen ist, das All, das Nicht-Ich, zu suchen. Unser Leib muß sterben, wenn er sich auf sich zu beschränken und von sich selbst zu zehren versucht, und unser Auge verliert den Sinn seines Daseins, wenn es nur sich selbst sehen kann.

Je stärker eine Phantasie ist, um so weniger ist sie nur phantastisch und um so mehr ist sie in Harmonie mit der Wahrheit; ebenso ist auch die Individualität um so stärker, je mehr sie sich ins All hinein ausdehnt. Denn die Größe einer Persönlichkeit hängt nicht von ihrem Ich ab, sondern davon, wie viel von dem All sie einschließt, ebenso wie die Tiefe eines Sees nicht nach dem Umfang seines Beckens, sondern nach der Tiefe seines Wassers gemessen wird.

Wenn es also Wahrheit ist, daß die Sehnsucht unsrer Natur auf Wirklichkeit gerichtet ist, und daß unsre Persönlichkeit nicht glücklich sein kann mit einem phantastischen Universum ihrer eigenen Schöpfung, dann ist es offenbar das Beste für sie, daß unser Wille nur mit den Dingen fertig werden kann, indem er ihr Gesetz befolgt, und daß er nicht mit ihnen verfahren kann, wie es ihm beliebt. Diese unbeugsame Sicherheit der Wirklichkeit durchkreuzt bisweilen unsern Willen und führt uns oft in Mißgeschick, ebenso wie die Festigkeit der Erde unfehlbar dem fallenden Kind wehtut, das gehen lernt. Und dennoch ist es gerade diese Festigkeit, die sein Gehen möglich macht. Als ich einmal unter einer Brücke hindurch fuhr, blieb der Mast meines Bootes in einem ihrer Tragbalken stecken. Wenn der Mast sich nur einen Augenblick ein paar Zoll gebogen oder wenn die Brücke ihren Rücken wie eine gähnende Katze gekrümmt hätte, oder wenn der Fluß etwas nachgegeben hätte, dann wäre alles für mich in Ordnung gewesen. Aber sie beachteten meine Hilflosigkeit nicht. Und gerade aus diesem Grunde konnte ich den Fluß benützen und mit Hilfe des Mastes darauf segeln und konnte, wenn seine Strömung zu stark war, mich auf die Brücke verlassen. Die Dinge sind, was sie sind, und wir müssen sie kennen, wenn wir mit ihnen umgehen wollen, und kennen können wir sie nur, weil unser Wunsch nicht ihr Gesetz ist. Diese Kenntnis ist eine Freude für uns, denn sie ist ein Band, das uns mit den Dingen um uns her verbindet; sie macht sie uns zu eigen und erweitert so die Schranken unseres Selbst.

Bei jedem Schritt haben wir mit andern als uns selbst zu rechnen. Denn nur im Tod sind wir allein. Ein Dichter ist nur ein Dichter, wenn er mit seiner persönlichen Idee allen Menschen Freude machen kann, was er nicht könnte, wenn er nicht ein Medium hätte, das allen seinen Hörern gemeinsam ist. Diese gemeinsame Sprache hat ihr eigenes Gesetz, das der Dichter finden und befolgen muß; dadurch, daß er dies tut, wird er zum wahren Dichter und erlangt als solcher Unsterblichkeit.

Wir sehen also, daß des Menschen Ich noch nicht sein wahres Wesen im höchsten Sinne ist; es ist noch etwas in ihm, was zum All gehört. Wenn er in einer Welt leben müßte, wo sein eigenes Ich der einzige Faktor wäre, der in Betracht käme, so wäre dies das denkbar schlimmste Gefängnis für ihn, denn die tiefste Freude des Menschen besteht darin, daß er immer größer wird, indem er immer mehr mit dem All eins wird. Dies würde, wie wir gesehen haben, unmöglich sein, wenn es nicht ein Gesetz gäbe, das allen gemeinsam ist. Nur dadurch, daß wir dies Gesetz entdecken und befolgen, werden wir groß, machen wir uns das All zu eigen; während wir, solange unsre persönlichen Wünsche mit dem Weltgesetz im Widerstreit sind, Schmerz und Mißerfolg erfahren.

Es gab eine Zeit, wo wir um besondre Zugeständnisse baten; wir erwarteten, daß die Naturgesetze um unsertwillen außer Kraft gesetzt würden. Aber jetzt sind wir in unsrer Erkenntnis weiter gekommen. Jetzt wissen wir, daß das Gesetz nicht beiseite gesetzt werden kann, und in dieser Erkenntnis sind wir stark geworden. Denn dies Gesetz ist nicht etwas von uns Getrenntes, es ist in uns und unser eigen. Die Allkraft, die sich in dem Allgesetz offenbart, ist eins mit unsrer eigenen Kraft. Sie vereitelt unsre Absichten da, wo wir klein sind, wo wir uns gegen den Lauf der Dinge stemmen, aber sie hilft uns da, wo wir groß, wo wir im Einklang mit dem All sind. So gewinnen wir an Kraft in dem Maße, wie wir mit Hilfe der Wissenschaft die Gesetze der Natur erforschen; wir sind auf dem Wege zur Erwerbung eines universalen Leibes. Unser Gesichtsorgan, unsre Bewegungsorgane, unsre physische Kraft wird weltweit. Dampf und Elektrizität werden unsre Nerven und Muskeln.

So sehen wir, daß ebenso, wie die Organe unsres Körpers durch ein verbindendes Prinzip zusammengehalten werden, kraft dessen wir den ganzen Körper unsern eigenen nennen und als solchen gebrauchen können, so auch das Universum durch das Prinzip ununterbrochener Einheit zusammengehalten wird, kraft dessen wir die ganze Welt unsern erweiterten Leib nennen und als solchen gebrauchen können. Und in diesem Zeitalter der Naturwissenschaft geht unser Bestreben dahin, unsern Anspruch auf unser Welt-Ich voll zur Geltung zu bringen. Wir wissen, daß all unsre Armut und unsre Leiden nur davon herrühren, daß wir nicht imstande gewesen sind, diesen unsren rechtmäßigen Anspruch zu verwirklichen. In Wahrheit gibt es gar keine Grenze für unsre Kraft, denn wir stehen nicht außerhalb der Weltkraft, die der Ausdruck des Weltgesetzes ist.

Wir sind auf dem Wege, Krankheit und Tod zu überwinden, Schmerz und Armut zu besiegen; denn durch den Fortschritt der Naturwissenschaft nähern wir uns beständig dem Ziel, das Weltall als physische Erscheinung zu erkennen. Und wie wir fortschreiten, merken wir, daß Schmerz, Krankheit und Ohnmacht nichts Absolutes sind, sondern nur entstehen können, weil wir noch nicht gelernt haben, unser individuelles Selbst dem universalen Selbst anzupassen.

Ebenso ist es mit unserm geistigen Leben. Wenn der individuelle Mensch in uns sich gegen die gesetzmäßige Herrschaft des universalen Menschen auflehnt, so werden wir sittlich klein und müssen leiden. In solchem Fall sind unsre Erfolge unsre größten Mißerfolge, und die Erfüllung unsrer Wünsche gerade ist es, die uns ärmer macht. Wir trachten nach besonderem Gewinn für uns, wir möchten Vorrechte genießen, die niemand anders mit uns teilen kann. Aber alles schlechthin Besondere hat beständig Kampf zu führen mit dem Allgemeinen. In solchem Zustand des Bürgerkriegs lebt der Mensch immer hinter Barrikaden, und in jeder Zivilisation, die selbstsüchtig ist, ist unser Heim kein wirkliches Heim, sondern eine künstliche Schranke, mit der wir uns gegen die andern abgrenzen. Und doch beklagen wir uns, daß wir nicht glücklich sind, als ob es in der Natur der Dinge läge, uns unglücklich zu machen. Der Weltgeist wartet, um uns mit Glück zu krönen, aber unser Ich-Geist will es nicht annehmen.

Es ist unser Leben im Ich, das überall Konflikte und Verwicklungen schafft, das Gleichgewicht der Gesellschaft stört und alle Arten von Elend verursacht. Es bringt es soweit, daß wir, um die Ordnung aufrechtzuerhalten, künstliche Zwangsmittel erfinden und organisierte Formen der Tyrannei schaffen müssen und daß wir teuflische Einrichtungen unter uns dulden, die eine Schmach für die Menschheit sind.

Wir haben gesehen, daß wir, um mächtig zu sein, uns den allgemeinen Weltgesetzen unterwerfen und sie in der Praxis als unsere eigenen anwenden müssen. Um also glücklich zu sein, müssen wir unsern persönlichen Willen der Oberherrschaft des Weltwillens unterwerfen und fühlen, daß er in Wahrheit unser eigener ist. Wenn wir die Stufe erreichen, wo die Einfügung des Endlichen in uns in das Unendliche vollkommen geworden ist, dann wird der Schmerz selbst ein wertvolles Gut. Er wird ein Maßstab für den wahren Wert unsrer Freude.

Die wichtigste Lehre, die der Mensch aus seinem Leben lernen kann, ist nicht, daß es überhaupt Schmerz in dieser Welt gibt, sondern daß es in seiner Hand liegt, ihn zum Guten zu wenden, daß es für ihn möglich ist, ihn in Freude zu verwandeln. Diese Lehre ist für uns nicht ganz vergeblich gewesen, und es gibt keinen Menschen, der willig sein Recht auf Schmerz aufgeben würde, denn das gehört zu seinem Recht auf volles Menschentum. Eines Tages klagte die Frau eines armen Arbeiters mir bitterlich, daß ihr ältester Knabe auf einen Teil des Jahres zu einem reichen Verwandten geschickt werden sollte. Gerade die Stillschweigende freundliche Absicht, ihr ihre Sorgen zu erleichtern, hatte sie verletzt, denn die Sorge einer Mutter gehört ihr allein durch das unveräußerliche Recht ihrer Liebe und sie war nicht gesonnen, sie irgendwelchen Nützlichkeitsforderungen zu opfern. Des Menschen Freiheit besteht nicht darin, daß ihm Schweres erspart wird, sondern darin, daß er es freiwillig zu seinem Besten auf sich nehmen, daß er es zu einem Bestandteil seiner Freude machen kann. Das können wir nur, wenn wir erkennen, daß unser persönliches Ich nicht der höchste Sinn unsres Daseins ist, daß wir in uns das Welt-Ich haben, das unsterblich ist, das sich nicht vor Leiden oder Tod fürchtet und das Leid nur als Kehrseite der Freude betrachtet. Wer dies erkannt hat, weiß, daß das Leid für uns unvollkommene Wesen unser wahrer Reichtum ist, der uns groß und würdig macht, uns dem Vollkommenen an die Seite zu stellen. Er weiß, daß wir keine Bettler sind, daß das Leid die harte Münze ist, die wir für alles Wertvolle im Leben, für unsre Kraft, unsre Weisheit, unsre Liebe, zahlen müssen, daß das Leid das Symbol ist für die unendliche Möglichkeit der Vervollkommnung, für die ewige Entfaltung der Freude, und daß der Mensch, der nicht mehr freudig das Leid auf sich nehmen kann, tiefer und tiefer in Elend und Erniedrigung versinkt. Nur wenn wir die Hilfe des Leids zur Befriedigung unsres Ichs anrufen, wird es zu einem Übel und rächt sich für die Schmach, die wir ihm antun, indem es uns ins Elend schleudert. Denn es ist die vestalische Jungfrau, die dem Dienst der ewigen Vollendung geweiht ist, und wenn sie ihren wahren Platz vor dem Altar des Unendlichen einnimmt, wirft sie ihren dunklen Schleier ab und enthüllt ihr Antlitz dem Beschauer als eine Offenbarung der höchsten Freude.


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