Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

 

Ein Vierteljahr ging hin; langsam, sehr langsam. Die Arbeit mehrte sich, die Fremden füllten das Tal. Die abgebrannten Höfe standen neu aufgebaut, und die Lechnerin rüstete die Wiege für das vierte Kind. Margred Uttdörfer schwand immer mehr zu einem Schatten; die Sehnsucht zehrte sie auf. Sie war wieder einmal in Interlaken gewesen – das gab ihrer Seele karge Wegzehrung für eine kurze Zeit. Der Umgang mit der Ambergerin war nicht mehr anzubahnen gewesen. Warum nicht, darüber grübelte sie umsonst. Einmal war der Rainer bei ihr gewesen; das hatte ihr gut getan. Sie hatte über Barbara geklagt zu ihm, und er hatte die Schwägerin entschuldigt mit tausend Vorwänden; einen gewissen Grund ihres Verhaltens aber hatte auch er nicht angeben können. Sie hätte ihn fragen mögen: warum machst du nicht ein Ende und heiratest die Ambergerin – alle warten darauf. Aber sie wagte es nicht, ihm gegenüber; sie hatte ihm einst zu nah gestanden, um solche Vertraulichkeit sich anzumaßen.

Rainer erzählte seiner Schwägerin, daß er bei Margred gewesen. Sie wurde rot und sagte nichts dazu. Daß zwischen ihnen von ihr die Rede gewesen, verschwieg er, denn sie hatte ihm nie gesagt, daß sie den Verkehr abgebrochen habe.

Sie standen jetzt ganz gut miteinander. Er war frohgemut und schien es gar nicht zu sehen, wie blaß und trübäugig sie blieb. Und sie quälte eine heitre Unbefangenheit zurecht, die doch nur ein dünner Schleier war um ihr schwaches Herz. Sie zeigte auch wieder Vertrauen zu ihm, fragte ihn um Rat, und tat blind, was er ihr sagte. Ja, ja, mit der Zeit würde sie es schon lernen. Wenn er nur nichts von ihr begehrte. Und das schien nicht so.

Nach großer Hitze kam ein gewitterschwüler Tag. Vom Vormittage an schon schoben sich große Wolken am Himmel und zwischen die Berge, die sich mehr und mehr verdichteten. An drei Stellen braute sich das Unwetter zusammen; hinter der großen Scheideck stand es blauschwarz wie das nächtliche Firmament; die Sonnenstrahlen trafen grell dagegen; über das Finsteraarhorn und die Viescherberge wälzte es sich hernieder, über das obere Eismeer bis tief in die steile Felsenschlucht des Grindelwaldgletschers. Und hinter dem Eiger quoll es hervor, von den Schneefeldern des Mönch und der Jungfrau, die sein gigantischer Leib verdeckte.

Gnade Gott denen, die gestern abend ausgezogen sind auf die Berge! sagten die Grindelwalder, dabei ebenso aufrichtig der Fremden, wie der einheimischen Führer gedenkend.

Nachmittags brach es los; ein heulender Sturm fuhr von drei Seiten hernieder, fuhr krachend und splitternd die waldigen Hänge herunter und traf sich über dem Tal zu einem wilden Gewirbel. Losgerissene Blätter, Heu- und Strohhalme, Papierfetzen und Dachsplisse tanzten in der brausenden Luft. Hochauf wirbelte der Staub. Knallend flogen die Türen zu; die Holzläden klapperten und die Häuser erbebten in ihren Grundvesten.

Die Blitze fuhren aus der Höhe in die Tiefe, und der Donner rollte und knatterte, lang hindröhnend an den Bergen, bis er sich auflöste in wildes Murren; die Fensterscheiben klirrten. Die Geister des Himmels hielten Zwiesprache in den feurigen Lüften.

Der Regen rauschte. Drei Ströme ergossen sich über das Tal, von den Thronen der Gewitter ausgehend; rauschten über die Almen, beugten die Halme zur Erde nieder und schlemmten das Heu über die Hänge hinunter, bis die Bäume des Waldes oder die Mauern der Gehöfte es aufhielten – oder bis es hineingerissen ward in die schäumenden Strudel der geschwollenen Bäche.

Das Heulen des Sturmes, das Dröhnen des Donners und das Rauschen der ewigen Wasser vereinigte sich zu einer Musik, vor der die Stimmen der Menschheit ängstlich verstummten.

Im Ambergerhause war es ganz still. Mutter Marthe hockte in der hintersten Ecke der Stube mit dem Gebetbuch; weil es aber zum Lesen zu finster war, hatte sie das Gesicht darauf gedrückt und murmelte leise vor sich hin. Am Tisch saß Barbara, hatte Mareili auf dem Schoß und Christen an sich gedrückt; Alois hockte neben ihr auf der Erde. Keins rührte sich; die großen Augen hefteten sich in stillem Entsetzen auf die erblindenden Fenster, an denen das Wasser herniederlief, als würde es dagegen geschüttet, und hinter denen nichts zu sehen war, als eine gelbgraue Wolkenmasse. Wenn ein Blitz sie auseinanderriß wie einen Vorhang, dann fuhren die Kleinen leise wimmernd mit den Händchen vor die Augen, und wenn der Donner kam, als stürzten die Berge zusammen, lief ein Zittern über ihre kleinen warmen Leiber. Nur Barbara bedeckte die Augen nicht; immer gleich starrte sie hinaus, ihr Gesicht bewegte sich nicht. Sie dachte gar nicht an Blitz und Donner, an Unwetter und Gefahr; nicht an die Kinder, die sie umdrängten; nicht an die betende Mutter. An den Rainer dachte sie, und wo er wohl sein möchte, und die Liebe zu ihm wuchs in ihrem Herzen über alle Ueberlegung hinaus.

Plötzlich tat sie einen kleinen Schrei. Mutter Marthe fuhr aus ihrer Ecke hervor; die Kinder sprangen auf, Barbara blieb sitzen. – Rainer war in die Stube getreten. Krachend schlug hinter ihm der Sturm die Haustür zu, die er offen gelassen hatte.

Er sah aus, als käme er völlig aus dem Wasser; es rieselte und tropfte an ihm hernieder und floß auf die Diele zu seinen Füßen. Sein Gesicht war voll von Tropfen, und sein blonder Lippenbart. Er wischte sie fort und nahm die regengetränkte Mütze ab, unter der die Haare naß waren. – Und wie er lachte über das ganze Gesicht! Als sei in der Stube die Sonne aufgegangen.

Ach Gott! ach Gott! schrie es in Barbaras Seele; sie sah immer nur ihn an und seine lachenden Augen, und konnt' sich nicht rühren.

»Nun? seid ihr alle mitsammen versteinert?« rief er fröhlich. »Denkt ihr, ich sei der Wassermann?« wandte er sich an die Kinder. »Schnell, komm daher, Alois, nimm mir die Mütze ab und bring' sie in die Küche zum Trocknen! Was? du fürcht'st dich? Schäm' dich! Ein Bub', der ein gutes Gewissen hat, fürcht' sich nicht, wenn der Herrgott von den Bergen herunterpredigt!« Da faßte sich der Alois ein Herz und ging. Mutter Marthe war völlig aus ihrem Winkel hervorgekommen.

»Ihr seid wohl ganz unverständig geworden, bei so einem Wetter herumzulaufen!« schalt sie.

»Schön ist's!« rief er. »Gesehnt hab' ich mich darnach – die Erfrischung tat not. Und in der Stube bin ich nicht sichrer als draußen. Der Himmel ist über allem.«

Kopfschüttelnd betrachtete die Alte seinen triefenden Anzug.

»Hast denn nicht ein trockenes Zeug für deinen Schwager?« wandte sie sich an Barbara. »Er kann doch in den nassen Sachen hier nicht sitzen! Wird doch noch ein Rock da sein von dem Ulrich – oder ist alles draufgegangen für die Abgebrannten?«

Schweigend stand Barbara auf und ging in die Kammer. Ein neues Blitzen, Krachen und Splittern fuhr aus den Wolken. Angstvoll lauschte die alte Frau – mit wonnigem Schauer der Mann.

»Was hat euch heruntergetrieben, Rainer?« fragte sie. Er sah sie an, sah wieder in das Unwetter hinaus und sagte:

»Weil sich zusammentut, was zusammengehört, in solcher Stunde, von der man nicht weiß, ob man lebendig herauskommt.«

»Also ihr gebt's doch zu, daß Gefahr dabei ist!« rief sie befriedigt.

»Freilich – aber es ist schön – wie damals das Feuer!«

Barbara kam zurück. Sie brachte eine Lodenjacke vom Ulrich, und Rainer ging damit in die Küche, um sie anzuziehen und die eigne an den Herd zu hängen.

»Bring' etwas Wärmendes für den Rainer,« fuhr Mutter Marthe die Tochter an, die verträumt am Fenster stand. »Einen Kirsch oder einen Enzian! Stehst ja da wie ein Holzbild!«

Barbara drehte sich langsam um und tat, was die Mutter sie hieß. Die machte unter der Schürze eine Faust. Sie war zu Zeiten ernstlich aufgebracht über ihre Tochter.

»So,« sagte sie, als Rainer in der trockenen Jacke am Tisch saß, und den Kräuterschnaps trank, den sie ihm eingegossen, weil Barbara mit der Flasche dagestanden als wisse sie nicht, was sie damit tun solle, »so – nun bleibt ihr hier bis alles vorbei ist und wartet's ab bis die Sonne wieder scheint!«

»Gewiß, Mutter Marthe.«

Es ließ schon nach draußen; die Blitze kamen seltener und die Donnerschläge schwächer. Der Sturm war vorübergebraust, und hatte nur einen frischen Wind zurückgelassen, der die Wolkenmassen vor sich herschob. Ueber der großen Scheideck stand schon ein fahlgelber Schein. Nur der Regen rauschte noch stromweise. – Barbara hatte sich mit ihrer Flickarbeit ans Fenster gesetzt, stichelte, als ob es noch nie so eilig gewesen, und sagte eigentlich kein Wort zu der Unterhaltung der andern. Denn jedes Wort, das sie sprechen würde, mußte von Liebe reden, so meinte sie.

Da zuckte noch einmal ein Blitz – so dicht als führe er am Fenster vorbei; in demselben Augenblick kam ein Donner, lauter und knatternder als bisher; das Haus bebte; der Boden, auf dem es stand, schwankte. In den Kronen der alten Bäume zitterte es; einer der größten Aeste neigte sich und brach langsam an der Seite nieder; lange scharfe Splitter starrten an der Stelle, wo der Blitz ihn losgeschlagen, und am Stamme entlang zog sich ein weißer Streifen bis auf die Erde hinunter.

Barbara war vom Fenster zurückgewichen, blasses Entsetzen im Gesicht. Mutter Marthe legte den Kopf in die Hände und wimmerte leise. Rainer war mitten in seiner Rede verstummt und sehr ernst geworden.

»Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, von welchen mir Hilfe kommt!« betete die Alte.

Der Mann und die Frau sahen einander an. Rainers Augen leuchteten; Barbara schlug die ihren nieder, als schäme sie sich.

Und wieder zuckte ein Licht durch das Zimmer. Diesmal aber war es ein Sonnenstrahl, der siegend die strömenden Wolken zerriß, die nasse Erde erglänzen machte, und sich breit und goldig, von einem leichten Dunst verschleiert, auf die Diele legte.

Nachdrängende Wolken verschlossen den Spalt, durch den der Himmelsglanz flüchtig gedrungen; aber anderwärts mußten sie ihm Raum geben, damit es Licht werde auf Erden. Die Ströme des Himmels versiegten, und mit den Bächen der Berge rauschte die Freude zu Tal.

Barbara und Rainer standen in der geöffneten Haustür, atmeten die gereinigte Luft und betrachteten den Schaden, den der Blitz dem alten Baum getan. Es hatte völlig aufgehört zu regnen. Auf den Bergen strahlte schneeige Helle, und die schwarzen Wolken drängten flüchtig das enge Lütschental hinunter. Es tropfte von den Dächern und von den Bäumen, und auf den Steinen des gepflasterten Hofes verdunstete die Feuchtigkeit. Es rann und rieselte auf Stegen und Pfaden und gluckste in den Wasserleitungen der Wiesen. Duft entströmte den glänzenden Blättern der Bäume, den schwer darniedergebogenen Gräsern und Blumen im Hausgärtchen.

»Barbara,« sagte er, »komm ein wenig mit mir spazieren.« Sie sah flüchtig auf, senkte den Kopf und hatte eine Falte auf der Stirn.

»Ich hab' nicht Zeit,« sagte sie.

»Barbara,« sprach er mit bitterem Ernst, »wenn du mir meine Bitte abschlägst, so ist es aus zwischen dir und mir.«

Sie zitterte vor Schreck. Aus – völlig aus! Nein – nur das nicht; so nicht. Dann lieber die ganze Wahrheit sagen – alles. Vielleicht könnt' sie es hinhalten, aufhalten. Aber aus – völlig aus – nein! Etwas mußt' es doch für sie zu retten geben.

»So werd' ich kommen,« sagte sie. »Aber derbe Schuh' möcht ich mir noch anziehen, wegen des Wassers.«

Drinnen sagte sie der Mutter, daß sie mit dem Rainer ausginge; die nickte zufrieden.

»Geh' nur. Ich sorg' unterdes fürs Abendbrot.«

Der Weg war eben breit genug für beide. Sie gingen hinter dem Hause bergan, durch die Wiesen am Hertenbühl, bis sie den Saumpfad gewannen, der hinter dem Dürrenberg herum aufs Faulhorn führt; auf dem steinigen Steige stiegen sie weiter, dem Walde zu.

Ringsum lachte die Welt. Die Vögel jubelten, die Sonne glitzerte in Millionen Regentropfen und auf den Bergen thronte der himmlische Friede. – Ab und zu blieb Rainer stehen und sah sich um. Dann blieb auch Barbara stehen; ihr Atem ging schneller vom rüstigen Steigen, ihre Brust hob sich hoch und schnell; in ihr verblaßtes Gesicht stieg die Röte des jugendlichen Lebens; aber ihre Augen blieben traurig, und ihr Herz drückte eine dumpfe Angst. Ab und zu sprachen sie auch; er fröhlich, fast übermütig; sie kurz, mit unklarer Stimme und zusammenhanglosen Worten.

Als sie die letzten hochgebauten Höfe hinter sich gelassen hatten, wurde Rainer still. Barbaras Angst verschärfte sich zu quälender Unruhe. »Wir möchten umkehren,« sagte sie, stehen bleibend.

»Nein – komm noch hinauf zum Walde,« bat er. Schweigend gab sie ihm nach. »Ich wollt' dir etwas sagen.« –

Die Luft blieb ihr weg. Es dauerte lange, bis er einen Anfang fand; sie meinte schon, er habe wieder vergessen, was er sagen wollte. Der Wald stand still und regenschwer. Wenn ein linder Windhauch durch die Tannen ging, fielen Tropfenschauer hernieder. Die Sonne sog den Dunst aus den Nadeln, daß es schien, als dampften die Bäume. Ihre schrägen Schatten fielen über den Weg, der sich zwischen ihnen hinzog. Ein Sprosser sang in den Zweigen. – Am Eingang des Waldes blieb Rainer abermals stehen. Er hatte noch nicht wieder gesprochen seit vorhin und die Frau sah verstohlen und ängstlich zu ihm auf. Er blickte aus die regengetränkte, sonnendurchleuchtete Welt zu ihren Füßen, bis hinüber zu den Bergen, auf denen der ewige Friede thronte. In seinem Gesicht kämpfte eine große Bewegung.

»Schau, Bärbeli, wie es so klar geworden ist ringsum nach dem Wetter!« sagte er mit weicher Stimme.

»Ja – « meinte sie, halb zögernd, halb fragend, und fuhr fort, ihn zu betrachten.

»So klar möcht' ich auch, daß es zwischen uns sei –« dabei wandte er sich zu ihr, so unerwartet, daß sie erschrocken errötete. Als ob dies Erröten ihn ermutigte, nahm er ihre Hand und bemühte sich, in ihr gesenktes Antlitz zu sehen.

»Bärbeli – hast du mich lieb?« fragte er.

Ach – daß die Erde sich auftäte, sie zu verschlingen, damit sie ihm nicht den Schmerz antäte! Daß der Himmel einen Blitz sende, sie zu töten, hier zu seinen Füßen, damit sie's nicht erleben braucht! Aber Erde und Himmel standen still, und der Sprosser sang, und die Sonne lachte. – Rainers Hand legte sich fester um die der Frau.

»Bärbeli – hast du mich lieb?« fragte er noch einmal. Die Stimme klang unsicher. Langsam schlug sie die Augen auf; sie sah ihm in das männliche, braune Gesicht, darin die Augen von Liebe leuchteten wie zwei glückverheißende Sterne; in das Gesicht, das sich zu ihr niederbeugte, strahlend vor Freude und Güte, und doch ein wenig ängstlich suchend – –

Ach Gott, jetzt war es zu spät. Jetzt nützte kein Leugnen mehr. Jetzt kam das Unausbleibliche, das Ende.

»Bärbeli, sag' doch, hast du mich lieb?« fragte er zum drittenmal. Da riß sie die Hand von ihm los und schlug sie vors Gesicht.

»Ja!« schrie sie auf, in Herzensnot und weher Verzweiflung. Da fühlte sie auch schon seinen Arm, seinen treuen, starken Arm.

»Laß mich!« rief sie, und wich zurück, über den schmalen Weg hinaus, zwischen die Tannenstämme. »Rühr' mich nicht an. Ich kann dir nicht gehören, auch wenn ich dich noch so sehr liebe!« Rainers Gesicht sah starr und erloschen aus.

»Warum nicht?« fragte er.

»Ich hab's geschworen!« jammerte sie.

»Wem hast du's geschworen?«

»Dem Ulrich.«

Nachdem sie das gesagt, senkte sie den Kopf und wagte nicht mehr, ihn anzusehen. – Rainer starrte mit abwesenden Augen um sich. Der leuchtende Sonnenstrahl blendete ihn, und er legte minutenlang, die Hand übers Gesicht.

»Ich versteh' dich nicht,« sagte er, wie ratlos. Da raffte sie sich auf.

»Komm', ich will dir's erzählen.« Sie setzte sich auf einen großen flachen Stein, stützte die Arme auf die Knie und die Stirn in die Hand, und erzählte.

»Als der Ulrich im Sterben lag, – du warst hinausgegangen, weil er mit mir allein sprechen gewollt – da hat er mir gesagt: du bist noch jung und wirst wieder heiraten; wenn du aber einmal deinen Kindern einen Vater wirst geben wollen, so darf es nicht der Rainer sein; schwör' es mir. Und ich schwor es ihm.« Wie Geisterlaut tönten die Worte in dem sonnigen Walde; eine düstre Klage, ein vorwurfsvoller Wehelaut.

Rainer stand vor ihr auf seinen Stock gelehnt und hörte ihr zu. Er war blaß bis in die Lippen und bewegte sich nicht.

»Was hat der Ulrich gehabt gegen mich?« fragte er mühsam. Sie öffnete mehreremale die Lippen und schloß sie wieder. Es war so furchtbar zu sagen.

»Ich hab' es mir zurechtgedacht. Du weißt, wie uns der Uttdörfer getroffen hat an dem Herbstabend auf den Wiesen. Denselben Abend hat der Ulrich mir einen Auftritt gemacht wegen dir. Der andre muß ihm also einen häßlichen Verdacht ins Herz gesenkt haben. Seit der Zeit war es anders zwischen dem Ulrich und uns. Gesprochen hat er nie davon, aber gefressen hat's an ihm, zu allem andern. Ich hab's gefühlt. – Und nun, im Tode, hat er in die Zukunft geblickt, und hat gedacht: wenn über kurz oder lang es so käme, daß wir einander lieb gewönnen und heiraten möchten, dann würde der Verdacht, den der Uttdörfer ausgestreut hat, sich bestätigen vor dem ganzen Dorf. Und das hat er nicht gewollt, denk' ich mir.«

Es war ihr heiß geworden zum Ersticken. Sie richtete sich auf und schöpfte Atem; dabei sah sie ihn an. Sein Gesicht war völlig entstellt vor Zorn und Wut. Er ballte die Faust.

»Der Uttdörfer?« knirschte er. »Der Satan! Hat den der Herrgott geschaffen, nur damit er mich vernichtet – nun zum zweitenmale – « Er schleuderte seinen Stock fort, daß er klingend über die Steine glitt und rollte, und eine maßlose Erregung durchwühlte seine Geberden. In ihrer Angst sprang Barbara auf, lief zu ihm und umklammerte seinen Arm.

»Raini – Raini – ich bitt' dich um Gotteswillen!«

Er stand still. Er sah sie an und sein verzerrtes Gesicht beruhigte sich. Er legte ihr die Hände auf die Schultern und sah ihr tief in die angstvollen, traurigen Augen.

»Weib! wie konntest du so etwas schwören!« rief er außer sich. Sie brach in Tränen aus.

»Ich hab' nicht gewußt, daß es so kommen würde! Ich dacht ja damals nicht an dich. Ich dacht überhaupt nichts in der Stunde, die so über mich gekommen war. Und auch, wenn ich damals schon an dich gedacht hätt' – ich hätt' dem Sterbenden sein Verlangen nicht weigern dürfen!« Sie sah ihn an, als flehe sie um Erbarmen. »Und ein Schwur, dem man einem Toten mit ins Grab gibt, ist heilig,« schloß sie mit versagender Stimme und mit einem leisen Schauder.

»Ja heilig –« wiederholte er. Seine Augen ruhten immer noch auf ihr. Plötzlich legte er die Stirn auf ihre Schulter. Sie erbebte, aber sie hielt ganz still, wie unter einer heiligen Last. Ihr Herz schlug schwer und wild; er fühlte es deutlich. Mit einem Seufzer, der wie ein unterdrücktes Stöhnen klang, richtete er sich auf und riß sich los. Er sah gar nicht mehr zum Kennen aus.

»Ich hab' auf Gott vertraut, daß er mir's gelingen lassen würde, nachdem er mich schon einmal hart geschlagen. Gott hat mich betrogen. Er leiht seine Hand den Schurken, und die auf ihn hoffen, läßt er zu Schanden werden. Ich versteh' ihn nicht mehr.«

»Raini!« rief sie schluchzend. »Sprich nicht so? Wir verstehen ihn oft nicht, aber schmähen dürfen wir ihn nicht!«

Er lehnte sich mit dem Arm an eine Tanne, legte den Kopf auf die Hand und sah in düsterem Trotz zu Boden. An dem Wogen seiner Brust merkte man, wie es in ihm stürmte. Plötzlich fuhr er auf. In seinen Augen funkelte es.

»Hätt' ich ihn vor mir – totschlagen tät' ich ihn! Hätt' ich's nur damals schon getan, jenes erstemal!« Seine Worte endigten in erstickten Zorneslauten. Da hing sich wieder die Frau an seinen drohend erhobenen Arm.

»Raini – von wem red'st du – was meinst du? Das erste Mal, sagst du, und vorhin: zum zweitenmal –«

Er sah sie finster an; dann nahm er ihre Handgelenke und preßte sie hart.

»Willst du's wissen? Gut, so sollst du's erfahren. Höre mich!« Und mit schrecklicher, eintöniger, dumpfer Stimme begann er: »Als ich ein junger Bursch war, da hatt' ich mich versprochen mit der Margred Burgner. Da stahl mir der Uttdörfer ihre Liebe, vorsätzlich und hinterlistig; um sicher zu gehen, daß ich ihrer sündigen Leidenschaft kein Hindernis in den Weg lege, verführte er mir die Braut in nichtswürdiger Lüsternheit und verdammter Feigheit! Nun – er hatte gut gerechnet; ich ließ sie ihm; ich hätt' sie um keinen Preis mehr haben mögen. – Damals war ich ein junger Bursch, und hab's verwunden, wennschon ich gemeint hab', das Herz müßt mir springen vor Zorn und Schmerz. Aber heut – aber jetzt –« er fand nicht weiter.

Sie hörte ihm zu, von Grauen ergriffen. Ein Frieren nach dem andern ging über sie hin.

»Warum hast du ihn damals nicht totgeschlagen!« sagte sie heiser.

»Warum?« Er lachte zornig. »Weil sie mich bat, die arme, verführte Dirn', und weil ich sie nicht noch elender machen wollt'. Denn wennschon ich sie damals noch liebte – genommen hätt' ich sie nicht mehr, auch wenn ich's den Uttdörfer mit dem Tode hätte büßen lassen.«

Langsam sanken ihre Hände von ihm ab; sie verfiel in trübes Sinnen. Sein Blick streifte sie in Unruhe.

»Was sinnst du?« fragte er.

»Mir ist,« erwiderte sie, ohne aufzusehen, »als hätt' ich es immer gewußt. Als hätt' ich nur darum einen Widerwillen gegen ihn gehabt, schon eh' er den Uli nach sich zog. Und auch gegen die Margred hab' ich immer ein Gefühl gehabt, als sei was zwischen uns, das sich nicht forttun lasse. Und nun – nun – ich hasse sie!« schrie sie heraus, und ihre Augen hatten einen bösen Blick. Da legte sich seine Hand wieder auf ihre Schulter.

»Du sollst sie nicht hassen. Wenn sie gefehlt hat, so hat sie gesühnt. Sie war ein schwaches Ding, und der Teufel hatte leichtes Spiel mit ihr.«

Das war wieder seine alte Stimme und sein wahres Wesen. Sie vergaß alles, außer dem einen, daß dies der Abschied war. Sie sank an seine Brust und weinte wie ein Kind.

»Raini, Raini – daß ich dir das antun muß – ich wollt' du könnt'st mich hassen –« Er streichelte ihr dunkles Haar.

»Laß gut sein, Bärbeli. Wir müssen's aushalten. Ich weiß nur noch nicht, wie ich's ertragen werd', so in deiner Nähe –«

»Du wirst doch nicht fortgehen!« schrie sie auf. »O Raini, Raini, tu mir das nicht an! Ich kann nicht weiter leben, wenn du gehst; eh' du um meinetwillen heimatlos wirst, eh' mach' ich mich lieber davon, dahin, wo mich niemand mehr sucht noch findet!« Ihr zu Liebe, um sie zu beruhigen, versprach er, was ihm unmöglich dünkte.

»Wir wollen's versuchen.« Ihr zu Liebe, dachte er, würde er am Ende das Unmögliche möglich machen. – Sie richtete sich auf und trocknete ihre Tränen.

»Wir wollen's versuchen,« wiederholte sie. »Wir wollen uns teilen, was uns übrig bleibt, und rein und treu bleiben!«

»Ja, rein und treu!« In stiller Verzweiflung irrte sein Blick über sie hin. Da bat sie ihn schüchtern:

»Raini, magst dich noch ein wenig zu mir setzen, hier auf die Steine – du hast mir gesagt, klar sollt' es sein zwischen uns – aber ich hab' dir noch viel zu erzählen, warum ich so veränderlich gegen dich war, damit ich Ruh' bekomm' –«

Sie setzten sich eng aneinander und sie sagte ihm alles, was sie auf dem Herzen hatte, vom Winter her. Ihr war es eine Wohltat. Ihm bedeutete es Qual; denn alles, was sie sagte, verriet ihm ihre große, traurige Liebe zu ihm. Er erwiderte nicht viel.

Die Sonne ging hinter die Berge; aus dem Tal stieg weißer Dampf, ein kühles Rauschen ging durch den dämmernden Wald.

»Wir müssen ein Ende machen,« sagte Rainer Amberger. Sie kauerte neben ihm und rührte sich nicht.

»Ich kann nicht,« sagte sie trotzig und verzweifelt. Da stand er auf und zog sie von dem steinigen Sitz empor.

»Sei gescheit, Bärbeli. Einmal muß es ja sein. Geh' heim zur Mutter!« Das Herz tat ihr so weh – sie hätte schreien mögen.

»Und du?« fragte sie scheu.

»Ich – ja, ich hab' nun niemand mehr.«

»Raini – komm mit – ich kann dich hier nicht verlassen!«

»Es wird überall das Gleiche sein. Geh' nur.«

»Raini –« ihre Augen klammerten sich verzweiflungsvoll an ihn. »Kommst du morgen einmal heran? Es ist nur, weil ich –«

»Ja, ja,« beruhigte er. »Ich werd' nach dir sehen kommen. Aber nun geh'. Es möcht uns am End' wieder einer belauschen!« schloß er bitter. Da wandte sie sich um und ging; gebeugten Hauptes, müden Schrittes; er hörte sie weinen und sah, wie sie immer wieder die Augen wischte. Aber sie ging und sah sich nicht mehr um.

Auf dem Ambergerhof in der Stube hatte Mutter Marthe schon Licht gemacht. Daß die beiden solange ausblieben, dünkte sie ein gutes Zeichen; sie war voll froher Hoffnung und sang leise vor sich hin, irgend ein altes Liebeslied, das schon längst nicht mehr über ihre Lippen gekommen war. Da trat Barbara ein; bleich, finster, mit geröteten Augen und gekniffenem Mund; ein Bild stummer Verzweiflung.

»Jesus! Was ist geschehen?« rief Mutter Marthe.

»Nichts,« entgegnete Barbara.

»Wo ist denn der Rainer?« Sie lachte; es klang mißtönig.

»Er wird morgen wiederkommen,« sagte sie. »Und ich bitt' dich, Mutter,« fuhr sie mit harter Stimme fort, »daß du nicht solche Fragen tust. Es ist alles, wie es immer war.« –

Die Nacht sank über den Wald. Der Sprosser schwieg; nur der Steinkauz flog leise von Ast zu Ast, und lachte scheußlich. Aus der Tiefe rauschte der geschwollene Strom. Die Bäume atmeten leise, und aus der Erde stieg der schwere Duft sommerlicher Fruchtbarkeit.

Auf seinem planlosen Umherirren war Rainer bis auf die waldigen Matten unter der Bußalp gelangt. Er konnte nicht unter niederem Dach sein und zwischen engenden Wänden, mit dem Aufruhr in der Seele, nach dem Sturz aus glücklicher Ungeduld in kalte Hoffnungslosigkeit; mit all den entfesselten Leidenschaften, Haß, Schmerz, Liebe im pochenden Blut und im jagenden Herzen. – Hier oben hielt er inne im rastlosen Laufen; das letzte Wegstück war steil gewesen, die Lunge drohte zu versagen.

Da stand am nachtblauen Firmament der lichte Kranz schneeiger Berge, und die Sterne taten, als möchten sie sich auf ihnen niederlassen. Ein Hohn erschien dem Mann ihre lichte Klarheit, eine Fratze der heilige Friede, und die göttliche Ruhe war ihm nur noch Kälte, Eiseskälte.

»Ihr habt mich auch betrogen!« knirschte er; warf sich ins Gras und bedeckte die Augen. Nichts mehr wollte er sehen; nichts.

Die Stille ringsum war bedrückend; als sei alles Leben, alles Glück hinweggelöscht, und die ganze Welt ausgefüllt mit der Kälte, in der die Berge erstarrten.

Auch im Liegen hatte er keine Ruh'; er setzte sich wieder aufrecht. Da fiel sein Blick auf den weißen Wunderberg, der weißer und höher als alle andern in feierlicher Majestät aufragte aus der Erde in den Himmel; aus der Zeitlichkeit in die Ewigkeit. Der Mann versank in Nachdenken und Schauen.

»Jungfrau – Königin –« murmelte er.

Er war unter einem Bann, einem Zauber. Immer stiller ward es in seiner stürmenden Seele. Viertelstunde um Viertelstunde verstrich. Als der frühe Sommermorgen fahlte, ging er nach Hause.

*

Um Mittag lief eine Nachricht durch das Dorf, die, wenn gleich ähnliche Kunde hier oft genug vernommen wurde, doch alle Gemüter bewegte, und Tatkraft und Opfermut in den Herzen aller Tapfern entzündete.

Am Tage vor dem Unwetter, so hieß es, seien von Lauterbrunnen zwei fremde Herren mit zwei Führern aufgebrochen, die Jungfrau zu besteigen. Ueber Stechelberg und die Stufensteinalp und das Fels- und Gletscherbecken des Rothtals hatten sie gewollt, und dort in der Klubhütte nächtigen.

Am zweiten Tage durch die öde Steinwüste hinan, und über Schnee- und Eisgrate nach dem Gipfel, den sie in der Mittagsstunde zu erreichen dachten. Den Abstieg hatten sie nach der entgegengesetzten, der Ostseite nehmen wollen, über den Rothtalsattel und den Firnschnee, das obere und untere Mönchjoch, und die Viescher Gletscher nach der Berglihütte, um von dort aus, wenn es die Kräfte zuließen, noch selbigen Abend über den unteren Gletscher und die Bäregghütte nach Grindelwald hinunterzusteigen; andernfalls in der Berglihütte die zweite Nacht zu verbringen.

Wenn sie ihren Plan innegehalten hatten, so mußte das Unwetter sie auf dem östlichen Abstieg erreicht haben und zwar mit höchster Wahrscheinlichkeit auf dem Ewig-Schneefeld zwischen den Mönchjochen. Waren sie gestern abend und auch bis heut mittag nicht nach Grindelwald heruntergekommen, so mußte ihnen ein Unfall zugestoßen oder ihr Weiterkommen durch Verwehungen, Schneebrüche oder sonstige Begleiterscheinungen wilder Wetter gehindert sein. In beiden Fällen war es nötig, so schnell als möglich Hilfe zu bringen. Darum hatten sie von Lauterbrunnen angefragt; und als festgestellt worden, daß weder gestern noch heut die Vermißten hier angelangt seien, wurde beschlossen, daß man von beiden Punkten ausziehen müsse, sie zu suchen. Denn es war ebenso möglich, daß sie, aus ihrer Höhe das Unwetter voraussehend, auf demselben Wege zurückkehrten, als daß sie ihn in beschlossener Richtung fortgesetzt hatten. Jedenfalls kam man schneller zum Ziel, wenn man von zwei Seiten ausging.

Der Knecht, der um die Mittagsstunde vom Mettenberg heimkam, wo er einen Auftrag auszurichten gehabt, trug dem Rainer die Nachricht zu, die auf der ganzen Dorfstraße besprochen wurde. Er wußte auch schon, daß Christen Almer und Peter Schlegel, zwei bewährte Leute, die eben keine andre Beschäftigung hatten, bereit waren, auszuziehen.

Rainer Amberger hatte dem eilzüngigen Bericht seines Knechts anfangs teilnahmslos zugehört. Plötzlich gab es einen Ruck in ihm; er sah auf – in seiner Seele war ein Gedanke erwacht, der leuchtete in heller Freude aus seinen eben noch gramverfinsterten Augen.

»Christen Almer und Peter Schlegel, sagst du – und wann?«

»Gleich,« berichtete der Knecht. »Sie wollten sich nur das nötige Zeug zusammensuchen –«

Rainer fragte nichts mehr. Er riß seinen Hut von der Wand, stürzte zur Stube, zum Hause und zum Hofe hinaus, und eilte mit langen Schritten, die manchmal zu Sprüngen wurden, über die Hänge hinunter, quer über die Straße, dem Mittelpunkt des Dorfes zu, wo in einem bescheidenen Hüttchen Peter Schlegel wohnte.

Er war nicht zu Hause; auf der Straße würde er wohl sein, bei den andern, sagte man ihm. Rainer eilte die Straße entlang.

Vor dem Bären war ein förmlicher Menschenauflauf; Fremde und Einheimische, alle zusammengeführt durch das gleiche Interesse. In ihrer Mitte standen Almer und Schlegel in eifriger Beratung. Rainer brach sich Bahn durch die angestaute Menge, und legte dem Almer, den er zunächst erreichte, die Hand auf die Schulter, so derbe, daß er mitten in seiner Rede abbrach und sich unwillig umsah. Aber sein Gesicht hellte sich sofort wieder auf, als er den Rainer erblickte.

»Christen Almer,« sagte dieser mit mühsam erzwungener Ruhe und mit großem Ernst in den blauen Augensternen; »ich hab' gehört, daß ihr ausgehen wollt, die Vermißten zu suchen. Christen Almer, ich bitt' euch – nehmt mich mit!«

Der Mann mit dem wetterbraunen, von grauendem Barthaar umstarrten Gesicht, derselbe, der Gastfreundschaft genossen auf dem Ambergerhof, sah den Holderbauer erstaunt an.

»Unser Weg ist beschwerlich,« sagte er kopfschüttelnd, »und ihr seid kein geübter Bergsteiger. Ihr würdet uns nur aufhalten.«

»Ein geübter Bergsteiger bin ich freilich nicht,« entgegnete Rainer. »Aber ich hab' schon manchen Weg gemacht, dessen ihr euch nicht schämen brauchtet. Meine Natur ist zäh; mein Fuß ist sicher und mein Auge kennt den Schwindel nicht. Und wenn ich euch aufhalt', so laßt ihr mich zurück!«

Christen Almer sah immer erstaunter dem Rainer in das von kühnem Mut und heiligem Ernst leuchtende Antlitz.

»Mann,« sprach er ernst, »wir machen keine Vergnügungstour!«

»Es ist mir auch nicht ums Vergnügen zu tun!«

»Wir tun's auch nicht um Abenteuer!« mischte sich Peter Schlegel ein.

»Die Abenteuerlust liegt mir ferne.«

»Ja, Mann – um was denn wollt ihr's?!«

»Aus Liebe; aus Liebe zu den Bergen!«

Dieser Grund, und der Umstand, daß der Bittende Rainer Amberger war, stimmte die gewissenhaften Führer weich. Nach einigem Hin- und Herreden, wobei Rainer ihr Zutrauen immer völliger gewann, war die Sache abgemacht. Aber in zwei Stunden hieß es aufbrechen. Heut abend noch mußten sie die Berglihütte über dem Vieschergrat erreichen. Dann hatten sie morgen den ganzen Tag zum Suchen auf den Firnen.

Es blieb dem Rainer eben noch Zeit, sich alles Nötige zu beschaffen und sein Haus zu bestellen. – Um vier Uhr sollte die Wanderung beginnen. Um drei Uhr verschloß er die Stube und verließ den Hof. Im braunen Lodenanzug, mit genagelten Stiefeln und wuchtigem Stock, den Rucksack auf dem Rücken und das Seil vielfach gewunden um die Schulter gehängt, stieg er hinunter nach dem Ambergerhof.

Hier war alles still und wie ausgestorben um die heiße Nachmittagsstunde. Im Schatten der Ahorne schlief der Hund. Als Rainers Schritt gegen die Steine klang, blinzelte er mit den Augen, erhob sich, dehnte und reckte den braunen Leib, gähnte gewaltig und lief ihm entgegen. Rainer klopfte ihm den glatten Kopf; mit ihm zu scherzen hatte er nicht Zeit. – Vor der Haustür legte er seine Last ab, lehnte den Stock an den Pfosten und ging so leise es das schwere Schuhzeug erlaubte, über den Flur, nach der Stube.

Mutter Marthe nickte im Lehnstuhl am Fenster, daran die Fliegen auf und ab krochen. Die Bäuerin war nicht da. – Leise, wie er gekommen, ging er wieder hinaus und suchte sie in der Küche. Auch da war sie nicht. Er räusperte sich, um sich bemerklich zu machen; als auch das nicht half, rief er mit gedämpfter Stimme ihren Namen. Da erklang über ihm ein schneller Schritt; Barbara kam die Stiege herunter. Er wartete, und dabei sah er sie an.

Ihr Gesicht war blaß und vergrämt. Die Augen lachten unter Tränen, als sie ihn sahen. Er wandte die seinen weg; das Herz schnürte sich ihm zusammen.

»Ich hatt' dir versprochen, heut einmal vorzusprechen,« sagte er, als sie völlig herabgekommen war. »Da bin ich also.«

Sprechen konnt' sie nicht; so hielt sie ihm nur die Hand hin. Er nahm sie, und sah ihr fest in das zuckende Gesicht.

»Ich komm' dir Lebewohl zu sagen, Barbara.«

Sie wurde noch blasser; eine furchtbare Angst erfaßte sie.

»Was meinst – was willst –« stammelte sie. Er zögerte noch.

»Hast du gehört, daß welche vermißt werden?« fragte er. Sie nickte; aber noch ahnte sie nichts.

»Der Almer und der Schlegel gehen aus, sie zu suchen. Oben auf der Jungfrau. Und ich geh' mit.«

»Rainer!« schrie sie auf. »Rainer! was willst du tun!«

»Ich will ihnen suchen helfen.«

»Rainer – du bist kein Führer – du kennst das alles nicht –«

»Die Berge sind mir vertraut; ob's ein wenig höher ist, als sonst, was tut's! Gewünscht hab' ich mir's schon lange.« Sie hielt immer noch seine Hand, nun mit ihren beiden.

»Rainer,« sagte sie, bog sich vor und sah ihm ganz nah ins Gesicht. »Du gehst mit, weil du von hier fort willst!«

»Ja,« sagte er. Sie rang mit ihrem versagendem Atem.

»Wirst du wiederkommen, Rainer?«

»Ja – so der Herrgott es will. Ich bin ein wenig irre an ihm geworden. Ich will mich mit ihm auseinandersetzen da oben.«

»Rainer – das heißt Gott versuchen!«

» Versuchen nicht – nein, wahrlich nicht; nur suchen. Denn weißt – ich hab' ihn aus den Augen verloren.«

»So such' ihn wo anders! Er ist überall! Er wird sich überall finden lassen! Warum muß es grad da oben sein!«

Vergeblich erschöpfte sie sich in Bitten und Abreden. Er blieb fest.

»Ich hab' mir's gewünscht seit meiner Kinderzeit. Meine Sehnsucht hat danach gestanden, solang ich das Leben habe. – Meine Manneshoffnung ist grausam zerstört – nun laß mich wenigstens die Sehnsucht meiner Kindheit stillen.«

Endlich gab sie nach. Sie sah ein, daß sie es zu schwer nahm. Die Gydisdorfer lebten in und auf den Bergen – es war nichts Sonderliches für sie, die Spitzen zu erklimmen. Gefahr blieb immer dabei; aber wie viele hatten sie glücklich überstanden! –

»Wann wirst du wiederkommen,« fragte sie trübe, indes er draußen seine Sachen wieder auflud.

»In zwei, drei Tagen. Vielleicht schon morgen, wenn's Glück gut ist. Es kommt darauf an, wo und wie wir sie finden, und ob wir auf unserer oder auf der Lauterbrunner Seite hinabmüssen.«

»Drei Tage ohne Nachrichten von dir!« stöhnte sie und verhüllte das Gesicht.

»Leb' wohl, Bärbeli,« sagte er, als er fertig aufgepackt hatte. »Behüt dich Gott, mein Herzensschatz!« Seine Stimme klang traurig, und seine schmerzensreiche Liebe bebte darin. »Grüß mir den Alois – und die Kleinen – und die Mutter –«

Sie hielten sich bei den Händen und sahen sich an, als wollten sich ihre Seelen ineinander festwachsen. Dann ließen sie sich los, ohne noch ein einziges Wort zu sagen. Er ging; der Hund sprang hinter ihm her – er beachtete ihn nicht. – Jenseits des Zaunes blieb er noch einmal stehen, schaute sich um und schwenkte grüßend den Hut.

Barbara fand kaum die Kraft, winkend die Hand zu heben. Dann kauerte sie sich auf der Schwelle nieder, zog die Kniee empor und legte die Stirn darauf. Die Tränen drängten ihr nach den Augen wie feurige Tropfen. Ihre Seele war wie ausgedörrt; sie konnt' keinen Gedanken mehr fassen.

*

Hinunter zur Lütschine geht der Weg; auf der hölzernen Brücke bei der Sägmühle überschreitet er den Bach und steigt am jenseitigen Ufer zwischen Höfen und über baumbestandenen Matten an der westlichen Wange des Mettenberges hinan; windet sich durch einen schmalen Waldstreifen und erreicht die Felswand, die aus schwindelnder Höhe in die grausige Tiefe des Gletscherbettes senkrecht hinabstürzt. Dem Gestein abgerungen, zwischen spärlichem Graswuchs, Tannengestrüpp und Alprosenkraut kriecht der Pfad an den Felsen entlang, seinen Klüftungen sich anschmiegend, immer steigend, immer tiefer hinein in die Einsamkeit von starrendem Stein, schimmerndem Schnee und klingendem Eis. Zur Rechten in der Tiefe die bläulichen Gletschermassen, von schmalen Spalten durchsetzt, durch die Sonnenwärme der Jahrhunderte zu einem ebenen Klumpen zusammengeschmolzen, der sich in hartnäckiger Eigenwilligkeit in die Felsenenge klemmt. Jenseits die nackten Eigerwände, die hier so steil abfallen, daß, der Schnee nicht haften kann, und das schwarzbraune Gestein sich wie ein finsterer Schatten ausnimmt in der Gesellschaft weißgepanzerter Genossen. Vorn die Viescherberge mit ihren Eisfeldern in feierlich glänzender Ruhe. Hinten, immer kleiner werdend im Rahmen der immer mehr und mehr zusammenrückenden Felswände, das grüne Tal mit den roten und braunen Dächern, und das Kirchlein mit dem spitzen Turm.

Schweigend, mit langsamen, weit ausholenden Schritten bewegten sich die drei Männer vorwärts, Zweck und Ziel ihrer Wanderung hatte sie ernst gemacht. Die Sonne brannte auf die kahle Felswand, und die Last der Seile, Rucksäcke und Eispickel drückte.

Nach anderthalbstündiger Wanderung erreichten sie an der Stelle, wo man die Felswand verläßt, um auf den Gletscher hinabzuklettern, die Bäregghütte. Hier gönnten sie sich eine kurze Rast, um sich ein wenig abzukühlen, ehe sie in die Eiseskälte niedertauchten. Almer und Schlegel gingen in die Hütte. Rainer blieb draußen stehen, lehnte sich an den Zaun, der gegen den schroffen Abfall der Felswand hingezogen war, und folgte mit der Seele der Richtung seines Blickes; der suchte den Weg in das Land und Leben hinaus, aus dem sie gekommen waren, und von dem er nun für ein paar Tage Abschied nehmen sollte. Da hinten lag, nur noch wie durch einen Spalt sichtbar, das quer vorgelagerte Grindelwaldtal, grün und golden leuchtend im Schein der abendlichen Sonne. Da war noch einmal die Kirche und über ihr, grade wo die schlanke Turmspitze endete, lag der Ambergerhof.

Da versank der allzeit frohgemute Mann in ein finstres Grübeln, und so schwer lag ihm das Herz in der Brust, daß er meinte, er könne es nimmer länger mit sich herumtragen. Grause Gedanken raunten und flüsterten in seiner von Schicksalstrotz umdüsterten Seele. Er brauchte nicht wiederzukommen von dem Gange, den er anzutreten im Begriff war. Die eisigen Hänge sind steil und gefahrvoll; die Gletscherspalten sind blau und tief. In kaltem Frieden und ungestörter Ruhe konnte er schlafen, und brauchte nicht mehr hinunter in das Leid des Lebens, in die Schlechtigkeit der Menschen. Er hatte sich immer vorgenommen: wird's mir einmal zu bunt hier unten, so geh' ich dahinauf. Nun konnt' er ja auch gleich oben bleiben. –

Der trotzige Gedanke machte ihn ruhiger, und als die beiden Führer aus der Hütte traten, freute er sich, daß es nun weiter ging.

Noch etliche hundert Schritt vorwärts führte der schmale Felsenpfad am Gletscherabgrund entlang; dann hörte er auf. Rechts hinunter an der senkrechten Felswand ging es, über achtzig Leiterstufen, über steinige Kanten und verankertes Geröll, und über eine kurze Schutthalde auf den Gletscher. Dann diesen hinauf, in eintöniger Wanderung, über Spalten und Klüfte, auf überrieseltem Eise und zermorschtem Schnee. Christen Almer hatte dem Rainer angeboten, ihn anzuseilen, wie sie das sonst an dieser für Geübtere ungefährlichen Stelle nur mit Anfängern taten. Aber Rainer empfand keine Unsicherheit und wies das Seil zurück. Nur ungern taten ihm die gewissenhaften Männer den Willen, und beobachteten aufmerksam jeden Schritt, jede Bewegung des Ambergers, für den sie sich verantwortlich fühlten, obschon er auf eigene Rechnung und Gefahr sich ihrem Unternehmen angeschlossen hatte. Als sie aber sahen, daß er vorsichtig war, auf jeden Tritt achtete, und mit Gewandtheit, die nur die vollkommene Sicherheit verleiht, mit vorgesetztem Stock meterbreite Spalten übersprang, da beruhigten sie sich. Als sie das untere Eismeer erreichten, wo die vereisten Fluten, ehe sie sich zu breitem, glattem Flusse talwärts bequemen, in wildem Widerstreben zu zackigen Wellen sich heben, in drängendem Ungestüm sich bäumen, daß sie anzusehen sind mit ihren weißen, triefenden Kämmen und tiefen, blaugrünen Klüften, wie eine erstarrte Meeresbrandung, bogen sie in schräger Richtung nach rechts ab, auf mühevoll sich windenden und kletternden, jährlich, ja monatlich verändertem Stege, auf die wild aus den Eismassen aufsteigenden Kallifelsen zu. Hier angelangt, machten sie abermals einen kurzen Halt, um die Knie auszuruhen von dem Wege über spiegelnde Glätte, auf welcher der Fuß nicht haftet, und jedes Gleiten in Lebensgefahr bringt.

Rainers Stirn war naß geworden. Trotz der den Eismassen entströmenden Kälte brannte von oben die Sonne und die ungewohnte Muskelanstrengung machte das Blut schneller und heißer. Hier standen sie im Schatten des Eiger, der ihnen seine vereiste und verschneite Rückseite zukehrte. Vom grünen Tal, von der Welt der Menschheit war nichts mehr zu sehen. Eis, Schnee und Fels rings umher wie starrende Mauern eines göttlichen Amphitheaters; bis in den blauen Himmel hineinragend die weißen Spitzen und Zacken; in wilden Absätzen und fürchterlichen Schluchten niederfallend bis zu den mit Eis gefüllten Tälern, der großartigen Arena wilder Wetterkämpfe. – Drüben auf den Schreckhörnern lag noch die Sonne; das bläuliche Abendlicht klomm kühl und verschleiernd aus den Schluchten ihrer Gletscher empor.

Almer und Schlegel tauschten ihre Vermutungen aus über das Schicksal der Vermißten, nach deren Spur sie mit kundigen Sinnen bisher vergeblich gefahndet. Rainer lehnte gegen den Fels, stützte sich auf den Eispickel, und sah sich mit schwerem Blick ringsum. Was er sah, enttäuschte ihn. War er sonst in den Bergen umhergewandert, so hatte er sich heitre Höhen ausgesucht, aus deren sonniger Einsamkeit das Auge herniederging auf das blühende Leben, daher er kam und dahin ihn sein rüstiger Fuß mit Freuden zurücktrug. Hier stand er in einer Welt, die nichts gemein zu haben schien mit der Erde, von der er stammte. Diese Erde war nicht mehr zu sehen; der Atem jenes blühenden Lebens drang wärmend und erfrischend nicht hier herein. Keinen Ausweg fand das Auge aus den himmelansteigenden, fürchterlich schweigenden Mauern, und ihm war, als sei ihm der Rückweg in das Leben abgeschnitten. Das alles paßte zu seinem Gemütszustand. Sein düstres Gesicht sah aus, als habe er andre Eindrücke niemals aufgenommen; als sei es das Sinnbild oder das Erzeugnis der Stimmung, die über diesem toten Lande lastete. Solcher Umgebung muß man ein frisches Herz und eine mutige Seele entgegenzusetzen haben, um ihre Größe nicht zermalmend zu empfinden, sondern sie mit jauchzendem Fluge zu gewinnen. – Was Rainer gesucht hatte, war ein anderes: Sonne, Helle, Himmelnähe. Herausreißen sollten ihn die Berge aus seinem Schmerz; den Herrgott wollte er schreiten sehen über die lichttriefenden Gipfel, damit er wieder ihn fassen, an ihn glauben könne. Emporheben lassen wollte er sich aus seiner Niedergeschlagenheit, und nicht völlig zurückgestoßen werden in das trostlose Nichts, in die graue Oede stumpfen Ertragens. – Oder sah das alles nur so anders aus, weil er selbst ein anderer geworden war?

»Wir müssen weitermachen, Amberger,« rief Peter Schlegel. Und mit Händen und Füßen arbeitend, mit dem Stock stützend und mit dem Eispickel haltend, ging es an dem steilen Felsenhang empor. Die angestrengte Arbeit des Kletterns, die Notwendigkeit, auf jeden Schritt zu achten, machte sie schweigsam. An geschützten Stellen wuchs das Alprosenkraut mit kümmerlich entwickelten Stauden. Rainer empfand etwas Frohes, als er hier und da in dem dunkelgrünen Kraut ein paar tiefrote Blumen sah. Er brach ein knospendes Zweiglein, und steckt' es an seinen Hut. Warum tat er das? warum dacht' er dabei, daß er's der Barbara mitbringen könnt'? Er wollt' ja nicht wieder zurück ins Leben! – Ein paar Schneehühner flogen auf; ihr Gekreisch hallte von den eisigen Mauern droben zurück; sie flatterten hin und her; dann verloren sich die weißen Gestalten in dem unendlichen graublauen Luftraum, hoch über den Gletschern.

Am oberen Rande der Felsen angelangt, betraten sie das Eisbecken der Viescher Firne, das sich um den Felsen herum in wildzerklüftetem Sturze mit dem Gletscher vereinigt, aus dessen Tiefe sie heraufgestiegen waren. Eine Ebene dehnte sich vor ihnen aus, wie eine verschneite Wiese. Aber es war nicht grünes Gras und saftiges Kraut unter der friedlichen Decke. Eis und Fels verhüllte der weiche Flaum, der sich wohl mit dem gestrigen Unwetter hier oben gesenkt hatte, und dessen von der Sonne des Mittags beleckte Oberfläche nun im abendlichen Schatten zu erstarren begann. Eine zeitlang hatten sie ein geruhiges Wandern. Die beiden Führer zündeten ihre Pfeifen an und sprachen dies und das. Rainer wanderte mit gesenktem Blick nebenher und war nicht zum Mitreden zu bewegen.

»Warum seid ihr so still, Amberger!« fragte Christen Almer. »Gereut's euch, daß ihr mitgegangen seid? Ist euch nicht wohl zu Mut?« Rainer reckte die Glieder, deren stählerne Geschmeidigkeit den Männern Bewunderung und Vertrauen einflößte.

»Meine Kraft ist frisch genug, die ganze Nacht zu wandern,« sagte er. »Aber die Berge machen mich stumm.« Almer nickte.

»Das ist halt so; das kennt man. Alles muß man erst gewohnt werden. Unsereins, der so oft auf die Berge kommt, übernimmt's nicht mehr so. Aber die erstenmale – und nun erst gar die Fremden, die zeitlebens nur ihre Ebene geschaut haben! Ich kann's ihnen nicht verdenken, wenn sie stumm werden. Hab' schon manches Auge in Tränen gesehen so hoch oben – und das kam nicht nur von Eiswind und Schneeblende.«

»Das ist bei solchen, die's verstehen,« fiel Peter Schlegel ein. »Solche zu führen, tut gut. Aber da gibt's andre, für die sind die Berge nur geschaffen, um ihre Eitelkeit zu befriedigen, daß sie nachher prahlen können vor ihren Leuten mit ihren Heldentaten. Und wenn man solche Heldentaten aus der Nähe kennt, wie wir, dem hören sie auf, welche zu sein; denn ohne kräftige Nachhilfe wären sie nimmer geschehen. Besinnst dich noch, Almer, wie wir den Herrn aus England geführt haben auf die Jungfrau, sechs Stunden lang mit verbundenen Augen, weil er nicht hoch noch tief sehen konnte, ohne daß ihm die Knie schlotterten? Der hat viel gesehen! Aber hinauf mußte er. Gehabt hat er nichts davon, als eine grause Angst, und daß er nachher hat sagen können: ich bin oben gewesen. Wie – das wird er wohl nicht dazusetzen!« Die beiden lachten ob dieser Erinnerung; und Christen Almer meinte:

»Zum Glück gibt's wenig solche. Ich hab' wohl schon manchen geführt, von dem ich im Anfang dachte, es sei schad', daß die Berge sich öffnen müßten für so einen; und wenn er hineingekommen ist, hat's ihn doch übernommen! Freilich – die Augen darf er nicht verbunden haben!« Und wieder lachten sie.

Ich kann am End' auch nicht sehen, dachte Rainer unmutig. Das Leid hat mir vielleicht die Augen verbunden für die Herrlichkeit –

Und er hob den gesenkten Kopf und sah sich um, als wolle er die starrenden Höhen zwingen mit seinem Blick. –

Die ebene Schneefluh endigte wieder an einem Gletschersturz. Denn nicht auf einmal gelangten die gefrorenen Wasser des Uranfangs in die Tiefen. Wie der Gebirgsbach in stäubendem Fall über die Felsen stürzt, und zu ihren Füßen den unterbrochenen Weg mit glattem Fließen fortsetzt, so stürzt der erstarrte Eisstrom die Tiefen des Berges hinunter, um sich unten ein neues Bett zu suchen, darin er sich glättend weiterschiebt, und wo er abgebrochen, ragen die fürchterlichen Trümmer auf mit blauen Abgründen und triefenden Wänden. Und wenn die Sonne auf die Zacken und Spitzen scheint und an ihrer kühn ragenden Härte lächelnd und leise nagt, dann gibt es wohl ein Knallen und Bersten, ein Klingen und Dröhnen – dann springen die Eisblöcke.

Es gab hier keine Felsen, den Gletschersturz zu umgehen. Mitten hindurch mußten sie hinauf. Das Seil verband sie miteinander. Christen Almer ging zuvorderst und schlug die Stufen, darein die andern traten. Rainer hatten sie in die Mitte genommen; er tat sein Bestes, um die Männer nicht aufzuhalten. Ihre lobenden Zurufe waren die einzigen Worte, die auf diesem beschwerlichen und gefährlichen Anstieg gesprochen wurden.

Rainer dachte nicht mehr daran, daß ein Sprung, ja nur ein leichtsinniger Schritt die Gedanken wahr machen konnte, die seine Seele in frevler Verzagtheit wünschend gehegt. Mit der Notwendigkeit, alle Lebenskräfte anzuspannen, um das ersehnte Ziel zu erreichen und um mit seinem Leben nicht zugleich das seiner Gefährten zu schädigen, kam unwiderstehlich, unaufhaltsam wie eine rauschende Welle, die Lebenswonne über ihn. Ringen mit der Gefahr, der jeder sichre Schritt einen Tritt auf den lüstern gereckten Kopf gibt; ringen mit dem Tode, dessen kalter Atem aus den blauen Abgründen fröstelnd heraufweht; ringen mit der Schöpfung, als deren Herr der Mensch hineingesetzt wurde, nicht zum entkräftenden Hohn, sondern zum hochtreibenden Sporn; ringen mit der eigenen Kraft, bis man sie siegend herauszwingt aus der kämpfenden Seele, aus den angespannten Muskeln, aus dem warmen Blut und den klopfenden Eingeweiden. – Rainer dachte das alles nicht; er war viel zu völlig angestrengt, um zusammenhängend zu denken; er war ein zu einfacher Mann, um in solche Form zu bringen, was in ihm wogte und klang. Aber er fühlte das alles, mit seinen zitternden Nerven, seinem trotzig pochenden Herzen, mit seinem ganzen, frohen, mutigen, sonnigen Menschen.

Als sie oben angelangt waren, und auf ebenen Eismassen bequem und ungefährdet stehen konnten, stieß Rainer Amberger den Stock mit der scharfen Spitze in den klingenden Boden, und rief mit einer Stimme, die wie ein Triumphieren klang:

»Männer – das war schön! So möcht ich's immer haben!«

Schlegel wischte sich den Arbeitsschweiß von der Stirn und sah den Rainer wohlwollend an. Almer hielt ihm die Hand hin, und sagte, während ein eigenartiger Glanz seine guten Augen feuchtete:

»Schlagt ein, Amberger – ihr seid der unsre!«

Die Sonne war erloschen. Ueber den Spitzen schwebte rosiger Duft; höher und höher krochen die bläulichen Schatten. Die Männer trieben zur Eile.

Ueber das Firnfeld, über welches hoch oben die Eismassen des Viescher Grates herabhängen, weich heraus sich hebend aus dem blaßblauen Abendhimmel, ging der Weg auf ein Felsenriff zu, das nackt und schroff aus den Eismassen aufragte, wie eine Klippe aus schweigendem Meer. Auf diesem Riffe stand die Hütte, in der sie nächtigen wollten. – Sie legten den Weg langsamer zurück, als sonst, weil sie immer wieder alle Sinne anstrengten, etwas zu entdecken, das Kunde gäbe von dem Verbleib der Vermißten; ein Werkzeug, ein Kleidungsstück, ein Notzeichen oder einen Hilferuf. Die Spuren ihrer Füße mußte das gestrige Wetter, das allem Anschein nach mit Regen, Schnee und Sturm hier oben gehaust hatte, vertilgt haben.

Es fing schon an zu dunkeln, als sie das Riff erkletterten, an dessen steilsten Abhang sich die Hütte schmiegte wie ein Schwalbennest, weil es der geschützteste war. In den Felsspalten und an schattigen Stellen lag frischer Schnee; wo ihn tagsüber die Sonne zu schmelzen begonnen, war das Gestein vereist; denn es war empfindlich kalt hier oben. – Vor der geschlossenen Tür war der Schnee zu einer knietiefen Schanze aufgeweht. Almer stand davor und betrachtete sie nachdenklich.

»Hier ist niemand gewesen,« sagte er. »Hätten sie vor dem Unwetter die Hütte noch erreichen können, so hätten sie hier Zuflucht gesucht und hätten es abgewartet.«

»Das ist ein ungutes Zeichen,« sagte Schlegel, der dazu getreten war, mit bedenklichem Kopfschütteln. »Auf die Hütte hatt' ich meine Hoffnung gesetzt, daß sie uns eine Fährte angeben möcht! Wenn das Wetter sie oben erreicht hat – dann sei Gott ihnen gnädig!«

»Vielleicht, daß wir innen etwas finden,« meinte Rainer. »Wenn sie die Hütte schon verlassen gehabt hätten, ehe es ausbrach –«

»Dann wären sie weiter unten verunglückt,« rief Almer, »und wir suchten vergebens!«

Mit Händen und Füßen schaufelten sie den Schnee fort und traten ein. Aufgeräumt und ordentlich alles; aber das wollte nichts sagen. Kein Führer verläßt die Hütte, in der er mit seinen Leuten geruht, ohne vorher alles in die vollkommenste Sauberkeit und Ordnung zu bringen.

»Das Klubbuch!« sagte Christen Almer. Von einem Deckbalken nahmen sie den abgegriffenen Band, darein jeder, der die Gastfreundschaft der Hütte genossen, seinen Namen eintrug. In allen Sprachen und Schriften waren die Seiten, meist mit Bleistift und oft völlig unleserlich, beschrieben. Rainer schlug Feuer an und entzündete einen Lichtstumpf. Sie beugten sich über die letzte Seite. Seit fünf Tagen hatte keiner mehr seinen Namen eingetragen. –

»Also auf morgen,« sagten die wackren Männer. Dann machten sie sich daran, ein Abendbrot und das Lager für die Nacht herzurichten. Rainer half ihnen; er war immer noch schweigsam, aber nicht mehr so finster; er fühlte sich erfrischt, trotz einer großen Gliedermüdigkeit, die sich fühlbar machte.

Als sie gegessen, und die anderen sich auf die Heuschütte streckten, trat Rainer noch einmal vor die Tür, die er hinter sich schloß, denn es war kalt; lehnte sich an die hölzerne Wand der Hütte, und sah sich um in der Welt, nach der er sich so viel gesehnt, und die er nun nicht ganz verstehen konnte.

Es war Nacht geworden. Am hohen Himmel stand der Mond und sein Licht schwamm wie flüssiges Silber um die weißen Spitzen. Die sternendurchwirkte Unendlichkeit wölbte sich über dem Gebirge. Der Schnee leuchtete hell. Schwer lagerten die schwarzen Schatten der Berge auf den weiten Eisflächen und ragten scharf abgegrenzt, in phantastischen Formen an den Hängen empor. Nur wenige Felsgrate und schneelose Wände durchbrachen die weißen Gewänder, die von dem langgestreckten Eigergrat und den leuchtenden Viescherfirnen herniederfließend, den Blick nach drei Seiten begrenzen, der nach Osten zu, über den Abgrund, aus dem sie heraufgestiegen, hinwegschweifend, an dem schwarz und düster aus zerklüfteten Gletschermassen emporwachsenden Schreckhorn eine majestätische Grenze findet.

Stille füllte den endlosen Raum; eine solche Stille, daß es den Mann, der einzig wachte darin, überschauerte; nicht die Stille schlafenden Lebens und ruhender Unrast; auch nicht die Stille starrenden Todes und öden Nichtses. Die Stille der Ewigkeit; eines jahrtausendelangen Erinnerns an das Werden der Welt; eines jahrtausendelangen Wartens der Erlösung und Befreiung.

Rainer Amberger empfand etwas Seltsames. Alles, was er je gelebt, geliebt und gelitten, war ausgelöscht in seiner Seele; was ihn beglückt, rührte ihn nicht mehr; was ihn verwundet, schmerzte ihn nicht mehr; was er gewollt und erstrebt, bewegte ihn nicht mehr. Das alles lag so tief unter ihm, wie das blühende Tal unter dem schimmernden Firn. Er fühlte es nicht mehr – als sei er, der warmblütige, lebende Mensch ausgelöscht durch einen Hauch der Ewigkeit in dieser fürchterlichen, seligen Stille, wie ein Licht im Sturm, oder im Meere. Er fühlte nur noch diese Stille, und in ihr das Wehen eines Odems, das Schreiten eines Fußes, das Walten eines überirdischen Starken.

Der Herrgott ging über die Berge.

 

* * *


 << zurück weiter >>