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Vom untätigen Warten.

Oft hört man sagen: »wieviel Zeit habe ich schon mit Warten verloren!« Oder: »wieder ein verlorener Tag«, wenn man vergeblich den ganzen Tag auf etwas gewartet hat, das eintreten sollte, und nicht eintrat. Und leider ist es wahr – die Menschen »verlieren« viel Zeit mit Warten.

Aber wie »warten« denn die Menschen!

Sieh dir die Bahnhöfe an, wo die Reisenden auf den Zug warten. Heutzutage dauert das für den einzelnen oft recht lange. Da sitzen sie herum, rauchen, essen, trinken, lesen die Zeitung vorwärts und rückwärts, um die Zeit totzuschlagen. Dabei sehen die meisten verdrossen, gelangweilt, ungeduldig aus. Und die Stimmung wird um so schlechter, je länger sie – oft genug über die fahrplanmäßige Zeit hinaus – warten müssen. Oder sie stehen herum, treten von einem Fuß auf den andern, ziehen alle paar Minuten die Uhr, was gar nichts nützt, oder stieren mit leeren Augen in die öde Umgebung. Ein Bahnhof ist immer eine öde Umgebung. Das ist dann freilich »verlorene« Zeit.

Aber selbst die Zeit, die man auf einem öden Bahnhof verwartet, braucht nicht »verloren« sein.

Wenn du weißt: ich muß hier eine, zwei, drei oder noch mehr Stunden sitzen, so wird es doch wohl etwas geben, womit du diese Stunden ausfüllen kannst. Stecke dir für solche Stunden ein gutes Buch in die Reisetasche. So mancher hat zu Hause, im ausgefüllten Alltagsgetriebe, wenig Zeit zum Lesen. Oder schreibe einen schönen langen Brief, den du vielleicht schon längst schreiben wolltest, aber nicht konntest. Damit machst du dann sogar noch einem andern eine Freude. Oder – wenn du in der »öden Umgebung« zu beidem die Stimmung, die innere Sammlung, nicht finden kannst, so mache einen Gang durch das Städtchen, das zu dem Bahnhof gehört. Jede Stadt, auch die kleinste, hat irgendwelche Sehenswürdigkeit, und sei es nur ihre lokale Eigenart. Ich habe auf solchen Gängen oft schon Merkwürdigkeiten, ja sogar Schönheiten gefunden, von deren Vorhandensein ich nichts ahnte, die ich sonst niemals kennengelernt hätte.

Oder mache einen besinnlichen Spaziergang in die Umgebung. Die Landschaft ist vielleicht reizlos – gut, wenn deine Augen, deine Gedanken nichts finden, das sie fesseln oder anregen kann, so kehre sie nach innen, und mache einen Spaziergang durch dein Inneres. Das kann niemals überflüssig oder unnötig sein; dazu findest du vielleicht zu Hause erst recht keine Zeit.

Oder, wenn das Wetter zu schlecht ist, und du schon gezwungen bist, äußerlich untätig im Wartesaal zu sitzen, dann sieh dir die Menschen deiner Umgebung an, und lerne von ihnen; wie man's macht und wie man's nicht macht. Es ist immer lehrreich und interessant, Menschen zu beobachten. Nicht um ihren Anzug, ihre Manieren, ihre Art zu kritisieren, zu belächeln, nicht um schlechte Witze oder unfreundliche Bemerkungen zu machen. Wer mit etwas Menschenkenntnis und Menschenliebe und mit etwas Phantasie seine Mitmenschen beobachtet, der findet immer Interessantes und Lehrreiches. Ganze Schicksale und Lebensauffassungen, Typen und Arten können sich dir enthüllen bei solchem stillen, nachdenklichen Beobachten, und den Schatz deiner Erfahrungen bereichern.

Die Zeit totschlagen – was ist das überhaupt für ein gräßlicher Ausdruck, für ein sinnwidriges Unterfangen! Kaufet aus die Zeit! Nützet den Tag! Was du dem Augenblicke ausgeschlagen, bringt keine Ewigkeit zurück. Auch mit den langweiligsten Wartezeiten kann man Besseres tun, als sie totschlagen.

Oder du erwartest Besuch. Zu einer bestimmten Stunde hat er sich angemeldet. Aber er hält die Zeit nicht inne. Unpünktlichkeit ist immer ärgerlich. Aber richtig ärgern wirst du dich erst, wenn du untätig, mit den Händen im Schoß oder in der Hosentasche, vor der Haustür sitzest oder stehst, oder am Fenster, und immer nur erwartungsvoll und ungeduldig in die Richtung blickst, aus der die Erwarteten kommen sollen. Gewiß, es ist ärgerlich – das Essen wird vielleicht kalt oder es vertrocknet auf dem Herde, der Teekessel kocht vielleicht über; aber verloren ist die Zeit, die du mit Warten zubringst, doch erst, wenn du sie untätig zubringst. Und obendrein wirst du noch schlechter Laune – nervös nennt man das meistens – und wenn die Erwarteten endlich kommen, wird es dir gar noch schwer, sie mit einem freundlichen Gesicht zu empfangen.

Eine liebe Freundin von mir, die ein sehr gastfreies Haus führte, hatte in ihrem Nähkorb immer ein Strickzeug liegen, das nur dazu diente, die Viertelstunden auszufüllen, in denen sie auf Gäste wartete und sich also nicht mehr aus dem Hause entfernen oder umständliche Arbeit vornehmen konnte. Sie hat auf diese Weise eine stattliche Anzahl von Strümpfen gestrickt, die sonst eben nicht gestrickt worden wären, und die verwartete Zeit war nicht verloren.

Oder du sitzt im Gebirge und wartest auf gutes Wetter. Du willst eine Hochtour machen, aber es regnet oder schneit gar. Muß das nun durchaus ein verlorener Tag sein? Gewiß, er kann es sein, wenn du eben nichts andres tust, als warten; von einem Fenster zum andern läufst und nach dem Himmel guckst, der sich dadurch ebensowenig beeinflussen läßt, wie der Barometer, den du mit »nervösen« Fingern hundertmal am Tage beklopfst. Das ist nur ein Beweis, daß die schlechte Laune dir schon in den Fingerspitzen sitzt. Führst du nicht ein Reisetagebuch? Hast du niemanden daheim zurückgelassen, dem du mit einem Brief eine Freude machen kannst? Dann sind doch solche Tage die einzigen im bewegten Reiseleben, an denen du überhaupt dazu kommst. Oder, bist du eine Frau, so hast du doch gewiß an deiner Garderobe etwas instand zu setzen. So ermanne dich doch, und nähe den Rocksaum sauber an, der schon seit mehreren Tagen nur mit Sicherheitsnadeln festgesteckt ist!

Das sind alles Kleinigkeiten, und sehr prosaische Beispiele. Aber das ganze Leben besteht aus Kleinigkeiten, und durchaus nicht immer aus Poesie oder erhabenen Dingen. Die Kleinigkeiten richtig anzufassen – darin liegt zumeist das Geheimnis der guten Laune, und schlechte Laune kommt immer aus Kleinigkeiten, nicht aus großen und erhabenen Dingen.

Untätiges Warten auf nebensächliche Dinge erzeugt immer schlechte Laune. Du solltest doch viel zu stolz und viel zu klug sein, um solchen kleinen Dingen die Herrschaft über dich einzuräumen.

Warten an sich ist keine Beschäftigung, höchstens ein Zustand. Und noch nicht einmal das, wo es sich um Kleinigkeiten handelt.

Während ich dies schreibe, warte ich auf meine Tochter, die mich zum Spazierengehen abholen wollte. Sie hat sich verspätet, es ist ihr vielleicht etwas Unvorhergesehenes dazwischengekommen. Hätte ich nun untätig gewartet, so liefe ich wahrscheinlich in Hut und Mantel, von Minute zu Minute ungeduldiger werdend, im Zimmer auf und ab, wie ein wildes Tier im Käfig. Ein unwürdiger Zustand. Und die halbe Stunde, die ich wartend verbracht habe, wäre tatsächlich verlorene Zeit gewesen. Ich habe mich aber an den Schreibtisch gesetzt und diese Gedanken niedergeschrieben, und damit erstens Zeit gespart, zweitens die Zeit nicht verloren – wenigstens für mich persönlich nicht – und drittens ist mir die Zeit wunderbar schnell und angenehm vergangen. – Viel schlimmer ist, daß während dieser Zeit eine große blaue Herbstfliege mir unaufhörlich um den Kopf fliegt, mir bald an die Stirn, bald auf das Papier stößt, und mich mit ihrem aufgeregten Summen und Zickzackflug so kribbelig macht, daß ich all meine Energie aufbieten muß, um mich nicht ärgern und stören zu lassen, und sehr erfreut bin, daß jetzt draußen auf dem Gange der Schritt meiner Tochter ertönt, und diesem gefährlich werdenden Zustand ein Ende macht.

Aber das gehört in ein anderes Kapitel der menschlichen Ärgernisse. –


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