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Vom traurigen Warten.

Ich warte auf den Tod.

Seit zehn Wochen weiß ich, daß er kommen wird. Seit zehn Tagen erwarte ich ihn.

Der, zu dem er kommen will, ist mein Sohn. Mein Sohn, den sie mir aus dem schrecklichsten aller Kriege zurückgeschickt haben, damit er bei mir sterben kann.

Lang ausgestreckt liegt er auf seinem Krankenlager. Seit zehn Tagen. Solange hat er sich aufrechtgehalten. Dann kam der letzte Axthieb, der den Baum, dessen Krone schon unter den Schlägen erzitterte, umlegte. Nun liegt er da und stirbt. Seit zehn Tagen.

Auch er wartet auf den Tod. Seit vielen Wochen weiß er, daß es so kommen muß. Erst war es ein trotziges Aufbäumen; dann eine müde Verzagtheit; nun ist heilige Stille.

Seine Augen, die Fenster seiner Seele, sind groß und weit geworden. Das Wissen einer andern Welt schaut in sie hinein, und die Seele, schon bereit, sich vom Irdischen zu lösen, leuchtet aus ihnen heraus –: »Ja – ich komme«.

Viertelstundenlang liegt er so, diese merkwürdigen, großen, leuchtenden Augen immer weit geöffnet, geradeaus emporgerichtet, als sähen sie durch die Zimmerdecke hindurch schon das bessere Land. In weite, ferne Höhen, als gäbe es kein irdisches Hindernis mehr für den suchenden Blick.

Ich weiß nicht, ob er noch wartet; ob er noch bewußt wartet; ob er nicht schon in der Erfüllung ist.

Ich aber warte. Ich warte auf den Augenblick, der ihn mir endgültig nehmen wird. Fleisch von meinem Fleisch, Blut von meinem Blut, Leben von meinem Leben. Ich warte auf das Schwert, das niederfallen und seine erbarmungslose Spitze in mein Herz senken soll.

Das alles ist ja eigentlich schon geschehen. Wenn man ganz genau weiß: dieser Schlag wird dich treffen – ist es dann nicht so, als ob er schon gefallen wäre? Wenn man ganz und gar keine Hoffnung mehr hat – hat man sich dann nicht schon abgefunden mit dem Unabwendbaren?

O nein. – Wenn der Arzt vor dir steht und hat das Messer in der Hand, und du weißt ganz genau: in soundsoviel Sekunden wird er dieses Messer in deinen Leib graben, dazu steht er ja da, dazu hat er es ja in der Hand – so wirst du doch mit einem Zittern deiner Lebensnerven während der soundsoviel Sekunden darauf warten, daß es geschieht.

Ich warte. Es ist ein trauriges Warten. Und ein untätiges Warten. Die kleinen Handreichungen, die der Sterbende noch braucht, füllen die Zeit nicht mehr aus. Zu helfen, zu lindern, gibt es nichts mehr. Ich muß ganz still sitzen, keine Bewegung, kein Geräusch darf die feierliche Erwartung stören.

So sitze ich und warte, Tag und Nacht.

Es ist ein untätiges Warten. Und doch nicht. Denn wenn das Leben uns solche traurige Wartezeit auferlegt, in der es uns jede Möglichkeit zu eigner Betätigung nimmt, dann will es selber tätig sein an uns. Will es sein, und kann es sein, wenn wir ihm die Seele willig hinhalten, daß es sich an ihr betätige. Je stiller, je willenloser wir in solchen Stunden sind, um so fruchtbarer wird es sich betätigen.

Wir sollen lernen, und wir sollen wachsen in solchen Stunden stillen, traurigen Wartens. Lernen, daß der menschliche Wille nicht immer dazu da ist, Äußeres zu erzwingen; wohl aber, Inneres zu erhalten. Sich selbst zu erhalten, die eigne Persönlichkeit. Daß sie nicht zusammenbreche; daß sie nicht aufhöre zu glauben; ein Neues zu wollen, wenn das Alte zerschlagen ward. Lernen, daß irdisches Leben keinen Sinn und Zweck hätte, wenn es mit dem Tode zu Ende wäre. Am eignen Schmerz und an der eignen Sehnsucht sich an die Wahrheit klammern lernen: der Tod ist nur der Pförtner der Ewigkeit. – Und wachsen; hinauswachsen aus den kleinen Nöten und den kleinen Schmerzen zu der großen Not, die uns heiligt, zu dem großen Schmerz, der uns wissend macht. Wachsen aus den Ketten und Hemmungen des irdischen Lebens hinaus in die große Freiheit derer, die Herr über das Leben geworden sind.

Und noch viel mehr lernt man, und noch aus vielem andern wächst man hinaus, wenn man die Seele hinhält wie eine offene Schale, daß der Tod sie mit seiner Weisheit fülle.

An den seherischen Augen meines sterbenden Sohnes hat meine Seele sich hinausgetastet aus dem Trauerkleide irdischen Schmerzes in das Feierkleid des Erkennens, das von den Höhen unsres Lebens wie Licht und Stille auf die bange Seele niedersinkt. Daß sie stark wird und froh.

Und als er dann kam, der Tod, da war es nur wie ein ganz leises, behutsames Türenschließen vor einer hellerleuchteten Kirche.

Wie anders wäre es gewesen, wenn er plötzlich gekommen wäre. Wenn nicht der Friede dieses traurigen Wartens voranging.

Entheilige nicht solch trauriges Warten mit Auflehnung und Verzweiflung – es hilft dir nichts; oder mit dem anklagenden, vorwurfsvollen Warum – es nützt dir nichts. Und wenn du nicht still und geduldig sein kannst, wenn das deinem Temperament nicht entspricht, wenn dein Schmerz so laut schreit, daß er deinen Willen und deine Kraft übertönt – sieh, dazu ist ja eben das traurige Warten da, daß deine Ungebärdigkeit stille werde, und dein Schmerz und deine Empörung.

Du mußt nur richtig warten.

Warten – das heißt erwarten. Was man erwartet, dagegen sträubt man sich nicht, wenn es auch ein Schmerz ist. Das nimmt man willig auf, darauf bereitet man sich vor.

Warten – das hat einen zwiefachen Sinn. Das heißt nicht nur auf etwas warten, sondern etwas warten – pflegen und hegen.

Warte des Schmerzes, auf den du wartest. Pflege ihn, daß es ein gesunder, reiner, helläugiger Schmerz werde. Ein Schmerz, der nicht mit gesenktem Haupt trotzig dahinschleicht und mit düstern Augen die Abgründe des Lebens sucht, sondern einer, der erhobenen Hauptes seherische Augen dahin vorausschickt, wo kein Schmerz mehr sein wird und kein Leid, und kein Geschrei; sondern Erfüllung und Wissen, und Friede.

Ich habe schon an manchem Sterbebett den Tod herangewartet, und den Schmerz, den er mir brachte. Und vielleicht sind diese traurigen Wartezeiten die wertvollsten Zeiten meines Lebens überhaupt gewesen.

»Ich warte auf nichts mehr«, sagen manchmal die Menschen, wenn sie einem unabwendbaren traurigen Geschick entgegengehen – dem Scheitern aller Wünsche und Hoffnungen, die sie auf einen Menschen, einen Gegenstand, ein Unternehmen, ein Glück gemeinhin gesetzt haben. Was meinen sie denn damit? Doch nur das: ich warte nicht mehr auf eine Änderung, eine Besserung, ein Wunder. Vielleicht hören sie viel zu früh auf, dergleichen zu erwarten; verfielen nur in Mutlosigkeit, Müdigkeit, dumpfe Ergebung, und verscherzten sich dadurch den Erfolg, die Rettung. Wenn es aber wirklich nichts Gutes mehr zu erwarten gibt, so ist es doch nicht richtig, und der Gipfel der Mutlosigkeit – oder ihr Abgrund, die Feigheit – zu sagen: »ich warte auf nichts mehr.« Hast du nichts Gutes, worauf du warten kannst – nun, so warte auf das Schlimme. Mache dich stark, sieh ihm ins Auge, bereite dich darauf vor, daß du ihm gewachsen seist, wenn es dich antritt. Und sei dankbar für die Zeit, die dir zu solchem Warten gegeben ist.

»Galgenfristen« nennen die Menschen solche Zeiten, und drücken damit einen Begriff aus, der zu hoffnungsloser Verzweiflung oder leichtfertigem Drauflosleben berechtigt. Und doch ist die Frist, die den Verurteilten vom Galgen trennte, oft die Stunde seiner Geburt geworden. Seiner Geburt zu einem neuen, frohen, freien und starken Menschen.

Auf ein Schönes, Gutes und Großes warten ist keine Kunst; ist Glück und Vorfreude.

Das traurige Warten aber ist eine schwere Arbeit; ein dunkler Weg, an dessen Ende, wenn anders er recht gegangen und gefunden ward, nicht die Finsternis des Leides steht, sondern das Licht der Kraft, mit der man das Leid überwindet.


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