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Warte nur, balde –

Das einzige, was jedem Menschen in seinem persönlichen Leben mit unverbrüchlicher Gewißheit und fragloser Sicherheit bevorsteht, ist der Tod. Und von allem Warten wird keins so stiefmütterlich behandelt, ja oft geradezu vergessen und abgelehnt, als das Warten auf den Tod.

Die einen fürchten ihn, und schalten die Gedanken an ihn aus als etwas, das nur geeignet ist, ihre Lebensfreude und Schaffenskraft zu stören, ihr Gemüt zu umdüstern und mit schrecklichen Vorstellungen zu ängstigen.

Die andern kommen gar nicht so weit, sondern denken überhaupt nicht an ihn.

»Das hat noch lange Zeit«, sagen die einen. Und die andern:

»Was ich bestimmt weiß – nämlich, daß ich sterben muß – darauf brauche ich doch nicht zu warten. Das kommt auch so.«

Nur ganz wenige, ganz Alte, Kranke, ganz Mühselige und Beladene warten auf den Tod, weil sie ihn ersehnen als Erlöser.

Und noch wenigere sehen ihm bewußt und furchtlos, als etwas Selbstverständlichem und vielleicht gar Großem und Schönem entgegen.

Nun bin ich gewiß nicht der Meinung, daß das Leben nur ein Warten auf den Tod sein müsse, und noch viel weniger der Meinung, daß Todessehnsucht ein normaler und vorbildlicher Zustand oder der Beweis einer reifen, abgeklärten Persönlichkeit sei.

»Warte nur, balde ruhest auch du –« hat derselbe Mann gesagt, der die Forderung aufstellte: »Das Leben lieben, und den Tod nicht scheuen.«

»Warte nur –« das heißt dem Sinne nach so viel als: gedulde dich.

Aber der Sinn alles Wartens, und zumal dieses Wartens, ist doch noch ein anderer.

Worauf man wartet, darauf bereitet man sich vor. Wenigstens wenn man recht wartet.

Die klugen Jungfrauen, die auf den Bräutigam warteten, von dem sie nicht wußten, ob er bei Tage oder bei Nacht kommen würde, gossen Öl auf ihre Lampen. Wer auf einen Krieg wartet, hält seine Waffe in Bereitschaft, und wer auf einen Gast wartet, bereitet ihm das Mahl und das Bett. Wer auf ein Fest wartet, setzt seine Feierkleider instand, und wer auf eine Ernte wartet, der bestellt die Schnitter.

Wie sollten wir dem einen, einzigen, das wir ganz gewiß zu erwarten haben, unvorbereitet entgegengehen?

Was ist denn der Tod?

Der Tod ist das Ende. Ganz gewiß das Ende des irdischen Lebens.

Der Tod ist aber auch der Anfang. Der Anfang eines andern Lebens, von dem wir nicht wissen, wie es sein wird.

Wie sollen wir uns wartend vorbereiten auf etwas, wovon wir nichts wissen?

Ich will hier nicht reden vom verschiedenen Glauben und von den verschiedenen Religionen. So viel verschiedene Menschen es gibt, so viel verschiedene Vorstellungen vom Leben nach dem Tode. Vom finstersten Heiden bis zum sittlich erhöhtesten Christen, vom orthodoxen Theologen bis zum freigeistigen Philosophen glaubt jeder etwas andres, und ist überzeugt von der Richtigkeit seines Glaubens. Und wenn er es nicht ist, so ist er so schlecht daran, wie der, der gar nichts glaubt. Denn wer nichts glaubt, der hat kein Ziel für sein Wandern, und kein Warten für sein Leben. Und wer kein Warten hat, der hat keine Erfüllung.

Nun aber ist es so: Wer an den Tod glaubt als an das Ende aller Dinge, also an das Nichtvorhandensein eines zukünftigen Lebens, dem kann der Tod nur sein wie ein finsterer Abgrund, der ihn und den Zweck seines Daseins verschlingt. Denn was hätten die Wirkungen seines Tuns und Denkens, seines Strebens und Trachtens über das eigne Leben hinaus auf die Menschen und Dinge der Umwelt, ja selbst auf kommende Geschlechter, für einen Zweck, wenn die Menschen der Gegenwart und Zukunft auch nur ein kurzes, im Nichts verlöschendes Dasein zu führen bestimmt sind? Doch höchstens den, sich dieses kurze Dasein so angenehm wie möglich zu gestalten. Und das ist nicht ein Zweck, für den es sich lohnt, sittliche und seelische Kräfte anzustrengen. Das ist ein Zweck, für den zu leben man füglich jedem einzelnen überlassen kann. Das Ziel der Edelsten und Besten – die größte irdische Vollkommenheit menschlicher Zustände und Verhältnisse – käme ja dann nur den wenigen zugute, die diese Zustände und Verhältnisse erlebten. Und die Masse derer, die in den Jahrtausenden lebten, die verflossen sind und noch verfließen werden vor Erreichung dieses Zieles – wenn es überhaupt zu erreichen ist – hätte umsonst gelebt. Ich habe einen andern Glauben, von dessen Wichtigkeit ich überzeugt bin, und kann den Glauben an das Nichts, den Tod als an das endgültige Ende, nicht mitmachen, weil mein Verstand sich gegen ihn sträubt, weil ich keinen Sinn und keine Logik in das Ziel und den Zweck eines Lebens, das auf solchen Glauben eingestellt ist, bringen kann.

Auf einen solchen Tod zu warten, auf ihn sich vorzubereiten, ist unnütz und schädlich. Solche Vorbereitung kann im günstigsten Falle stoischen Gleichmut erzeugen, der allem Schaffen und Wirken die belebende, überzeugende, begeisternde und befruchtende Kraft aussaugt. Viel öfter aber wird die Wirkung Mutlosigkeit und Unlust, gesteigert zu jeder Verneinung bis zur Verzweiflung am Leben überhaupt sein. Oder aber jene leichtfertige Sorglosigkeit, die zur Seele spricht: nun, liebe Seele, iß und trink, denn morgen bist du tot.

Wer aber auf den Tod wartet als auf ein dunkles Tor, geöffnet vor einer großen Helle und für ein neues Leben, als auf eine Erfüllung des Lebens überhaupt, der wird sich auf ihn vorbereiten, indem er danach trachtet, dieses neuen Lebens fähig und dieser Erfüllung wert zu sein; indem er nach Entwicklung der eignen Persönlichkeit zur höchstmöglichen Vollkommenheit nach dem Maßstab der durch seinen Glauben bestimmten sittlichen Ideale strebt, um auf diese Weise seinen besonderen Platz und seine persönliche Aufgabe, ihm von seiner persönlichen Lebensstellung angewiesen, im Dienste der Allgemeinheit um so besser und vollkommener erfüllen zu können. Denn wer den Glauben hat an ein neues Leben für sich und jeden einzelnen der ihn umgebenden, vor ihm gewesenen und nach ihm kommenden Menschheit, der wird ein ganz anderes Interesse haben an der Führung und Gestaltung dieses irdischen Lebens; dem erwächst ein neues Pflichtbewußtsein, ein neues Verantwortungsgefühl, ein neues Gewissen und eine neue Gemeinsamkeit. Und so kann ein Warten, ein Sichvorbereiten auf einen solchen Tod nur verbessernd und veredelnd auf den Wartenden wirken. Es wird viel Mühe bringen und viel Kampf, viel Schmerz und viel Not, und wird wahrlich nichts gemein haben mit behaglichem Schlendern und gedankenlosem Genießen. Aber es wird die Seele immer völliger hinaustragen aus dem verwirrenden Dunkel unverstandener Geheimnisse in das Licht ruhevoller Erkenntnis, und in den schwersten Tagen wird er nicht den tragenden Mut und die belebende Freudigkeit verlieren. Denn: »warte nur, balde kommt die Erfüllung!« Und so wird er das Leben lieben, und dennoch den Tod nicht scheuen.

Ich kann nicht vorübergehen an denen, die sich nach dem Tode sehnen, die so schwer am Leben leiden, daß sie es nicht mehr lieben, und auf den Tod warten als auf einen Erlöser. Das sind nicht die, die bei jeder Enttäuschung, jedem Schmerz, jeder Probe, die das Leben ihrer Kraft, ihrer Widerstandsfähigkeit, ihrer Selbstlosigkeit, ihrer Entsagungsbereitschaft stellt, seufzen und klagen: ich wollte, ich wäre tot. Diese würden meistens sehr entsetzt und sehr unvorbereitet sein, wenn ihr Wunsch in Erfüllung ginge. Denn wer nicht stark genug ist zum Leben, der ist erst recht nicht stark genug zum Sterben.

Aber siehe die da oben sitzen abseits vom Wege. Die hoffnungslos Kranken, die das Leben selbst zur Ohnmacht verurteilt hat. Die Märtyrer des Lebens, deren redlichstes Wollen, deren ehrlichste Kraft zerbrochen ist an den Hindernissen, die ein unbegreiflicher, höherer Wille ihnen in den Weg gestellt hat. Die Alten, deren irdische Aufgabe erfüllt ist, weil eben das Alter ihnen die Möglichkeit weiterer Betätigung nahm. Diese alle, wenn sie an den Tod als an einen Vernichter alles Lebens glaubten, würden nicht auf ihn warten als auf einen Erlöser, sondern sich vor ihm fürchten, sich mit dem letzten Rest ihres durch Todesfurcht aufgepeitschten Lebenswillens an das Leben klammern, sie würden sich nicht sehnen nach dem Zukünftigen, sondern klagen um das Vergangene. Sie würden nicht warten, sondern sie würden verzweifeln. So aber ist das Warten auf den Tod ihre letzte Lebensfreude. »Warte nur, balde ruhest auch du.« Nicht das Ruhen im Grabe, im Vergehen, im Nichts – sondern das Ruhen in der Freiheit von aller irdischen Unvollkommenheit, im neuen Werden, im Alleshaben der großen Erfüllung – das ist es, worauf sie warten.

Der Weg des Lebens gehet überwärts, und das Warten des Menschen muß auch überwärts gehen. Wie die kleinen Dinge des Lebens verschlungen werden von den großen Dingen, so wird auch all das viele kleine Warten des Menschen verschlungen von dem einen, großen Warten. Und von diesem einen großen Warten wird sein ganzes Leben bestimmt. Frage einen Menschen, worauf er wartet, und du wirst wissen, wer er ist – wenn anders er es dir sagt. Denn von ihrem eigensten, innersten, tiefsten und höchsten Warten reden die Menschen nicht gern.

– – –

Auch ich habe nun genug geredet vom Warten.

Mancher hat vielleicht noch etwas dazu zu sagen, zu widersprechen, zu verbessern, hinzuzufügen. Um so besser. Dann hat dies Büchlein seinen Zweck erfüllt, mit dem ich es hinausschicke in das unruhige Leben: den, der es liest, anzuregen zum Nachdenken über das persönliche Warten seines Lebens, und den, der auf gar nichts wartet, darauf zu bringen, daß es doch vielleicht auch in seinem Leben etwas gibt, darauf zu warten lohnend ist.


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