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Um zehn Uhr kam der Arzt. Er konnte nur noch feststellen, daß der Tod Ulrich Ambergers als eine unmittelbare Folge der erhaltenen Stichwunde, welche die Lunge zerrissen, eingetreten sei.

Rainer ließ sich diese Erklärung schriftlich geben, und hatte mit dem Manne noch eine längere Unterredung, bei welcher Barbara nicht zugegen war.

Den ganzen Tag wurde das Haus nicht leer von Besuchern. Rainer tat, was er konnte, um seiner Schwägerin die Leute abzunehmen. Seine gehaltene, ernste Art ließ weder lautes Jammern noch zudringliches Fragen aufkommen, so daß trotz allen Kommens und Gehens eine wohltuende Ruhe herrschte.

Er hatte den Toten sauber gebettet, in der Stube, wo er gestorben war. Barbara war zu den Kindern auf die Stiege gezogen. Rainer machte sich in der Kammer ein Lager zurecht; er wollte dableiben, bis das Begräbnis vorüber sein würde. Er bestellte beim Tischler den Sarg, und das Begräbnis beim Pfarrer, und bat ihn, die Witwe am Nachmittag zu besuchen.

Er selbst ging hinunter nach Burglauenen zum Bezirksrichter. Es war schon völlig dunkel, als er müde und erschöpft heimkam.

Von solchen, die ihn auf der Dorfstraße ansprachen, erfuhr er, daß der Uttdörfer in aller Morgenfrühe auf und davon gegangen sei. Rainer beunruhigte sich darüber nicht. Finden würden sie ihn schon; ob ein weniges früher oder später – was lag daran.

Sein Herz fühlte keine Rachegelüste und keine Schadenfreude. Es war der Weg der Sühne und der Gerechtigkeit, daß der Uttdörfer vors Gericht kam. Darum hatte er ihn angezeigt; seine persönlichen Empfindungen hatten nichts damit zu tun und blieben unberührt davon.

Dunkle, stille Tage waren auf dem Amberger Hof; sehr still, trotz der mancherlei äußeren Unruh' und Geschäftigkeit. Es wurde wenig gesprochen; jeder ging schweigend seiner Arbeit nach; die Kinder drückten sich scheu in den Winkeln herum. Vormittags ging Rainer ein paar Stunden nach dem Holderhof, um da nach dem rechten zu sehen; nachmittags und abends leistete er seiner Schwägerin Hilfe und Gesellschaft. Viel zu machen war nicht mit ihr. Für Zureden war ihr Schmerz nicht zugänglich; aussprechen konnte sie sich nicht. Aber Rainer hatte doch die Ueberzeugung, daß es ihr lieb war, ihn um sich zu haben. Sie saß viel und lange neben ihres Mannes Leiche; aber ihre Gedanken dabei behielt sie für sich. Wenn Rainer das Haus verließ, ergriff sie eine große Unruhe; dann konnte sie nirgends stillsitzen, sondern irrte planlos und zwecklos umher.

Am Morgen des Begräbnisses war der Alois verschwunden und nirgends zu finden. Als Barbara über den Hof ging, um im Stall nach ihm zu suchen, hörte sie aus der Ecke, wo die Hundehütte stand, ein leises Wimmern. Sie ging hin –

Der Junge war in die Hütte gekrochen, hatte den Hals seines zottigen Freundes umklammert und schluchzte in das braune Fell hinein. Und das Tier hielt ganz still, und sah auf den zuckenden Kinderkörper nieder, als wolle es sagen: Du hast schon recht zu weinen!

Barbara fühlte, wie sich in ihrer Seele etwas löste.

»Alois – komm hervor!« sagte sie mit erstickter Stimme. Zögernd, immer noch heftig schluchzend, kroch das Kind heraus. Sie hob es auf, und es warf sich leidenschaftlich in ihre Arme.

»Was machst du denn hier – was ist denn? –« fragte Barbara.

»Ich hab' gesehen,« stammelte der Knabe in abgerissenen Tönen, »wie sie den Vater eingesperrt haben in den schwarzen Kasten! Der Vater soll hier bleiben, Mutter! Ich will zum Vater!«

»Der Vater kann nicht hier bleiben, mein Kind. Der liebe Herrgott – –« Barbara brach ab. Sie kniete hin, weil der Junge so gar schwer an ihrem Halse hing. Fest umschlungen, eng aneinander gedrückt im Schnee und Winterkälte, weinten sie sich einer am Herzen des andern aus. Es waren die ersten Tränen der Frau. Das Kind hatte sie ihr gelöst.

Das ganze Dorf füllte den Hof, als die Totenfeier begann, und folgte dem Amberger zu seiner letzten Ruhestätte. Hinter dem Sarge gingen Barbara und Rainer; der hatte den Alois an die Hand genommen; die Kleinen waren zurückgeblieben.

Es wurde viel geweint bei der schönen und beweglichen Rede, die der Pfarrer am Grabe hielt; sogar bärtige Männer wischten sich die Augen. Nur Barbara weinte nicht, sondern starrte mit bleichem Gesicht vor sich hin. – Als die ersten, hartgefrorenen Schollen auf den Sarg niederpolterten, schrie der Alois, der mit steigender Angst alle die schrecklichen Vorgänge beobachtet hatte, laut auf, und umklammerte den Rainer, sein Gesicht an dessen Rock versteckend. Rainer legte den Arm um ihn und drückte ihn fest an sich. Eine Träne fiel schnell und schwer in das dicke Kinderhaar, und der Mann, der sie nicht hatte zurückhalten können, gelobte sich in seinem Herzen:

»Du armes Waislein, ich will dir ein Vater werden, an dessen statt, der es nicht länger hat sein dürfen. Dazu helfe mir Gott!« –

Zwischen den Geringsten und Hintersten der Trauergemeinde stand eine tief vermummte Gestalt, deren Augen sich nicht trennen konnten von dem Mann und dem Kinde; deren Lippen die frommen Lieder nicht mitsangen, weil die Schuld dessen, mit dem sie sich eins fühlte, in ihrer Seele brannte: die aber doch nicht hatte fortbleiben können, weil das Mitleid und die Liebe in ihr mächtiger waren, als alles andre. Das war Margred Uttdörfer. –

Diese Nacht blieb der Rainer noch in seines Bruders verödetem Haus. Am andern Morgen zog er wieder hinauf nach dem Holderhof, und alles ward, wie es vordem gewesen. Nur, wo sonst eine schmerzvolle Spannung seine Brust beengt und erregt hatte, da war es jetzt ruhig, öde und einsam; und das Lachen, das er trotz aller Sorge doch immer noch nicht verlernt gehabt, war ihm vergangen.

Barbara verkaufte Vieh, um Geld zu schaffen, das sie dem Uttdörfer, oder da dieser nicht zu Hause war, der Margred wiedergeben mußte; sie wußte nicht, wo sie es sonst hernehmen sollte, denn übrig war nichts. Grade, als sie den Handel abschloß, kam der Rainer auf den Hof. Sie hatte ihm nichts davon gesagt; er sollte nichts erfahren, damit er nicht auf den Gedanken käme, ihr auszuhelfen. Nun erfuhr er es doch.

Sie wurde dunkelrot, als sie ihm die Wahrheit sagte und quälte sich die Worte nur so aus dem Munde. Rainer schüttelte mißbilligend den Kopf.

»Wär's denn nicht anders möglich gewesen?« sagte er. »Ich weiß, du hast schon einmal nichts von mir nehmen wollen; aber nun ist ja alles anders –«

»Nein, es ist nicht anders'« unterbrach sie hastig. »Es sind dem Uli seine Schulden, und die sind meine Sach'. Soviel ich kann, nehm' ich's auf mich allein.«

Daß es der Uli nicht anders gewollt, sagte sie nicht; sie wußte, es würde ihn kränken; und sie wollt' ihm das ersparen von seinem Bruder. So nahm sie auch den Abweis auf sich allein.

Rainer stand auf seinen Stock gelehnt und sah zu, wie die Kühe fortgeführt wurden. Er dachte an jenen Sommertag, wo sie den Stier von der Alp fortholten. Wie viele waren ihm schon gefolgt!

»Barbara,« sagte er, »ich will dir nicht dreinreden, wo du's nicht wünscht. Aber so darfst du nicht fortwirtschaften!« Sie ließ trübe den Kopf hängen und besah das Geld in ihrer Hand.

»Es ging nicht anders. Aber es ist das letztemal gewesen. Nachher werd' ich mich einrichten und sparen. Ich werd' schon wieder hochkommen.« Sie legte die Goldstücke aneinander zu einem blanken Röllchen.

»Wer soll es ihr bringen?« fragte sie bedrückt.

»Schick's ihr durch den Knecht und schreib' ihr dazu. Geheim halten kannst du's doch nicht, nachdem es einmal im Wirtshaus besprochen ist.«

Nein, im Gegenteil. Wenn sie alle wußten, daß der Amberger dem Uttdörfer Geld schuldete, so war's gut, sie erfuhren auch, daß die Schuld getilgt war. –

Nach dem Weihnachtsfest, das still und freudlos vorübergeschlichen war, sagte Barbara zum Schwager:

»Ich kann's nicht mehr aushalten, Rainer. Ich muß fort. Ich möcht ein wenig zur Mutter gehen.«

Es war einer der ersten Tage im neuen Jahr. Die Schneedecke draußen war noch dicker, die Welt noch weißer und einsamer geworden. – Sie waren zusammen in der Kirche gewesen und Rainer blieb zum Mittag auf dem Ambergerhof. Er saß ihr an ihrem Tisch gegenüber, und überlegte ihre Worte.

Ja, es würde ihr sehr gut sein. Sie verstummte und vertrocknete hier völlig in ihrer klaglosen Trauer. Sie sprach sich zu keinem aus, auch nicht zu ihm. Vielleicht konnt' sie's zur Mutter.

»Ja, geh nur,« sagte er. »Die Mutterlieb' wird dir gut tun. Es sind nicht nur die Kleinen, denen sie not tut; die Großen haben sie oft viel nötiger.«

»Ich hab' gedacht, daß ich Christen und Mareili mitnehmen könnt',« fuhr sie nach einer Pause fort. »Der Alois freilich – der müßte hierbleiben, wegen der Schule. Könnt'st du den Buben wohl bei dir aufnehmen, Rainer?«

Es war das erstemal in dieser ganzen Zeit, daß sie ihn um etwas bat, daß sie Vertrauen zu ihm zeigte. Und sie hätte ihn kaum um Lieberes bitten können. Er hing so an dem Kinde.

Mit tausend Freuden sagte er's ihr zu, und Alois jubelte; es schien ihm gar nicht schwer zu werden, sich von der Mutter zu trennen, wenn er beim Ohm Rainer bleiben durfte.

»Und dann tust du wohl auch ab und an einmal nachsehen auf dem Hofe,« bat sie weiter. »Viel zu versehen gibt's ja jetzt nicht.« Auch das versprach er. Und dann meinte er, es sei am Ende das Beste, wenn er für die Zeit ganz herunterziehe. Es sei doch wohnlicher und besser hier für das Kind, und es habe nicht so einen weiten Schulweg, als von droben; es könnte schlecht Wetter kommen, und weicher Schnee. Barbara war mit allem einverstanden.

Wenige Tage später packte sie die Sachen für sich und die Kleinen, und fuhr in einem Schlitten, den ihr Rainer bestellt hatte, mit lustigem Klingklang in den sonnigen Wintertag hinaus; die Landstraße gen Interlaken bis Zweilütschinen, und dann links hinein in die enge Waldschlucht, bis Lauterbrunnen zur armen Klöpplerin.

Rainer bezog das Zimmer auf der Stiege, das ihn schon einmal so lange beherbergt hatte, und nahm den Knaben zu sich hinauf. Die andern Räume schlossen sie zu. Essen taten sie in der Küche.

Wenn das Kind nicht gewesen wäre, würde es ihm schwer gefallen sein, in dem ausgestorbenen Hause auszuhalten. Es war nur ein einziger Knecht auf dem Hofe, und die Ställe standen halb leer. Der Hund schlich herum, als suche er etwas, schnüffelte an allen Ecken und Türen und winselte oft gar kläglich. Auf Mensch und Vieh schien die Einsamkeit zu lasten. Nur das Kind spürte nichts davon, war fröhlich und ohne Harm, denn es hatte ja den Ohm Rainer.

Der war aber auch zu gut zu ihm! Schnitt ihm das Brot und das Fleisch zurecht, sorgte dafür, daß er warm angezogen war, wenn er hinauslief, und daß er nachts ordentlich zugedeckt lag; half ihm bei seinen Schularbeiten, schnitzte ihm einen hölzernen Säbel und eine leichte Schneeschippe für seine schwachen Arme; schneeballte sich mit ihm, und lehrte ihn, auf kleinem Holzschlitten den beschneiten Wiesenhang hinunterzurutschen, daß es war, als habe man Flügel, so schnell ging es. Manchmal schlug der Schlitten um; dann versank der Alois in dem weichen Teppich und die Flocken wirbelten hoch auf; wie er dann jauchzte und wie ihm die Augen leuchteten in dem gesunden Knabengesicht! – Manchmal mußte der Rainer ihn ganz erstaunt ansehen, weil er seiner Mutter so ähnlich war. –

Am schönsten aber war es, wenn der Ohm Rainer mit ihm auf den Kirchhof ging, an des Vaters Grab. Das deckte jetzt auch der tiefe weiße Schnee, und das war gut, denn wegen des Frostes hatte man den Hügel noch nicht glätten können, so daß die harteckigen Erdstücke nur zu einem unordentlichen Haufen getürmt lagen; so unter dem Schnee aber merkte man nichts davon. – Da standen sie denn, so lange es der Kälte wegen auszuhalten war. Der Mann erzählte dem Kinde von dem Vater, lehrte es für ihn beten, und für sich selber, daß es ein guter und tüchtiger Mensch werden möge, wie er es dem lieben Vater und seinem Andenken schuldig sei. Alois fing dann gewöhnlich an zu weinen; aber es waren fruchtbare und selige Tränen, und er liebte diese stillen Feierstunden. –

Eines Tages bekam Rainer Amberger eine Vorladung als Zeuge vom Gericht in Interlaken. Bis zu dem angesetzten Termine waren nur noch zwei Tage Frist.

Rainer ging zum Pfarrer, und bat, ob er ihm wohl möchte den Knaben in Obhut nehmen, für zweimal vierundzwanzig Stunden. Er hätte kommen können, zu wem er gewollt hätte mit seiner Bitte – es wäre keiner gewesen, der sie ihm hätte abschlagen mögen. Und so ward sie ihm auch hier von Herzen gewährt.

Vor Tagesanbruch noch lieferte er den Knaben im Pfarrhaus ab, und benutzte eine Fahrgelegenheit hinunter zur Stadt.

Pünktlich war er zur Stelle. Aber er mußte lange warten, und obgleich der Angeklagte geständig gewesen, und die Verhandlungen auf keinerlei Schwierigkeiten stießen, zogen sie sich doch in die Länge und es war Abend und dunkel, als der Bauer entlassen wurde.

Das Urteil war gefallen und lautete auf fünf Jahre Zuchthaus.

Rainer Amberger fühlte sich schlecht, als er das Gerichtsgebäude verließ; er war ausgehungert, und ermattet vom langen Stehen, vom angestrengten Zuhören und Nachdenken, und von der Gemütsbewegung. All die traurigen Erlebnisse hatte er noch einmal zu durchleben gehabt; seine innerlichsten Schmerzen wurden von fremden Männern sachlich und schonungslos besprochen; seines Bruders Name öffentlich genannt in einer häßlichen, wüsten Geschichte.

Nun stand er draußen auf der dunklen Straße, allein und fremd unter all den Leuten, die hin und her an ihm vorbeigingen. Er wünschte, der Alois möchte angesprungen kommen; wie hätte ihm das jetzt gut getan! Er war drauf und dran, sofort den fünfstündigen Heimweg anzutreten. Aber das war unsinnig; mitten in der Nacht würde er heimkommen, und er war jetzt schon zum Umsinken müde.

Er entschloß sich, über Nacht hierzubleiben, zeitig zu Bett zu gehen, und am andern Morgen früh aufzubrechen.

Sobald es hell wurde, machte er sich auf den Weg. Er dachte an den Morgen, wo er mit dem Bruder die selbige Straße gegangen war; wie weit lag das zurück!

In schweren Gedanken erreichte er Wilderswyl, ohne sich viel umzusehen. Da merkte er an dem helleren Glanz in der Luft, daß die Sonne aufging.

Wie schön war diese winterliche Welt, diese weißen Berge mit den rosenfarbenen Morgenschleiern auf ihren hohen Gipfeln! Wie rein war die Luft, und wie kraftvoll strömte sie von jenen heiteren Höhen hernieder! Rainer atmete sie tief ein; sie machte ihm neue Lebenslust.

Ein Gedanke kam ihm. Er konnte die breite Landstraße, die sich in endloser Windung das Tal hinaufzog, verlassen, und konnte gleich hier links steil bergan, über die Schynige Platte und das Faulhorn nach dem Grindelwald übersteigen. Der Weg war beschwerlich und weit; aber er spürte auf einmal einen unwiderstehlichen Drang, hoch über allem Menschlichen, ganz allein in jener blendend hellen, schweigsam lächelnden Welt herumzustreifen. Es würde ihm gut tun, grade heut, nach dem gestrigen Tage und nach all den letzten Wochen. Er war den Weg in der guten Jahreszeit früher oft genug gegangen; er würde ihn auch jetzt finden, so verschneit er war. Und der Schnee war fest und trug über. Wenn man nur die Richtung kannte. Er überlegte nicht lange mehr und folgte seiner Sehnsucht.

Kein Mensch begegnete ihm; aber grade diese Einsamkeit war schön. Niemand sprach zu ihm, als die Berge, bei denen sein nach Erquickung dürstendes Gemüt heut zu Gast gehen wollte.

Durch den verschneiten Wald kam er höher und höher, bis er die Kahlung des felsigen Gipfels nach dreistündigem Steigen erreichte. Die im Sommer von Fremden überfüllten Wirtshäuser lagen still und verlassen, mit geschlossenen Fensterläden. Ueber den tief verschneiten Vorplatz, den die Sonne grell beschien, zog sein Fuß eine breite Spur. Auf einem Felsblock, der am Wege lag, machte er die erste Rast.

Wie tief unter seinen Füßen lag nun schon die unruhige Welt! Wie wenig bedurfte es, sich über sie zu erheben, daß man, selber in himmlischen Glanz und schweigenden Frieden gehüllt, die Not und Mühsal da unten nur noch sah wie einen grauen Schatten, über den längst die Sonne mit ihrem goldtriefenden Flügelschlage gesiegt hat. Und in welch einer Gesellschaft war man hier oben! Lauter Himmelssäulen, lauter Ewigkeitswächter. Je höher man steigt, je völliger kommen sie zum Vorschein. Und dann stehen sie da rings umher, und tragen die Heiligkeit Gottes auf ihren unbefleckten Häuptern.

Keine Wolke trübte den Himmel; kein Wind bewegte die Luft. Zu seinen Füßen, ein bläulicher Abgrund, lag das Lütschental. Und hinter den Vorbergen, die es jenseits abschnitten, lag in einem tiefen, steilen Grunde Lauterbrunnen. Er dachte daran, daß er auch dort herum hätte gehen, und der Barbara Bescheid bringen können, was gestern gewesen und wie alles geworden sei. Aber dazu war wohl ein andermal Zeit.

Ein wenig links von dem Gipfel, hinter dem tief unten die einsame Frau ihr Leid zu überwinden sich mühte, stiegen die weißen Schnee- und Eismassen der Jungfrau in den Himmel hinauf, hoch hinweg über alle andern. Das sah nun Barbara alle Tage, in nächster Nähe. Das mußte ihr gut tun. Jedem Menschen, dessen Seele dunkel und von irgend einem Weh zerrissen ist, muß es gut tun, wenn er so etwas Helles und Heiliges alle Tage vor Augen hat.

Wieder regte sich in Rainers Brust das ungestüme Verlangen.

»Einmal muß ich doch hinan zu dir, du große Königin! es läßt mir keine Ruhe!«

Er stärkte sich mit Essen und Trinken aus seinem Rucksack. Dann ging er weiter. – Bald konnte er sich an den schmalen Felsenpfad nicht mehr halten, der völlig unkenntlich, von harten schrägen Schneemassen verdeckt, dem Fuß keinen Halt und dem Auge keine Richtung bot. Er hielt sich immer auf der Höhe, auf dem Kamm, der durch wildes Felsgeröll in baumloser Hochgebirgswelt zackig und schmal dahinläuft, bis er sich an steil emporsteigenden Wänden verliert. Nun gab der vereiste, mit kühngeschwungenen Schneebrücken überspannte Sägisbach dem Wandernden die Richtung an. Sein munteres Rieseln war verstummt. Wo er im Sommer über das Gestein in plätscherndem Fall vorwärtsstürzte, hingen dicke Zapfen und Fahnen von krystallen glitzerndem Eise.

Es kostete einige Mühe, bis Rainer die Stelle gefunden hatte, wo der dem Bach solange zur Seite bleibende Reitweg sich von ihm trennte, um rechts längs der Felswände hinzukriechen, während der Bach in schnellen Stürzen nach links sich wendet, zum Sägistalsee hinunter, der zwischen die Gipfel gebettet nur an der ebenen Schneefläche erkenntlich ist, die seinen vereisten Spiegel bedeckt.

Bald kommt eine Senkung in den Felsmauern zur Rechten. Der Weg wendet sich scharf um, und durchbricht den steinernen Wall. Da öffnet sich vor dem Auge das ganze waldige Hochtal und in seinem geschützten Grunde die Häuser von Gydisdorf. Dahinten schimmern die Viescherhörner mit ihrer Gletscherschleppe, und darüber hinweg lugt das Finsteraarhorn wie ein weißer Zuckerhut.

Dem Rainer ist, als brauche er nur die Flügel auszubreiten, alle Schwere ist von seiner Seite gewichen, und eine unbesiegbare Frische ist mit der Luft, die von jenen Bergen weht, über ihn gekommen. Nicht das Schlechte, das Unglück und die Schuld sind ja die Hauptsachen in dieser Welt und die Sieger in diesem Leben; sondern das Gute, das Glück und der Frieden; Mut, Kraft und Heiterkeit. Das alles sinkt Tag für Tag mit segensreicher Schwere und leuchtender Reinheit von den Bergen herunter, und die Schatten der Täler kriechen zusammen vor dem sonnigen Licht. Es ist immer da, es möchte alles durchleuchten – man muß ihm nur aufmachen, Haus und Herz!

Rainer stand lange still und sah sich um in der Welt, die ihm ein großer Festsaal Gottes dünkte. Das Licht, das diesen Festsaal erhellte, strahlte zurück aus seinen Augen.

Tief unter ihm, am Fuß fast senkrecht abstürzender Hänge, lag die Bußalp, so begraben im Schnee, daß von den niedrigen Gebäuden nicht viel mehr zu sehen war, als die breiten flachen Dächer. Da hinunter nahm er den Weg, in langen Sprüngen über die abschüssigen Schneewellen. Der stumpfe Faulhornkegel blieb zur Linken und trat immer weiter zurück, wuchs immer höher hinauf über den Weg, den der Mann nahm.

Hier, auf dem Südabhang hatte die Sonne den ganzen Tag geschienen und die harte Oberdecke erweicht. Bei jedem Schritt sank Rainer bis an die Knie in den tiefen Schnee. Das Springen und Versinken, das Gleiten und sich wieder Herausarbeiten machte ihm ein knabenhaftes Vergnügen. So hatte er's lange nicht getrieben, lange nicht in solcher Weise die Winterfreude genossen.

Bei den Almhöfen blieb er stehen. Er dachte an den Sommer, wenn hier oben wieder die Kühe weiden und das würzige Gras duften und an ihren kurzen Stielen die kräftig gefärbten Blumen blühen würden: wenn die Wasser springen, und die Sennen ihre fröhlichen Jodler im warmen Sonnenschein erklingen lassen; wenn die Welt grünt und das Herz mit dem Sommer um die Wette lacht. Er freute sich auf den Sommer.

Und so, im Ueberwinden des Erlebten, im Genießen des Gegenwärtigen und in der Freude auf das Zukünftige, kehrte er heim als ein starker und glücklicher Mann. –

Er betrat die Landstraße bei den ersten Häusern des Dorfes. Es war noch Tag, und viele begegneten ihm. Man sprach ihn an und fragte ihn nach dem Ergebnis seines schweren Ganges. Und man wunderte sich über die hellen Augen, mit denen er willig den gewünschten Bescheid gab. Man dachte: er freut sich, daß der Bruder gerächt ist und der Täter seine Strafe hat; niemand wußte, daß diese Helligkeit einen ganz andern Grund hatte, als befriedigten und gerechten Haß.

Rainer ging zuerst ins Pfarrhaus. Alois spielte auf dem freien Platz davor mit des Pfarrers Kindern und lief dem unerwartet früh Heimkehrenden jauchzend entgegen. Auch Rainer hätte ihm beinahe zugejauchzt. Er schwang ihn hoch empor in seinen kräftigen Armen. Dabei fiel ihm wieder die Aehnlichkeit mit der Mutter auf. – Er sah ihn nachdenklich an, küßte ihn und ließ ihn laufen.

Auch der Pfarrer wunderte sich, als er Rainers Bericht vernahm.

»Mann,« sagte er, »ihr habt einen schweren Tag hinter euch!«

»Ja,« erwiderte Rainer aufatmend. »Aber nun ist's zu Ende.« Hätte man ihn gefragt, was zu Ende sei – er hätte es kaum in Worten zu sagen vermocht. Aber der geistliche Herr war ein Menschenkenner, und darum hatte er es nicht nötig, zu fragen. –

Später, als es völlig Abend geworden und der Knabe fest eingeschlafen war, ging Rainer Amberger noch einmal aus, obschon er an diesem Tage genug gelaufen und rechtschaffen müde war. Aber er hatte noch eine Aufgabe, deren Erfüllung er nicht auf den kommenden Morgen verschieben mochte.

Er ging hinunter vor des Uttdörfers stilles Haus und pochte mit fester Hand an die verschlossene Türe. Vorsichtig wurde sie ein wenig geöffnet, und aus dem dunklen Flure fragte Margreds Stimme:

»Wer ist da?«

»Ich – der Rainer Amberger.«

Ein leiser Ruf des Schreckens oder Staunens; die Hausflur öffnete sich und ließ ihn ein. Ohne ihn anzusehen, ging Margred voraus und öffnete auch die Stubentür. An den Tisch gelehnt, zitternd vor Angst, blickte sie ihm entgegen und sagte kein Wort. Er machte die Tür fest hinter sich zu, und trat vor sie hin. Mitleid und Güte verschönten sein Gesicht.

»Uttdörferin,« begann er, »ich habe euch eine Nachricht zu bringen. Ich habe gestern Gerichtssitzung gehabt wegen meines Bruders. Euer Mann ist verurteilt – zu fünf Jahren Zuchthaus.«

Margred verbarg das Gesicht in den Händen und senkte den Kopf ganz tief, als sei sie mit ihm gerichtet. Ihr Anblick jammerte ihn.

»Gott hat euch eine schwere Prüfung auferlegt,« sagte er weich. »Wenn ihr einen Schutz oder eine Hilfe braucht in eurer Einsamkeit – dann bitt' ich, daß ihr euch an mich oder an meine Schwägerin wendet.« Da fing sie an zu schluchzen.

»Ich kann euch leider keinen Gruß ausrichten,« fuhr er fort. »Ich hab' ihn zwar gesehen; aber sprechen konnt' ich ihn nicht –« Sie fuhr auf.

»Ihr habt ihn gesehen?! O, sagt mir, wie sah er aus?«

»Sehr ruhig,« berichtete Rainer. »Er hat alles zugegeben und nicht versucht, sich herauszureden.« Sie schüttelte sich. Dann zog sie einen Stuhl herbei.

»Setzt euch,« bat sie. »Erzählt mir alles.« –

Es war wohl eine halbe Stunde vergangen, als er sich wieder erhob. Margred versuchte nicht, ihn länger zu halten.

»Ich dank' euch von ganzem Herzen,« sagte sie, »daß ihr zu mir gekommen seid und mir die Nachricht gebracht habt. Es ist doch besser so, als wenn ich sie mir von der Straße hätte holen müssen.« Sie begleitete ihn auf den Flur.

»Noch eins –« begann sie ein letztesmal, »ob ich ihn werde besuchen dürfen?« Er zuckte die Achseln.

»Ich weiß es nicht. Ihr müßt beim Gericht um die Erlaubnis einkommen.« Sie lehnte sich an die Wand, als ob ihr schwach würde.

»Rainer,« sagte sie, »ich bin einmal sehr schlecht gegen euch gewesen, aber in diesen Tagen zahl' ich euch eine schwere Buße. Nun werd' ich Zeit haben, zu knieen und abzubitten –«

»Laßt doch,« wehrte er. »Das ist lange aus und vorbei.«

»Die Leut' glauben alle,« fuhr sie fort wie in jäher Besorgnis, er möcht ihre Worte etwa mißverstehen, »ich hätt' ein schweres Leben und wär nie so recht froh geworden – und ihr glaubt es auch. Aber ich sag' euch, ich lieb' den Anselm heut noch grad so wie an jenem Tage – und nun, wo sie mich von ihm getrennt haben, ist mir, als flösse mein Herzblut hin, und ich könnt' es nicht stillen und müßt mich verbluten. – Aber ich darf nicht sterben; ich will nicht sterben; ich muß leben. Denn wenn er zurückkommt, dann muß ich wieder da sein – für ihn.«

Ihre verweinten Augen richteten sich in die Ferne mit einem traurigen Aufleuchten. Rainer sah sie fast ehrfürchtig an.

»Wer so liebt, wie ihr, kann nie ganz unglücklich werden.« Dann drückte er ihr die Hand und ging.

Langsam stieg er zum väterlichen Hofe hinauf. Was er in dieser Stunde erlebt hatte, das war wie ein Strahl von dem heiligen Licht, der von den Bergen herniedergesunken und in diesem Unglückshause haften geblieben war. Er dachte an den Tag, an dem er Margred hatte aufgeben müssen, und er empfand heut eine tiefe Befriedigung darüber, daß er es getan hatte. Er hatte es damals nicht verstanden und nicht geglaubt, daß es für einen von ihnen dreien gut und besser so war. Heut sah er es ein.

*

Erst im März, als der Schnee zu schmelzen begann, kam Barbara mit ihren Kindern nach Gydisdorf zurück. Rainer, den sie von ihrer bevorstehenden Heimkehr benachrichtigt hatte, ließ das ganze Haus säubern und den Ofen in der Stube heizen. Blumen gab es noch nicht; so schnitt er Tannenzweige in seinem Waldstück und nagelte sie über die Türen.

Er hatte aus eigener Machtvollkommenheit eine ordentliche Magd gemietet, die bereits zugezogen war; Barbara sollte sich nicht mehr soviel quälen, ganz allein mit einem groben Knecht. Nun stand die stramme Dirne und putzte die Fenster und scheuerte das Kochgerät, daß es eine Lust war.

Die Sonne schien so warm und hell, als wolle sie in einem einzigen Tage Frühling machen. Alle Rinnsale und Bächlein schwollen, über alle Hänge tropfte und rieselte das Wasser; in großen Wellen rutschte der morsche Schnee über die abschüssigen Felsen, und in den Schluchten donnerten die Lawinen. Die krystallenen Eisbogen, die der Winter über die Lütschine gespannt, stürzten zusammen; auf dem Rücken der geschwollenen Fluten trieben die zackigen Schollen talwärts, bis sie schmolzen oder an den feuchten Ufern strandeten. In solcher Sonne mußte alles tauen; solcher Sonne konnte kein Herz sich verschließen, und wenn es noch so sehr in Gram und Einsamkeit verdunkelt und verhärtet war.

Im Walde über dem Holderhof sang eine voreilige Amsel das erste Frühlingslied. Rainer Amberger, der mit dem Knaben durch diesen Wald gegangen kam, sang mit. An eben demselbigen Tage kam Barbara zurück.

Sie war verändert. Das Stumme und Starre war von ihr gewichen, wie das Eis von den Bächen. Nicht lange würde es dauern, und neues Leben würde grünen und blühen auf der Flur, die der Winter verödet.

Rainer hatte sie in der ganzen Zeit nicht gesehen. Er hatte verschiedenemal nach Lauterbrunnen gehen wollen, um ihr den Bescheid vom Gericht zu bringen; aber immer hatte er es im letzten Augenblick gelassen, bis er ihr endlich brieflich mitteilte, was sie wissen mußte. Sie hatte ihm nicht geantwortet auf diesen Brief. Mit Freude und Sorge erwartete er sie; und als er sie sah, wurde seine Freude größer und seine Sorge schwand.

Sie drückte den Alois lange und zärtlich an ihr Herz. Sie ging in Haus und Hof herum, war gerührt über die gute Ordnung, die der Rainer gehalten, und freute sich, das nun selber fortzusetzen. Auch auf den Kirchhof ging sie gleich am ersten Tage; da sie den Schwager um seine Begleitung nicht bat, ließ er sie allein gehen. Auch hier hatte er Ordnung gemacht. Ein paar warme Mittage hatte er benutzt, um den Hügel zu wölben und zu glätten, und da man noch nichts pflanzen konnte, hatte er grünes Tannenreis darauf gestreut. – Als sie zurückkam, hatte sie gerötete Augen. Sie gab dem Schwager die Hand und drückte sie fest. –

»Du bist so gut, Rainer –« sagte sie; weiter nichts. Dasselbe hatte sie ihm auch gesagt an Ulrichs Totenbett; es schien, als fände sie nichts andres, als drängten sich in diese Worte all ihre Empfindungen zusammen, Trauer, Dankbarkeit, Zutrauen und Wehmut.

Am Abend, als sie allein in der Stube zusammensaßen, sprach sie sich zum erstenmal zu ihm aus. Alles, was sie im letzten Jahr durchgemacht hatte an Angst und Sorge, an Herzweh und Groll; ja sie sprach auch von der Schuld, die sie gegen den Ulrich auf sich geladen habe; von ihrer Lieblosigkeit und Kälte, von ihrem hochmütigen Abscheu gegen seine Sünde, von ihrem Ekel, darin ihre Liebe erloschen. Sie klagte sich an, daß sie mit zu seinem Untergang geholfen habe, und das sei an ihrer Trauer das Traurigste.

Sie saß am Tisch, während sie sprach, und war ganz ruhig dabei; hin und wieder fielen Tränen aus ihren Augen; aber sie schluchzte nicht; es war wie das lautlose Tauen eines harten Wehs. Rainer hörte ihr schweigend zu; und erst als sie scheinbar nichts mehr zu sagen hatte, bewegte er sich und sah sie an.

»Was soll ich dir auf all deine Reden erwidern,« meinte er sehr ernst. »Du hast vielleicht in allem recht und ich versteh' dich völlig. Aber nachholen läßt sich nichts mehr. Und ob du's hättest aufhalten können, weiß niemand. Die Margred hat ihren Mann auch nicht aufhalten können mit all ihrer großen Liebe –«

»Ja, die Margred ist besser als ich,« sagte Barbara. »Ich hab' manchesmal geringschätzig auf sie herabsehen mögen – nun steht sie hoch über mir, denn sie ist nicht wankend geworden in Pflicht und Liebe.«

Da erzählte er ihr seine letzte Begegnung mit der Uttdörferin, und daß er ihr seine Hilfe in jedem Notfall zugesagt habe.

»Sie hat noch nichts von mir verlangt,« schloß er, »und wird es auch nicht tun, wenn's nicht zum äußersten kommt. Aber sie kommt vielleicht einmal zu dir, denn um Trost wird dem armen Weibe sehr bange sein, trotz all ihrer treuen Kraft. Und wenn sie einmal bei dir anklopft, Bärbeli – nicht wahr, so wirst du sie einlassen?!«

Barbara sah den Mann lange an, mit einem grübelnden Blick.

»Ich werd' zu ihr gehen,« sagte sie plötzlich. »Sie kann ja nichts dafür.« In seinem Herzen rauschte es auf wie eine große, warme Welle.

»Das ist groß von dir, Barbara. Gott wird es dir lohnen.«

Wieder sah sie ihn grübelnd an. Dann erzählte sie ihm weiter. Nach vielem Bitten und Zureden hatte sie ihre Mutter vermocht, den Entschluß zu fassen, ihre Stube in Lauterbrunnen, in der sie nun seit fünfundzwanzig Jahren ihr kärgliches Leben in Zurückgezogenheit und Zufriedenheit gefristet, zu verlassen, und zur Tochter zu ziehen. Sie wollte nur noch abwarten, bis es völlig Frühling sei; sie konnte wohl nicht so schnell mit der inneren Loslösung zurechtkommen.

»'s ist besser so,« schloß sie ihren Bericht. »Ich werd' nicht so allein sein, und die Mutter wird's gut haben. Es hat mich schon oft gewurmt, daß ich so gar nichts für sie tun konnt'; daß ich ins Wohlleben gekommen war, und sie in ihrer Armut blieb. Nun kann sie sich bei mir ausruhen – sie hat sich redlich für mich gequält in früherer Zeit. – Und es ist auch besser so – der Leute wegen. Einer Witwe ist leicht was angehängt, und ohne allen Mannesbeistand geht's doch nicht. Wenn eine Mutter im Haus ist, ist's anders.«

Rainer sah vor sich nieder und antwortete nicht.

Es war, als könne Barbara heut kein Ende finden; man sollte meinen, sie hätte all diese Zeit keine Aussprache gehabt, oder sie wolle den Schwager entschädigen für die viele Stummheit in den ersten Wochen. Sie hatte bei allem Reden etwas wehmutsvoll Verträumtes, als läge vor ihren Augen noch der graue Trübsalsschleier, den ihre Sehnsucht nach besseren Tagen zu lüften bemüht sei.

Es war Mitternacht, als sie endlich ein Ende machten.

»Heut halt' ich meine letzte Ruh' hier unten,« sagte Rainer beim Auseinandergehen. »Morgen zieh' ich wieder hinauf.«

Sie senkte den Kopf wie in stiller Zustimmung und sagte nichts.

Wenn man die Leute im Dorf von den beiden Frauen reden hörte, deren hartes Schicksal den ganzen Winter über in jeder Bauernstube reichen Gesprächsstoff gab, so konnte man leicht merken, daß ein jeder mehr Mitleid mit der Uttdörferin empfand, als mit der Barbara.

Margred war ein armes, blasses, verschüchtertes Weib, das an seinem Mann ein schweres Kreuz trug. Zeit seiner Ehe hatte er sie rauh behandelt, geplagt und geschunden mit seiner Heftigkeit, geschlagen und betrogen. Nun stürzte er sie in Schande, die ihr zwar niemand anrechnete, die aber doch auf ihr und dem Hofe lastete. Allein mußte sie sich quälen mit der Wirtschaft und den Kindern, und wenn sie jetzt auch Ruhe vor ihm und seinen Roheiten hatte, so hatte sie dafür Arbeit und Last und Herzweh; das letztere sah man ihr am Gesicht an. Sie hätte jetzt aufleben sollen; aber sie war wohl schon zu völlig, niedergedrückt dazu; sie ging zu keinem Menschen und grämte sich schweigend durch die Zeit; und wozu das alles? – um, wenn er wiederkam, das elende Leben wieder aufzunehmen.

Mit der Barbara war das ganz anders; die hatte das große Los gezogen mit ihrem Manne, und eine Reihe ungetrübter Glücksjahre mit ihm verlebt. Dann freilich kam der Verfall und das Ende; aber das ging schnell, Schlag auf Schlag; ein schreckliches aber kurzes Trauerspiel. Ein einmaliges Unglück ist leichter zu ertragen, als so ein lebenslanges, schleichendes Daseinselend; man erlebt's – und entweder geht man selbst schnell mit zugrunde, oder man überwindet's und lebt von neuem. Das letztere war Barbaras Fall; wenn man sie einhergehen sah, stattlich und unverfallen, mit dem stolz getragenen Kopf und den ungetrübten Augen, wußte man, daß sie nicht aufgehört hatte zu leben.

Und dann – die arme Margred war allein; die Eltern waren verzogen, und Gefreundte hatte sie nicht. Aber die Ambergerin hatte den Rainer, und wer den Rainer hatte, der war gut aufgehoben. Mit dem konnt' sie sich besprechen und beraten, auf den konnt' sie sich verlassen; der konnt' ihr gut tun mit seinem warmen Herzen und konnt' sie stärken in allem, worin eine einsame Frau Stärkung braucht.

Und zuletzt, sagten die Gydisdorfer weiter, würde Rainer die Barbara heiraten und auf den Ambergerhof ziehen, und alles würde wieder seine Ordnung haben. – Und fürs Erste kam nun noch ihre Mutter.

In der Osterwoche zog sie ein, und unter den wenigen Habseligkeiten, die sie mitbrachte, war der braune Kasten mit den Klöppelgeräten. Von dem mochte sie sich nicht trennen.

»Fürs Geld zu arbeiten, hast du mir verboten,« sagte sie zur Tochter. »So mag's für das Mareili sein, wenn's einmal eine Aussteuer braucht; dann kann es mit der Ahne ihrer Hände Arbeit noch Staat machen. Aber wenn ich nicht mehr klöppeln dürft', würd' ich ja gar nicht wissen, wozu ich die Finger hab'.«

Sie war eine alte Frau, die Mutter Marthe, trotzdem sie erst wenig über fünfzig Jahre zählte. Arbeit und Entbehrung zehren die Jugend auf. Wenn aber auch ihr Gesicht welk und ihre Körperfrische dahin war, so hatte doch ihr Herz seine Frische bewahrt, lebte und fühlte mit den Lebenden. Sie sprach nicht viel – das hatte sie sich in ihrem einsamen Zustande abgewöhnt – aber sie dachte viel, und blickte scharf. Barbara war glücklich, sie unter ihrem Dache zu haben, und nachdem einmal der Abschied vom Bisherigen überwunden, lebte sie sich schnell ein. Die Enkel halfen dazu. –

Unter Stürmen und Regengüssen wurde der Frühling geboren. Mit Jauchzen ging er über die Erde, und die Berge blickten in lächelnder Ruhe auf das Erwachen der Welt. Auf triefenden Wolken fuhr der Schöpfer einher, und auf Fittigen des brausenden Windes. Licht hieß das Kleid, das ihn schmückte, und Leben der Atem, der von ihm ausging. Er ließ die Quellen springen aus den Höhen, und mit Rauschen trugen die Wasserströme seinen Ruhm hinunter in die Tiefe. Die Himmel priesen des Ewigen Ehre, und zu seinen Füßen ergrünten die Wiesen wie zu einem Teppich. Die Bäume standen voll Saft, und die Vögel nisteten unter ihren Zweigen.

Und der Mensch ging aus an seine Arbeit, von der finsteren Hütte des Winters. Der Herr gab ihm, und er sammelte. Der Herr erquickte seine Seele, und sein Mund sang dem Allmächtigen ein neues Lied.

Rainer Amberger kam von Mettenberg zurück, wohin er Barbaras Vieh auf die Mai-Alm gebracht hatte. Und weil es soviel weniger war, als in sonstigen Jahren, hatte er die eignen Tiere mitgetrieben, denn für die Grindelalm an der großen Scheideck war's noch zu früh. – Er war fröhlich und guter Dinge; das Leben in der Heimat behagte ihm je länger je mehr, und Arbeit hatte er genug seit des armen Ulrich Tode. Er tat alles für die Barbara; außer ihrer Stube und Küche ließ er ihr kaum etwas übrig; noch nie hatte sie so ein bequemes Leben geführt. Sie brauchte nur alles mit ihm zu besprechen, dann geschah's wie von selber. Freilich mußte sie sich sehr einschränken, und konnte kein Vieh auf den Ostermarkt schicken; Geld einbringen geht eben immer langsamer, als ausgeben. Aber sie war das sparsame Leben von früher gewöhnt; und wenn sie etwas dabei verlernt hatte, nun, so war die Mutter da; die verstand's. Und wenn je einmal Unbequemlichkeiten oder gar sorgenvolle Stunden kamen, so gab's doch keinen Mißmut; der Rainer litt ihn nicht; und sein festes Herz gab allen Freudigkeit und Stärke.

»Hast einen rechten Schatz an deinem Schwager,« sagte Mutter Marthe manchesmal. Barbara schwieg dazu, als erregte es ihr trübe Gedanken. Sie wußte sehr gut, wieviel Dank sie ihm schuldete; sie trug diesen Dank auch warm und reich in ihrem tiefsten Herzen; aber sie äußerte ihn wenig; sie war seit jenem Abend ihrer Heimkehr nie mehr aus einer scheuen Zurückhaltung hervorgetreten, die trauliche Zwiesprache nicht zuließ, und unmittelbare Gefühlsäußerungen unmöglich machte.

Daran dachte Rainer auf dem Heimweg vom Mettenberge. Aber es machte ihn nicht unlustig in seinem Schaffen für sie, dies zurückhaltende Wesen. Es stellte sie hoch in seinen Augen; er hätte sie gar nicht anders haben mögen. Er wußte ganz genau, was für ein Herz sie hatte, wenn es sich auch oft durch Trotz und Auflehnung nur mühsam durcharbeiten mußte. – Liebe gibt innerliche Augen; mit denen sieht man mehr, als Worte erklären können; und Liebe gibt ein ganz neues Wissen, damit lernt man schneller, als durch jahrelange Erfahrung.

Er sprach bei seiner Schwägerin vor, um ihr Bescheid über seine Ausrichtungen zu bringen. Sie gab ihm einen Krug Wein zu trinken, denn es war ein heißer Sonnentag.

»Ich bin heut bei der Uttdörferin gewesen,« erzählte sie, und machte ein ernstes, fast trauriges Gesicht dazu. »Das erstemal. Ich hab' mich bisher noch immer nicht entschließen können.«

»Und doch ist's gut, daß du's getan hast,« lobte er und betrachtete sie mit dankbarer Rührung. Sie wandte das Gesicht fort.

»Die Margred ist gestern in Interlaken gewesen und hat ihren Mann gesehen. Nun war sie heut völlig aus der Fassung und fiel von einem Weinen ins andre. Es war wohl alles mitsammen, Kummer und Freude –«

»Armes Weib!« sagte Rainer. »Fünf Jahre sind eine harte Zeit für ein liebend Herz!«

»Ich ertrüg's nicht!« rief Barbara heftig. »So, wie sie ihn nun einmal liebt – so unverständlich wie's bleibt – aber ich stürbe daran, oder verlör' meinen Verstand. Aber sie erträgt's –« es klang, als ob der Frau auch dies völlig unverständlich wäre.

»Man muß alles ertragen, was einem aufgelegt wird,« sagte Rainer. »Und man kann's auch; denn Einer ist immer zu helfen bereit –«

»Der Margred hilft nicht der liebe Gott,« unterbrach sie trübe; »der hilft nur ihre unbegreifliche Lieb' –« diesmal sprach ein trauriger Neid aus ihren Worten. Rainer faßte ihre Hand.

»Ich weiß, an was du denkst und was dich grämt. Aber du bist anders wie die Margred, und man kann nicht von zwei verschiedenen Bäumen dieselbigen Frücht' verlangen. Und wenn deine Lieb' zum Uli nicht ausgehalten hat, so hast du's in der Todesstunde ihn nicht fühlen lassen –«

»Jetzt aber weiß er's!« fiel sie düster ein.

»So wird er's verzeihen!« rief er zuversichtlich. –

Vom ersten Tage, den er wieder in der Heimat verlebte, hatte Rainer Einfluß gehabt auf die Frau; ohne es zu wollen, ohne es vielleicht zu wissen. Noch nie aber war sein Einfluß so groß gewesen, wie in diesem Sommer. Er geschah nicht mit Worten und Ermahnungen: nur durch den täglichen Anblick seines heiter ernsten Gesichtes, seiner unverwüstlichen Lebensfrische, seiner unversiegbaren Glückeszuversicht. Er war niemals mißmutig oder unlustig, obwohl er die kleinen Lasten des Tages ebenso empfand, wie jeder andre; aber er war stärker als sie. Es ging eine erquickende und heilende Luft von ihm aus; die tat der Barbara dasselbe, wie dem Kranken die Sonne tut, in die man ihn hineinträgt, aus dem dumpfigen Krankenzimmer hinaus. Ihr wundes Gemüt erholte sich von den Schlägen und Mißhandlungen des vergangenen Jahres, und trieb neue Blüten der Hoffnung und der Lebensfreude. Als der kräftige Heuduft von allen Wiesen aufstieg, und die glühende Sonne die Knospen der Rosen und Nelken erschloß, färbten sich auch ihre Wangen, die der Kummer gebleicht hatte, mit gesundem Rot; und wenn sie in ihrem Garten arbeitete und dabei mit ihrer kräftigen Stimme ein Lied vor sich hinsang oder sich gar einmal an einem Jodler versuchte, dann hielt oben auf seinen Wiesen der Rainer in seiner Arbeit inne, stützte sich auf den hölzernen Rechen oder die breitklingige Sense, und sah hernieder zu Tal, als suche sein Blick etwas Liebes.

Drüben, an den vereisten Gehängen der Viescherhörner erklang ein dumpfes Donnern; eine kleine, dem Auge kaum erkennbare Schneewolke hob sich aus den sonnenüberfluteten Eismassen; wie Dampf verging sie in der unendlichen Helle. Nur ein Poltern und Krachen, wie das Aufschlagen eines harten Gegenstandes, tönte noch lange nach. Rainer Ambergers Blick ging langsam nach der Richtung, woher der Ton kam. Er wußte, was das bedeutete: in der heißen Sonne sprangen die Eisblöcke.

 

* * *


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