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Das Warten.

Zu jeder Zeit und an jedem Ort gibt es wartende Menschen. Und im Leben des einzelnen Menschen gibt es kaum eine Zeit, in der er nicht auf irgend etwas wartete. Vom Briefträger, der eine ersehnte Nachricht bringen soll, bis zur Erfüllung lebenentscheidender Wünsche ist das irdische Dasein ein einziges, großes Warten. Die ganze Stufenleiter menschlicher Empfindungen ist eingepreßt in dieses eine, kleine Wort: warten.

Warten kann Ungeduld sein und schlechte Laune; kann Freude sein und Hoffnung, Sehnsucht und Glück. Warten kann sein ein feierliches Harren im Vorhof des Tempels, bis daß der Vorhang in zwei Teile zerreiße und die göttliche Flamme auflodere von den Altären der Erfüllung.

Darum sollten wir das Warten nicht als einen lästigen Beitrag zu allen übrigen Unvollkommenheiten unsres Lebens rechnen, sondern es als ein Mittel zur Erziehung der eignen Persönlichkeit erkennen lernen.

Das richtige Warten stärkt, und das verkehrte Warten entkräftet.

Für den Wartenden steht in gewisser Weise das Leben still; wenigstens auf der Linie, auf der er wartet. Da entsteht – wenigstens äußerlich – ein Stocken alles Fortschritts; eine scheinbare Gleichgültigkeit gegen alles, was außerhalb des Gegenstandes unsres Wartens liegt. Und je nach der Wichtigkeit dieses Gegenstandes für unser Leben nimmt das Warten unsre Seelenkräfte mehr oder weniger in Anspruch, verzehrt sie, oder erhöht sie.

Es verzehrt sie, wenn nicht aus anderen, tieferen Quellen eine größere Kraft strömt, die das ersetzt, was wir durch das Warten an Kraft verbrauchen. Die Pflanze hält am längsten der Dürre und dem Sonnenbrande stand, deren Wurzeln am tiefsten gehen und aus dem Schoß der Erde die Feuchtigkeit ersetzen, die oben in der Hitze verdunstet. Und wenn das Verhältnis ein richtiges ist, wenn mehr Feuchtigkeit aufgenommen als verbraucht wird, so wird sich die Pflanze um so schöner und kraftvoller entfalten.

Wenn die Seele aus der Tiefe einer starken Sittlichkeit und einer festen Selbstzucht Geduld, Ruhe, Freudigkeit und Ergebung schöpft, so wird jedes Warten gleichsam zu einer Übung, an der diese Eigenschaften erstarken und sich einfügen zu leuchtenden Farben in das Bild eines harmonischen, d. h. in sich ausgeglichenen, sich selbst beglückenden und der Umwelt wohltuenden Menschenlebens.

Wenn aber Ungeduld, Ungestüm, Mißmut, Verdrossenheit oder Verzagtheit die Seele des Wartenden füllen, – lauter Dinge, die Kraft verbrauchen – so wird das Warten zu Qual und Pein, die wiederum an der Kraft des inwendigen Menschen nagen, so daß seine innere Kraft gleichsam von zwei Seiten angenagt, und je länger das Warten dauert, allmählich aufgefressen wird. So daß, wenn endlich die Erfüllung eintritt, nicht einmal mehr die Kraft zu einer rechtschaffenen Freude übrigblieb, sondern der Mensch nur mit einem erleichterten Aufseufzen die Bürde des Wartens von sich wirft und, mit der Erfüllung in den Händen, müde am Wege niedersinkt.

»Ich kann es nicht mehr erwarten. Ich kann mich gar nicht mehr so richtig freuen, es hat zu lange gedauert –«

Wie oft hört man das, und wie traurig ist das. Erwarten – was heißt denn das? Erwarten heißt: mit Ruhe und Stärke heranwarten, heranziehen. In demselben Sinne wie ersehnen, erkennen, erschließen. Die kleine Silbe »er« heißt Erkennen, Erschließen, Besitz ergreifen in Eins.

Und was heißt denn das: es hat zu lange gedauert! Ja, vielleicht hat es deiner Ungeduld, deiner Berechnung, deinem Verstande, deiner Zeiteinteilung, deinen Plänen zu lange gedauert. Aber bei dem allermeisten Warten kommt es nicht auf dich allein an, sondern noch auf andre Menschen und andre Dinge und andre Verhältnisse, für die es vielleicht gerade nötig und gut war, daß es so lange dauerte. Stelle nicht immer dich in den Mittelpunkt deines Wartens, nimm dich und deine Verhältnisse nicht so ungeheuer wichtig. Du bist nur ein kleiner Teil eines tausendfältigen Ganzen, und das, worauf du wartest, ist vielleicht nur wie eine Masche in einem großen, kunstvollen Gewebe, das ganz in Unordnung geraten würde, wenn der große Weber sie um deiner Ungeduld willen vorzeitig fallen lassen würde.

Es gibt Menschen, die sind nie so ruhevoll, so von innen heraus durchleuchtet, so von einer stillen, feierlichen Kraft getragen, als in Zeiten eines langen, großen Wartens. Und wenn man gemeinhin von kleinen Dingen sagt: Vorfreude ist die reinste Freude – so kann das noch viel mehr von den großen Dingen gelten. Denn mit der Erfüllung ist in diesem unvollkommenen Leben doch meist irgendeine kleine Enttäuschung verbunden; irgend etwas, das wir uns »anders« gedacht hätten. Ist aber unsre Seele am Warten erstarkt, so hat sie auch die Kraft, solche kleine Enttäuschungen zu verschmerzen, sie auszubrechen, wie man die Dornen aus der Rose ausbricht, ehe man ihr zu Schmuck und Freude den Ehrenplatz an der eigenen Brust gibt.

Eine Rückwirkung auf unsre Seele geht aber nicht nur davon aus, wie wir warten, sondern auch davon, auf was wir warten.

Wir haben es freilich nicht immer in der Hand, auf was wir warten wollen. Meist ist es so, daß uns das Leben und das Schicksal das Ziel zeigt und uns auf den Weg schiebt, und die Länge und Beschwerlichkeit des Weges bestimmt; oder uns auf den Posten stellt und sagt: von da oder dort kommt es – nun gib acht, daß du es nicht versäumst. Aber wie und wann es kommt, das sagt uns niemand; das sollen wir eben erwarten. An uns ist es, zu erkennen, zu welchem Warten, zu welchen Erwartungen wir berechtigt sind, und für welche es sich lohnt, Seelenkraft zu verausgaben und zu ersetzen. Wenn wir das immer recht bedächten, dann würde unsre Seele von manchem unnützen, törichten und vergeblichen Warten befreit werden. Denn das meiste Warten und die meisten Enttäuschungen bereiten wir uns selbst, indem wir warten auf Dinge, deren Eintreten gar keinen Wert für uns hat, zu deren Besitz oder Genuß wir gar nicht berechtigt sind.

Ich denke dabei vor allem an all das, was wir fortwährend, im kleinen und im großen, von anderen Menschen erwarten. Dank für Freundlichkeiten und Wohltaten. Rücksichten auf unsre Eigenart, unsre Wünsche, unsre besondern Verhältnisse. Hilfe in der Not. Teilnahme im Glück. Anerkennung unsrer Verdienste, unsrer Vortrefflichkeit. Erfolg unsrer Bemühungen um diesen und jenen. Treue und Anhänglichkeit. Von unsern Kindern erwarten wir, daß sie so werden, wie wir sie haben möchten, und von unsern Eltern, daß sie uns das sein und werden lassen, was wir sind. Von unsern Untergebenen erwarten wir Gehorsam, und von unsern Vorgesetzten, unsern Freunden und Weggenossen Verständnis. Oft haben wir vielleicht ein Recht, eins oder das andre hiervon zu erwarten – öfter aber beruht dieses »Recht« nur in unsrer Einbildung oder unsrer verblendeten Ichsucht.

Der Mensch ist am glücklichsten, der von andern so wenig wie möglich erwartet – so viel wie möglich aber von sich selber. Nicht aus einer geringen Einschätzung der andern und aus einer um so höhern Einschätzung seiner selbst, sondern weil wir in den seltensten Fällen ein Recht auf den andern haben, weil der andre nur so weit uns verpflichtet ist, wie wir uns ihm verpflichtet haben, und weil der Mensch von jeher geneigt ist, mehr Pflichten zu fordern, als er selber zu erfüllen bereit ist, geschweige denn erfüllt hat.

Von sich selber viel erwarten – das heißt nicht: sich einbilden, daß man ein ganz besonders wertvoller, fähiger, guter und kluger Mensch sei, der Besonderes leisten könne, sondern davon durchdrungen sein, daß man die Pflicht habe seine eigne Persönlichkeit zu größtmöglichen Vollkommenheit zu entwickeln; sich sein Ziel so hoch wie möglich stecken, und den Weg zu diesem Ziele unbeirrt gehen. Und das ist eine harte, schwere Arbeit, dazu gehört ein geduldiges, tätiges Warten. Je mehr wir dem nachdenken und nachleben, was wir andern schuldig sind, um so weniger Zeit werden wir haben, darüber nachzudenken und auf das zu warten, was andre uns schuldig sind. Und so kommt es ganz von selber, daß wir, je mehr wir von uns erwarten, um so weniger von den andern erwarten. Es ist ganz klar, daß uns auf diese Weise viel Enttäuschungen erspart und viel unverhoffte Freuden zuteil werden, und daß wir viel unnötiges, kräfteaufzehrendes und launeverderbendes Warten aus unsrem Leben ausschalten.

Aber, sagst du, es handelt sich doch nicht immer um große Dinge, um schicksalbestimmendes, herzangreifendes Warten. Das ganze Leben ist so voll von kleinem, harmlosem, unwichtigem, und in all seiner Kleinheit doch wichtigem, die Stimmung und das alltägliche Leben und Wohlsein beeinflussendem Warten. Auf dieses »kleine Warten« kann man unmöglich so große Gesichtspunkte und so wichtige Fragen anwenden.

Nun – so wahr es ist, daß auch dieses »kleine Warten« Einfluß hat auf deine Stimmung und dein alltägliches Leben, also auch auf dein alltägliches Glück und folglich auf deine Persönlichkeit, so wichtig ist es, auch dieses »kleine Warten« nach großen Gesichtspunkten zu regeln. Und weiter: wie der Mensch im Kleinen wartet, so wird er auch im Großen warten. Und wenn er sich nicht im Kleinen zum rechten Warten erzieht, so wird er auch das rechte Warten auf große Dinge nicht lernen.

Je mehr man nachdenkt, um so mehr wird man erkennen, daß das ganze Leben nur ein Warten ist. Ein Warten auf die kleinen Dinge des Alltags, ein Warten auf die großen Verheißungen des Lebens. Ein Warten auf Glück, und ein Warten auf Leid. Ein Warten auf törichte, unverständige Dinge, ein Warten auf das, was man »mein gutes Recht« nennt. Letzten Endes ein Warten auf den Tod, der allem Warten ein Ende setzt, und nur dem, der recht zu warten gelernt hat, die große Erfüllung bringt.


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