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Vom verzweifelten Warten.

Ist das nicht ein Widersinn, von »verzweifelten Warten« zu sprechen? Verzweiflung ist das Aufhören des Glaubens und Hoffens, und was man nicht mehr erglaubt und erhofft, das erwartet man auch nicht mehr.

Aber des Menschen Herz ist ein trotziges und verzagtes Ding und voller Widersprüche. Und so kommt es doch vor, daß es immer noch wartet auf das Eintreten von Dingen, an das zu glauben es längst aufgehört hat.

So ein Warten voller Zweifel, die sich je länger je mehr zum Verzweifeln steigern, ist wohl das allerschwerste. Und es ist ganz etwas andres als das vergebliche Warten, das gläubig und vertrauensvoll, und darum freudig wartet, bis es sich dem Ruin gegenübersieht. Ein Warten voller Zweifel ist von Anfang an voll von der aufreibenden Unruhe, von dem Schwanken zwischen Hoffen und Verzagen, zwischen Mut und Angst, zwischen Glück und Unglück. Es fehlt ihm das feste Ziel, und darum die Sicherheit des Weges, die den Gedanken, der Seele eine Stetigkeit geben, die immerhin noch Ruhe, ja sogar etwas vom Frieden in sich tragen kann, auch wenn der Weg in eine tiefe Dunkelheit führt.

Wenn ich vom verzweifelten Warten rede, so denke ich unwillkürlich an das trostlose Wort, das während des Krieges die schwerste Prüfung aller Daheimgebliebenen gewesen ist. An das traurige Wort: »vermißt«.

Niemand weiß, was aus »ihm« ward, niemand weiß, was ihm geschah; niemand weiß, wo er blieb; niemand weiß, ob er jemals wiederkommen wird. Aber daheim sitzt das junge Weib – ich denke an eines, das ich kenne – und wartet. Alle Nachforschungen bleiben vergeblich; aber sie wartet. Dieser oder jener, der gleichfalls vermißt war, kommt endlich zurück, oder es kommt doch eine Nachricht, aus irgendeinem Lazarett, irgendeiner Gefangenschaft; eine Nachricht, die eine sichre Hoffnung bringt. Und sie wartet und hofft auch für sich. Von diesem oder jenem kommt endlich eines Tages die sichre Todesbotschaft, die der Qual des Wartens ein Ende macht. Aber sie wartet weiter, und fürchtet sich. Ihre Kinder sind um sie her bei Tage mit Spielen und Lachen und mit Fragen: kommt der Vater noch immer nicht wieder? Und sie erzählt ihnen, wie es sein wird, wenn er eines wunderschönen Tages heimkehrt, und glaubt selber daran, und im Anblicken der vier jungen Augenpaare, die so zuversichtlich und strahlend auf sie gerichtet sind, wird ihr selber ganz froh und zuversichtlich zu Sinn.

Aber nachts, wenn es dunkel ringsum und sie allein ist, wenn der Wintersturm an den Fenstern reißt, oder in schwülen Sommernächten die Nachtigall schmettert und das Käuzchen klagt, wenn so viel Raum und so viel Zeit und so viel Stille ist, dann fallen die Gedanken über sie her mit Bildern und Vorstellungen, und die Phantasie greift sie auf und spinnt sie aus zu entsetzlichen Foltern, und niemand ist da, der ihr sagen kann: sei ruhig, so schlimm ist es nicht. Und ihr Herz schreit nach Gewißheit, und niemand gibt sie ihr. Und ihre Seele bettelt um Hoffnung und findet keine.

Und so wird sie umhergeworfen zwischen Tag und Nacht, zwischen Hoffnung und Verzweiflung; und klammert sich an jedes gute Zeichen, und bricht zusammen an jedem bösen Zeichen. Und die Kraft, die sie in guten Stunden sammelt, wird aufgezehrt von den bösen Stunden.

Und sie wartet weiter.

Und die Zeit vergeht, und die Sehnsucht wächst, und die Sorge wächst, und das Herzeleid wächst, und die Hoffnung schwindet. Aber das Warten bleibt.

Und es kommt der Verstand und sagt: hör' auf zu warten, es ist umsonst.

Aber das Herz schreit dagegen: es könnte doch vielleicht nicht umsonst sein. Und wartet weiter.

Und je mehr der Verstand recht zu behalten scheint, um so lauter schreit das Herz gegen ihn an.

Denn warum sollte gerade ihr Warten umsonst sein?

Ja – aber warum sollte gerade ihr Warten nicht umsonst sein?

Kein Menschenherz ist so fest, daß es die Qual solchen Wartens ertrüge, ohne in Kampf zu geraten mit allen Mächten der Finsternis. Und keine Seele ist so stark, daß sie dem Unfrieden wehren könnte, den solch Kampf mit sich bringt.

Und je mehr die Hoffnung schwindet, um so heftiger trotzt das Herz: ich will weiter hoffen und warten, aller Vernunft zum Trotz; und wenn ich auch nicht mehr hoffen kann, so will ich doch warten – bis ich eines Tages wissen werde.

Aber das Wissen kommt nicht.

Und so wartet manch eine bis auf den heutigen Tag. Und wird weiter warten, bis die Zeit die Hoffnung tötet und den Schmerz mildert und das Warten allmählich aufhört, wie ein Strom in der Wüste versickert und vertrocknet, – oder bis sie daran zugrunde gegangen ist. Bis sie sich so oder so abfindet mit der Antwort, die niemals gekommen ist.

Dies ist nur ein Beispiel. Aber wieviel solch ungewisses, qualvolles Warten gibt es auf dieser Erde! Wieviel fragende, sehnende, brennende Augen versuchen den Vorhang zu durchdringen, den der Allwissende zwischen sie und die Zukunft gesenkt hat! Wieviel wunde Füße laufen auf dem Wege, der zu einem ungewissen Ende führt! Wieviel fiebernde Herzen schlagen dem Tage entgegen, von dem sie nicht wissen, ob er jemals kommen wird!

Lieber die schrecklichste Gewißheit, als diese marternde Ungewißheit! – Diese Worte hat ein Mensch geprägt, der den Kelch des ungewissen, verzweifelten Wartens getrunken hat bis zur Neige.

»Durch Stillesein und Hoffen werdet ihr stark sein.« Wo aber soll die Stärke herkommen, wenn das heilige Stillesein verschlungen wird von dem Getöse des Kampfes zwischen Hoffen und Verzweifeln? Wo soll die Stärke herkommen, wenn die Kraft aufgerieben wird in diesem nie entschiedenen Kampf?

Not macht erfinderisch, und der Mensch in seinen tausend Nöten hat mancherlei erfunden und gefunden, sie zu bannen oder doch zu mildern, ein jeder aus seiner Art heraus. Der Verständige flüchtet sich zur Philosophie, und der Schwache zur Resignation, und der Starke zum Trotz, und der Grobe zum Stumpfsinn, und der Tätige zum Handeln – und so fort. Aber das alles sind nur unvollkommene Hilfen. Sie decken die Not zu, aber die Not bleibt. Und wenn eines Tages die Urkraft der Seele die Decke zerreißt, dann steht ebendieselbe Not wieder da, und ist größer und stärker denn zuvor, denn sie hat die Decke überdauert.

Philosophie ist wie ein Platz im Theater, von dem aus man die Vorgänge auf der Bühne des Lebens kritisch und ohne innere Anteilnahme betrachtet, mit der Genugtuung innerer Überlegenheit, aber ohne den Segen der Freude und den Segen des Schmerzes.

Resignation ist wie ein stehendes Gewässer, in dem alles Leben erstickt, an dessen Rande nur blasse Sumpfblumen ein duft- und kraftloses Dasein fristen.

Trotz ist der wilde Knabe, der die bloßen Hände an steinernen Mauern zerschlägt, und Stumpfsinn ist wie der Ochse, der mit gesenkter Stirn gleichgültig das Joch zieht, und dessen dickes Fell ebensowenig die Peitsche fühlt, wie die liebkosende Hand eines mitleidigen Lenkers. Und das eigne Handeln hat einen ebenso ungewissen Erfolg, wie das ungewisse Warten, von dessen Qual es befreien soll. Es ist vielleicht noch das beste von allen Hilfsmitteln, weil es die sittliche Kraft stärkt und aus dem Labyrinth der Gefühle herausführt zu zielbewußtem Wollen. Aber es ist nicht jedem gegeben, und es gibt Dinge und Verhältnisse, die durch kein eignes Handeln und Zutun gefördert, aufgehalten oder gebessert werden können.

Sind wir denn hilflos preisgegeben solchem ungewissen Warten, das erst Hoffnung ist und zuletzt in Verzweiflung ausartet? Preisgegeben dem Schicksal, ob es uns daran zugrunde gehen oder erstarken lassen, versteinern oder stumpf werden – absterben lassen will? Preisgegeben der eignen Art, die rettungslos dem einen oder dem andern zutreibt?

Liebe Seele, es gibt eine Hilfe in der Not solchen Wartens, die über das Ziel hinausträgt auf eine Höhe, die nicht kalte Philosophie und nicht traurige Resignation, nicht selbstsicherer Trotz und nicht tötender Stumpfsinn ist, und besser als eignes Tun mit zweifelhaftem Erfolg. Eine Insel im brausenden Meer und eine feste Burg im tobenden Kampf. Es gibt einen Frieden im Unfrieden, und eine Sicherheit in allen Unsicherheiten des Lebens. Einen Felsen, auf dem man stehen kann und teilnehmen an allem Kampf und Anprall des Schicksals, ohne doch den Boden unter den Füßen zu verlieren; hineinschauen in alle Abgründe des Daseins, ohne zu schwindeln; schaffen und handeln, ohne um den Erfolg zu bangen. Einen Felsen, auf dem stehend man auch auf das Ungewisse warten und diesem Ungewissen getrost entgegensehen kann.

Kennst du sie nicht, die Verheißung:

»Denen, die Gott lieben, müssen alle Dinge zum Besten dienen?«

Denke dem nach, und lehne diese Verheißung nicht ab als einen Trost für gläubige Kinder und unwissende Toren; als einen Schlaftrunk für Ruhesuchende und als ein Betäubungsmittel für Kranke.

Übersetze sie dir in die Sprache deiner persönlichen Seele und passe sie an an deine besondre Art. Wende sie an auf dein besondres Leben und auf dein besondres Warten.

Wenn du ganz gewiß weißt: ob mein Warten mit einer großen Freude endet oder mit einem großen Schmerz – weil ich Gott liebe, das heißt: weil ich an die Liebe und das Gute überhaupt glaube, so kann die große Freude und der große Schmerz nur dazu beitragen, mich beiden näherzubringen und mich reif zu machen für die Erfüllung meines Menschentums, und stark für den großen Flug aus den Dunkelheiten dieses unvollkommenen Lebens in das Licht der großen Freiheit der Kinder Gottes –

Wenn du das ganz gewiß weißt, dann wird auch dein Warten auf ein Ungewisses getragen sein von einer großen Ruhe und von einem heiligen Frieden, und du wirst an solchem Warten nicht verzweifeln und zugrunde gehen, ebensowenig wie an allen andern Ungewißheiten, Rätseln und Dunkelheiten.

Nicht auf die Lichter und Schatten richte den Blick, die auf Erden beständig wechseln – sondern auf die Sonne, die der Ursprung von beiden ist.


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