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Seit gestern Abend war Rainer Ambergers Herz noch schwerer um den Bruder, dem das Laster, dem er sich ergeben, nun auch die Liebe seines Weibes gekostet hatte. Damit war wieder eine Hoffnung auf seine Rettung vernichtet. Wenn ihm sein Heim kalt und liebeleer wurde, so stieß ihn das immer sicherer in den Untergang hinaus.

Er nahm sich vor, es noch einmal mit dem Uli zu versuchen, und wenn es ihm die brüderliche Liebe kosten sollte; viel war ohnehin nicht mehr daran zu verlieren.

Es war aber nicht so leicht, des Ambergers habhaft zu werden. Unter dessen Dach, wo Frau und Kinder zu Zeugen werden konnten, mocht er nicht mit ihm reden, und ihn nach dem Holderhof hinauf zu bewegen, war keine Aussicht vorhanden. Mehrere Tage versuchte er vergeblich, ihn draußen anzutreffen. Endlich einmal glückte es, als er sich dessen am wenigsten versah.

Eine wirtschaftliche Frage führte ihn am hellen Vormittage durch den Wald oberhalb des Dorfes, in der Richtung auf die Bußalp, zu einem befreundeten Bauern. Da, auf schmalem Pfade, unter den beschneiten Tannen kam ihm Ulrich entgegen.

Er sah den Rainer nicht; er trug den Kopf gesenkt, seine Gestalt ging gebückt und müde. Sein Anblick schnitt dem andern ins Herz.

Der weiche, hier oben wenig begangene Schnee dämpfte den Schall der Tritte. Erst als sie ganz nahe beieinander waren, sah Ulrich auf. Er verfärbte sich und trat unwillkürlich einen Schritt rückwärts. Rainer tat, als merke er das Erschrecken nicht.

»Grüß dich Gott, Bruder,« rief er, ernster als sonst sein fröhlicher Gruß erklang. »Wo kommst du her?« Ulrich antwortete etwas Unverständliches, und fragte dann: »Wo willst du hin? –«

»Ich wollt zum Lechner, wegen des Holzfällens –«

»Nun, so laß dich nicht aufhalten,« sagte Ulrich und wollte vorbei. Rainer machte Kehrt und blieb an seiner Seite.

»Es eilt nicht, es ist mir lieb, daß ich dich treffe. Ich hab' dich schon all diese Tage gesucht!«

»Hätt'st ja zu Hause bei mir nachfragen können!«

»Du bist ja meist nicht im Hause, und wenn du ausgehst, so sagst du nicht wohin. Und mir ist's auch lieber, ich treff' dich hier oben.«

»Was willst du denn von mir –« fragte Ulrich mißtrauisch und sichtlich beunruhigt.

»Ich wollt' dich etwas bitten« – er legte seinen Arm um den Widerstrebenden, so daß er ihm nicht entweichen konnte – »ja, bitten wollt' ich dich mit meiner ganzen Lieb', die ich für dich im Herzen hab', daß du umkehrst von deinem schlimmen Wege, und wieder ein braver Mensch wirst! Denn schau – Uli – das bist du nicht mehr!«

Ulrich Amberger riß sich heftig los; sein Arm hob sich; sein Auge schoß einen feindseligen Blick. Aber der Arm sank wieder; der Blick erlosch. Der Mann stand da, stumm, finster, wie ein Gerichteter.

»Sag' mir, warum mußt du immer ins Wirtshaus gehen!« fuhr Rainer eindringlich fort. »Was vertrinkst du dein Geld und deine Gesundheit und dein häusliches Glück –«

»Mein häusliches Glück! wer rührt daran!« fuhr Ulrich auf, wieder mit demselben Blick.

»Du selbst rührst daran! Du rüttelst daran, du reißt es ein mit deinem frevelhaften Tun. Du kümmerst dich nicht mehr um Weib und Kind, du läßt alles drunter und drüber gehen. Du läßt die Barbara einsam sitzen und weinen in ihrem Gram. Du machst sie unglücklich und dich dazu – und fragst noch: wer rührt daran?«

Ulrich stand halb abgewandt, die Hände in den Hosentaschen, und starrte finster zu Boden.

»Uli, Uli, wie hat's dahin kommen können! Hast du Sorgen, die dich ins Wirtshaus treiben? Sie sind schon für manchen die Veranlassung gewesen! Ist's an dem, so hab' Vertrauen, teil' sie mit mir, ich will sie dir abnehmen, soviel ich kann!«

Ulrich wandte sich noch völliger ab.

»Sei nicht so stumm und stetsch,« drängte Rainer; seine Stimme zitterte vor Bewegung; er legte wieder den Arm um den andern.

»Sag' mir doch, was an dir frißt' Uli, ich bitt' dich darum! Ich könnt' dir gewiß helfen! Ich bin ja doch dein einziger Bruder –«

»Laß mich,« würgte Ulrich heiser heraus und versuchte, den Arm abzuschütteln.

»Nein, ich laß dich nicht! Ich will dir helfen – zwingen will ich dich, daß du mir vertraust – mit meiner Liebe will ich dich zwingen! Uli, Uli, hör' mich! sieh mich an!«

»Ich will dich nicht hören. Ich laß mich nicht zwingen. Geh' deiner Wege und laß mich zufrieden!«

Mit seiner Hand schleuderte er des Bruders Arm von sich und tat ein paar Schritte von ihm fort.

»Uli – 's Herz bricht mir um dich!«

»So laß es brechen. Ich hab's nicht verlangt.«

»Denk' an deine Frau, Uli, an deine Kinder, an deine heiligsten Pflichten!«

Ulrich wandte sich um und sah den Bruder abermals an; diesmal war der Blick nicht feindselig, sondern nur forschend, beinahe angstvoll. Und Rainer fuhr fort zu reden.

»Komm zu mir herauf, zum Holderhof, wenn du meinst, du könnt'st die langen Abende besser überkommen in meiner Gesellschaft; ich will tun, was ich kann, um dir die Zeit zu kürzen! Oder laß mich zu dir hinunterziehn auf ein paar Wochen – wir haben so gut gelebt miteinander im Sommer!«

Der Gedanke kam ihm in diesem Augenblick; er dünkte ihn gut; er eröffnete ihm einen Rettungsweg.

»Was sie im Dorf davon denken, ist ja völlig gleich!« schloß er sein eifriges Zureden, in der Meinung, Ulrich werde es scheuen, daß sie sagen möchten, der eine Bruder sei die Kindermuhme des andern geworden. Ulrich sah ihn immer noch starr an. Nun schlug er eine häßliche Lache an.

»Ja – du möcht'st einziehen bei mir, und ich könnt' nur gleich machen, daß ich davonkäm!«

Rainer wurde rot vor zornigem Unwillen.

»Ulrich,« rief er warnend, »solche Reden verbitt' ich mir von dir! Ich hab' sie nicht verdient und will sie nicht hören!« Ulrich ließ den Kopf hängen.

»Schon gut – du siehst, mit mir ist nicht zu reden. Also laß mich und misch' dich nicht in mein Tun. Ich hab' dich nicht verantwortlich dafür gemacht.«

Es war nichts mit ihm anzufangen. Rainer mußte es aufgeben und ihn gehen lassen. Nicht einmal einen Dank, ein gutes Wort bekam er zu hören auf all seine Liebe. – Trotzig, mit stampfenden Schritten, ging Ulrich von ihm fort. Rainer sah ihm nach, bis er bei einer Biegung des Pfades seinen Augen entschwand.

Dann trat auch er langsam den Heimweg an; es wäre ihm nicht möglich gewesen, jetzt zum Lechner zu gehen und mit ihm über das Holz zu handeln.

»Morgen will ich zum Uttdörfer und mit ihm sprechen,« beschloß Rainer Amberger; damit brachte er seinem Bruder das größte Opfer. Und weil es ihn so schwer ankam, und weil er ruhig und fest werden wollte in dem, was er ihm zu sagen hatte, wollte er noch eine Nacht verstreichen lassen. Denn die weisesten Gedanken kommen meist über Nacht.

*

Am Abend ging Ulrich Amberger seinen gewohnten Weg, diesmal wieder zum Gletschwirt.

Lange saß er allein an seinem Tisch, trank ein Maß nach dem andern, ließ den Wirt unwirsch an und stierte vor sich hin.

Dieser und jener kam herein, Fuhrleute, Händler, junge Burschen; sie lachten und scherzten, manche setzten sich, manche taten nur stehend einen wärmenden Trunk, denn die Winterkälte war bitter und schneidend heut abend. Dann gingen sie wieder. Den Amberger beachteten sie kaum. Denn seine Gesellschaft waren sie nicht. Er saß sie alle aus.

Dann kamen ein paar Bauern, grüßten und setzten sich an den Nebentisch. Zwischen ihren lauten Gesprächen hindurch fingen sie an zu tuscheln, mit Seitenblicken nach dem Amberger hin. Dann stand der älteste, der schon graue Haare hatte, auf und ging zu ihm hinüber.

»Ist's erlaubt, mich zu euch zu setzen?« fragte er. Ulrich brummte vor sich hin und richtete sich ein wenig strammer auf. Der Alte sah es für eine Aufforderung an und nahm Platz.

»Nehmt's nicht für ungut, Bauer,« begann er ohne alle Umschweife, »wenn ich einmal ein offenes Wort mit euch rede! Es ist doch nicht schön, wie ihr's treibt!«

»Was geht's euch an!« fuhr Ulrich auf.

»Nichts – wenn ihr wollt. Aber meine grauen Haar' geben mir das Recht, auch einmal an Dinge zu rühren, die mich nichts angehen. Wir wissen, ihr laßt jeden grob an, der euch ins Gewissen reden möcht – und es ist gewiß auch nicht süß, sich von andern Leuten an den eignen Fehltritt erinnert zu hören. Aber wir Gydisdorfer können's doch nicht übers Herz bringen, einen von uns – ja, ich sag's grad heraus, einen unsrer Besten ins Elend gehen zu sehen, ohne den Mund dagegen aufzumachen. Und ich dacht', von einem Alten nehmt ihr's am End' eher an, als von einem Jungen –«

»Ihr sagt mir nichts neues, soviel euch auch einfiele,« entgegnete Ulrich finster. »Ich weiß das alles selber. Ich erkenn' auch eure gute Absicht. Aber ich hab' mich da allein hineingebracht – ich werd' auch wohl allein wieder heraus müssen.«

»In der Gesellschaft, in die ihr euch begeben habt, wird's euch nimmermehr glücken!« rief der Alte. »Sagt euch vom Uttdörfer los! Wir alle meiden ihn, soviel es geht ohne allgemeinen Zank. Ihr seid ihm willig gewesen – nun stürzt er sich auf euch und wird euch zugrunde richten, wenn ihr ihm nicht beizeiten entwischt!«

»Wenn ich nur könnte!« dachte Ulrich. Er wischte sich die Stirn und stöhnte.

»Ihr habt doch euren Bruder, den Rainer!« fuhr der Alte fort. »Jedermann im Dorfe liebt ihn; an dem ist kein Tadel. Der wäre der Rechte für euch. Und wie ihr ihm am Herzen liegt, das sieht man ja deutlich daran, wie der Kummer um euch an ihm nagt! Aber man sieht euch nie mit ihm –«

»Mann!« fuhr Ulrich auf und fuhr zurück, daß der Stuhl unter ihm polternd ein Stück nach hinten wich, »das sind meine Angelegenheiten, in die laß ich mir von keinem hineinreden!«

Die am andern Tisch verstummten und sahen sich scheu nach dem Zornigen um. Der Alte erhob sich.

»Wie ihr wollt. Ich hab's gut gemeint. Und nun bin ich ja ohnehin zuviel an eurem Tisch –«

Sprach's und setzte sich zu den andern.

Durch die Tür der Wirtsstube war Anselm Uttdörfer getreten.

Er sah sich mit seinem unverschämten Gesicht rings um und grüßte nach allen Seiten, ohne zu fragen, ob sein Gruß erwidert werde oder nicht. Neben dem Tisch, an welchem Ulrich saß, hängte er Hut und Mantel an die Wand.

»Frische Kälte heut!« rief er lustig, und rieb sich die steifen Hände und das scharf gerötete Gesicht. »Da tut's not, inwendig zu feuern! Nun, Amberger, was ist denn euch in die Krone gefahren? Macht ja ein Gesicht, daß man in seiner herzfrohen Unschuld am liebsten gleich wieder davonlief!«

Ulrich saß mit dem Kopf in die Hand gestützt, sah nicht auf und hatte nur einen unwirschen Gruß gebrummt.

»Nun, wo stimmt's nicht? He?« Dabei setzte er den irdenen Krug, den man ihm gebracht hatte, wohlgefällig an die Lippen.

»Laßt das!« schnauzte ihn Ulrich an.

»Mir scheint, ihr seid sauertöpfisch! Ist zu Hause die Milch geronnen? Kommt – trinkt euch eine bessere Laune an!«

Er ließ einen Branntwein bringen, und für den Amberger auch einen. Der wollt' ihn erst unwillig fortstoßen; dann besann er sich eines andern, ergriff das grobe Glas und verschluckte den Inhalt.

»Ihr habt ganz recht – das elende Leben ist zu nichts weiter wert, als daß man's vertrinkt und verachtet!«

»Wer sagt, daß ich's verachte? Mir gefällt's ausnehmend gut, das Leben; und das Trinken – das ist eine von seinen reinsten Freuden!«

Ulrich schien das nicht zu finden, denn er machte wieder ein finsteres Gesicht. Der Uttdörfer betrachtete ihn halb spöttisch, halb mitleidig.

»Eh' ich's vergeß –« sagte er anscheinend so nebenbei – »ich wollt euch sagen, auf Neujahr möcht ich mein Geld zurückhaben. Ich sag's euch schon jetzt, damit ihr euch einrichten könnt!«

Ulrich wurde blaß und zuckte zusammen.

»Zu Neujahr –« sagte er stockend – »zu Neujahr kommt's mir sehr ungelegen – ich hab' allerlei zu zahlen auf Neujahr –«

»Ich auch,« sagte Uttdörfer trocken. Ulrich fuhr sich aufgeregt mit den Fingern durch die Haare.

»Zu Neujahr – Bauer – geht's wirklich nicht! Laßt's mir noch bis Ostern –«

»Auf solang hab' ich nicht gerechnet. Als ich's euch gab, in Interlaken, war die Red' von ein paar Tagen!«

»Ich will's euch verzinsen!« Uttdörfer lächelte überlegen.

»Auf die Zinsen könnt' ich ja all die Viertel und Achtel rechnen, die ihr auf meinen Antrieb hin getrunken habt.«

»Nein, das sollt ihr nicht,« fuhr Ulrich gekränkt auf. »Ich brauch mir nichts schenken zu lassen von euch.«

»Nun – wenn ihr so denkt, dann muß es euch ja lieb sein, wenn ihr mein Geld wieder los werdet!« Ulrich rückte hin und her auf seinem Stuhl. Der Angstschweiß trat ihm auf die Stirn. Gewiß wollte er's loswerden und zurückgeben, das Sündengeld, das ihm die Seele zerdrückte. Aber wo sollte er's hernehmen!

»Wenn's euch grad auf Neujahr so ungelegen kommt,« sagte Uttdörfer, und steckte sich gemächlich seine Pfeife in Brand, »so kann euch vielleicht der Rainer aushelfen. Unter Brüdern hat das ja nichts zu sagen. Und der Rainer hat's doch gewiß liegen; der gibt ja nichts aus.«

»Der Rainer soll nichts damit zu schaffen haben,« rief Ulrich.

»Ja, – wenn ihr's nicht übrig habt, werd' ich mich wohl an ihn halten müssen!« Dieser Gedanke schien dem Uttdörfer ein eigenartiges Vergnügen zu bereiten, denn es blitzte schadenfroh in seinen Augen.

Dem Ulrich schlugen die Pulse vor Wut und Aufregung. Das wäre dem da gerade recht gewesen, seinen Feind zu demütigen, indem er großspurig des Bruders Schuld von ihm einfordern ging! Den ganzen Amberger'schen Namen zu demütigen, dessen Träger noch nie jemandem etwas schuldig geblieben waren – und nun gar so einem!

»Wartet's erst ab, ob ich was übrig haben werde,« sagte er grimmig. »Vorläufig bin ich auf die brüderliche Hilf' noch nicht angewiesen.«

»Nehmt's nur nicht übel!« beruhigte der andre mit gönnerhaftem Spott. »Ihr sagtet ja selbst, es käm euch ungelegen!«

»Ich werd's einrichten.« Er beschloß bei sich, von seinem Vieh weiter zu verkaufen, soviel als notwendig wäre. Um die Weihnachtszeit brauchten die Leute Fleisch in den Töpfen, da waren die Preise beim Schlächter gut. Freilich, sein Stall würde leer werden –

Die Gedanken kamen ihm immer verzweifelter und bedrückender. Er trank, um sich zu betäuben; Wein und Schnaps, wie es gerade kam.

Am Nebentisch wechselte die Gesellschaft. Der Uttdörfer, als er sah, daß mit dem Amberger nichts anzufangen war, setzte sich hinüber, ohne zu fragen ob er gewünscht würde, und führte das große Wort in einem wirtschaftlichen Streit. Ulrich fing nur dann und wann etwas Unzusammenhängendes auf; es reizte ihn nicht, mehr zu hören; es war ihm alles gleichgültig. Am liebsten wäre er fortgelaufen. Aber wohin? nach Hause? der Barbara unter die vorwurfsvollen Augen in dem finstren Gesicht? nein. Zum Rainer und seiner Lieb', der er nicht traute, und die er nicht verdiente? nein. Zum Herumirren im Schnee war's zu kalt; er war müde und die Glieder hingen ihm schwer. – Also hier bleiben; das war das einzige; das Schicksal, dem er verfallen war, weil er sich an den Uttdörfer gekettet hatte.

Und was hinderte ihn denn nun noch, von ihm loszukommen? Das Geld hatte er zurückgefordert; das Geld, das ihn wie unter seinem Joche gehalten hatte, diese letzten Monate! Er würde es ihm zurückgeben, und ihm die sogenannte Freundschaft kündigen. Oft genug schon hatte er es versprochen, der Barbara und sich selber. Nun würde er den Mut und die Kraft dazu finden, nun die Gelegenheit so günstig war! Er hatte nun erfahren, wohin das führte. Er war satt von Ekel. Und die Sorge, die Angst, die Gewissensbisse – er hatte ihre Bitternisse erfahren; es war genug davon. – Ja, nun sollte es ein Ende haben.

Anselm Uttdörfer belachte einen seiner eigenen derben Witze. Der hatte gut lachen. Der hatte die nötige Unverschämtheit und das Glück dazu. – In Ulrichs Herzen regte sich ein heißer Haß gegen den Mann, der ihn ins Unglück gelockt hatte, und ihn kalt lächelnd darin sitzen lassen würde, wenn er eines Tages einen fröhlicheren Gesellen willig finden würde. Denn fröhlich war Ulrich nie gewesen bei diesem Leben. Wie hatte er sich nur so tief hineinlocken lassen können!

Ja, er haßte den Uttdörfer; jetzt wußte er's, jetzt, wo der Zwang von ihm genommen war. Er haßte aber auch sich und sein ganzes unselbständiges Tun; haßte und verachtete sich. Anders mußte es werden – gleich und gründlich. Morgen schon wollte er mit dem Schlächter reden, und dem Uttdörfer sein Geld schon vor Neujahr zurückgeben. Je eher, je besser. Und mit dem Gelde wurde er dann auch den Uttdörfer los.

Vom Nebentisch rief man ihn an, und der Uttdörfer schrie:

»Kommt, setzt euch hierher! Wir wollen eins spielen!«

»Ich spiel' nicht,« sagte Ulrich kurz und trotzig.

»Nanu – warum denn auf einmal nicht?«

»Weil ich überhaupt nicht mehr spielen werd'.«

Ein schallendes Gelächter war die Antwort. Ulrich biß die Zähne aufeinander. Unter dem Tisch ballte er seine Fällst.

»Was hat euch denn auf einmal so fromm gemacht?« höhnte der Uttdörfer.

»Die Einsicht, daß ihr ein Lump seid,« knirschte Ulrich; aber doch nur halblaut. Der Uttdörfer zuckte die Achseln.

»Ich bin's gewohnt, daß ihr in letzter Zeit eure schlechte Laune gegen mich kehrt.«

»Das ist nicht schlechte Laune!« rief Ulrich und sprang von seinem Stuhle auf, weil es ihn nicht mehr litt vor Erregung. »Das ist nur das, weil ich mir aus dem Umgang mit euch nichts mehr mache!« Er kehrte ihm den Rücken zu; es schien, als wolle er seinen Hut vom Nagel nehmen; er mußte sich auf den Tisch dabei stützen, weil er schwankte.

Der Uttdörfer steckte die Hände in die Rocktaschen, lehnte sich breit in seinem Stuhl zurück und seine Augen funkelten boshaft.

»So – bläst der Wind jetzt aus dem Loche? Das ist wohl, weil ich endlich mein Geld wieder haben will?!«

Ulrich fuhr herum, als habe ihn eine Natter gestochen. Ganz bleich war er vor Zorn, daß dieser Mensch ihn hier preisgab, öffentlich in der Wirtsstube –

»Haltet's Maul!« sagte er heiser.

»Warum? Ihr reißt ja das eurige weit genug auf. Meinetwegen – mir liegt ja nichts an eurer Gesellschaft; ihr habt euch ja nur so an mich gehängt, und da hab' ich euch mitgenommen, in der Meinung, ich tät' euch einen Gefallen. Man tut ja manch einem einen Gefallen auf die Weis' –«

Die andern wollten sich ins Mittel legen, wurden aber rauh zurückgestoßen. Ulrich trat dicht vor den Uttdörfer hin. Seine blöden Augen bekamen einen stieren, wilden Blick.

»Was wollt ihr damit sagen!« sprach er, bebend vor Wut. Uttdörfer wandte sich halb ab und zuckte nur wieder die Achseln.

»Was wollt ihr damit sagen!« wiederholte Ulrich lauter. »Antwortet – wenn ihr nicht zu feige seid!«

Der Uttdörfer wechselte die Farbe und sah sich giftig ringsum.

»Wenn ihr mich zwingt – ich wollt' damit sagen, daß ihr euch vielleicht überflüssig dünkt zu Hause.«

»Wieso überflüssig?« Ulrich trat noch dichter an den Sitzenden heran. Die andern zogen sich mit scheuem Flüstern in eine Ecke zurück. Einer ging hinaus, den Wirt zu suchen.

»Weil der Rainer da jetzt eure Stelle vertritt,« sagte der Uttdörfer kalt, und bohrte seine Augen in Ulrichs Gesicht.

»Ich verbiet' euch, den Namen in euer Lästermaul zu nehmen!« schrie der Amberger, den mehr und mehr die Fassung verließ. Aber des Uttdörfers Kopf war auch nicht mehr ganz klar. –

»Ihr tut ja grad, als sei er euer Herrgott, der Rainer –« spottete er, und dabei erhob er sich langsam. Wenn zwei ins Ringen kommen, hat der Stehende den Vorzug vor dem Sitzenden – soviel konnt' er noch ruhig überlegen.

»Und ihr –« rief Amberger dagegen, mit lauter Stimme, die indes vor Wut und Aufregung hin und her schwankte, »ihr möchtet ihm gern etwas anhängen, weil ihr's nicht vertragen könnt, daß er euch verachtet –.«

Von hinten ergriff ihn jemand an der Schulter und bemühte sich, ihm den Mund zuzuhalten; er wehrte sich aus allen Kräften und rief nur noch lauter:

»Natürlich – wer selber so schlecht ist, dem Jugendgespielen die Braut zu schänden, der traut es auch einem andern zu, daß er dem Bruder die Frau verführt – und hätte noch seine Freude dran –«

Ein Wutschrei durchgellte die Wirtsstube; der Uttdörfer stieß den Weinkrug um, daß es weit herumspritzte, und ergriff das lange, starke Brotmesser, das auf dem Tische lag. Ulrich Amberger fühlte sich von dem zurückhaltenden Arm so jäh losgelassen, daß er dem andern entgegentaumelte.

Der Uttdörfer stieß zu.

Mit einem gräßlichen Schmerzenslaut stürzte Ulrich Amberger zusammen und schlug mit dem Hinterkopf auf eine Tischkante. Das Messer flog durchs Zimmer und blieb irgendwo liegen. Zwischen den Fingern, die der Amberger auf seine Brust preßte, quoll das Blut hervor, tränkte die braune Lodenjacke und sickerte auf die schmutzige Diele. Er rührte sich nicht.

Die Umstehenden waren versteinert. Eine furchtbare Stille herrschte.

Anselm Uttdörfers Wut war verflogen. Er drückte sich zur Tür hinaus. Niemand dachte daran, ihn zu halten.

Erst, als der Gestürzte sich mit einem lauten Stöhnen rührte, regten auch sie sich wieder. Sie streckten ihn lang aus und öffneten ihm das Wams. Ueber dem Herzen, zwischen den Rippen, klaffte die Wunde. Sie legten ihm ein in Essig getränktes Tuch darauf, deckten eine dunkle Decke darüber und schickten sich an, ihn fortzuschaffen. Der Stallknecht, derselbe, der solange auf dem Amberger Hof in Dienst gestanden und wegen der gestürzten Färse entlassen worden war, faßte mit an. Zweie trugen; zweie gingen nebenher, um die Tragenden abzulösen.

Totenstill lag das Dorf. Auch die Luft war still und eiskalt. Am Himmel flimmerten die großen Sterne; sie zitterten, als ginge ein Schauder über ihre klaren Lichtspiegel. In heiliger Ruhe lagen die winterlichen Berge; dieselben Berge, über die dem Rainer sein gütiger Herrgott nun dahinschritt, um seinen Segen über das Tal zu gießen.

So trugen sie Ulrich Amberger nach Hause.

*

In seinem Hause war noch Licht; die Lampe, die Barbara immer für seine späte Heimkehr brennen ließ.

Sie war noch auf. Es hatte keinen Zweck, zu Bett zu gehen, wenn man doch nicht schlafen konnte. Zu flicken gab es immer, zumal diesen Winter, wo es zu neuen Anzügen für sie und die Kinder nicht gereicht hatte. So saß sie einsam, mit ihrem blassen, vergrämten Gesicht tief über die Arbeit gebeugt, die einzig Wache in dem stillen Hofe. Als es auf dem Kirchturm elf Uhr schlug, stand sie auf und packte das Zeug zusammen. Dann trat sie ans Fenster, öffnete es und sah hinaus. Alles war still. Die Kälte jagte ihr einen Schauer durch den Leib. Sie schloß die Scheibe wieder und begann, in der Stille auf und ab zu gehen; die Hände in das Tuch gewickelt. das ihr um die Schultern hing, als fröstelte sie; auf und ab zu gehen und zu denken; zu grübeln, wie das alles noch einmal enden solle. Ach, es tat so weh im Kopf und im Herzen, dies nutzlose Grübeln!

Plötzlich stand sie still und lauschte. Sie hörte etwas. Ein Schlürfen und Stampfen von Schritten; ein Murmeln von Stimmen; und jetzt ein dumpfes Anstoßen gegen die offene Haustür wie von einem schweren Gegenstand. Sie sprang zur Zimmertür und öffnete. In dem Lichtschein, der von drinnen herausfiel, standen zwei Männer, die trugen eine Bahre.

Barbara wich in die Stube zurück. Die Hände unter dem Tuch krampften sich ineinander.

Die beiden Männer überschritten die Schwelle und setzten die verdeckte Bahre auf der Diele nieder. Zwei andere folgten.

Der eine trat auf sie zu, nahm den Hut ab und sagte:

»Gott steh' euch bei, Bäuerin – eurem Mann ist ein Unfall zugestoßen.«

Barbara starrte ihn an; der Atem versagte ihr. Dann zuckte sie auf: unter dem Tuch, das die Bahre deckte, erklang ein Stöhnen. Einer der Männer kniete hin und schlug das Tuch zurück.

Da lag er, mit farblosem Gesicht, mit tiefeingesunkenen geschlossenen Augen; mit struppigem Haar; blutbesudelt.

Barbara sagte kein Wort, langsam ging sie auf ihn zu; ehrfürchtig, von Grauen gepackt, traten die Männer zurück. Sie sank auf ihre zitternden Knie und beugte sich über den regungslosen Körper, so daß sie das Licht nicht verdeckte und ihn genau sehen konnte. Mit schweren Augen blickte sie ihn stumm und lange an. Dann strich sie ihm die Haare aus dem Gesicht.

Da schlug Ulrich Amberger die Augen auf und ihr erster, noch halb bewußtloser Blick traf das Weib, das sich über ihn neigte.

»Bärbeli –« murmelte er. Seine Augen flehten um Erbarmen.

Da erwuchs dem Weibe eine große Kraft; die Kraft, die der armen Margred einziges Glück war. Sie beugte sich noch tiefer und küßte ihn auf die Stirn. Sie merkte es gar nicht, daß er nach Schnaps und Tabak roch.

Des Mannes Brust wurde von einem schluchzenden Ton geschüttelt. Seine Hand griff nach der Seite. Die Augen bekamen einen erlöschenden Glanz und fielen ihm wieder zu. Unter den Lidern hervor quollen zwei Tränen und sickerten langsam über die eingefallenen Schläfen in das Stroh hernieder.

Da stand Barbara auf.

»Wer hat es getan?« fragte sie, und sah die stummen Männer an mit einem Blick, der die Wahrheit forderte.

»Der Uttdörfer,« sagte jemand, leise, fast scheu. Sie antwortete nicht, stand eine Weile stumm in sich versunken und starrte den Liegenden trostlos an.

»Es muß einer gehen und den Rainer rufen,« sagte sie plötzlich.

»Ich werd' hinaufspringen!« rief eine bekannte Stimme. »Ich kenn' den Weg am besten!« Sie sah sich um und erkannte den Knecht, der ihnen sieben Jahre treu gedient hatte. Sie nickte ihm dankbar zu; ihr Mund verzog sich schmerzlich. Er lief eilig hinaus.

»Helft mir, ihn aufs Bett legen,« sagte sie zu den andern. Sie griffen zu und gingen ihr zu Hand, ein jeder so gut er konnte. Gesprochen wurde nur das Notwendigste; geweint und geklagt wurde gar nicht. Es schien, sie wollten in stillschweigendem Uebereinkommen niemand im Hause wecken.

Sie legten den Amberger auf das Bett und zogen ihn vorsichtig aus. Alles war mit Blut befleckt und durchtränkt. Barbara wollte ihm die Wunde abwaschen; da das Blut aber bei der Berührung stärker zu rinnen begann, erneuerte sie nur den Essigumschlag. Ulrich öffnete die Augen nicht wieder; er sprach auch nicht. Nur stöhnen tat er dann und wann; und jedesmal, wenn die gequälte Brust sich höher hob, färbte sich der Umschlag dunkler und größer.

Barbara kniete neben dem Bett, wie vorhin an der Bahre. Zu tun gab es für den Augenblick weiter nichts; so sah sie ihn unverwandt an und schien ihre übrige Umgebung zu vergessen.

Mit einemmale schüttelte sie sich.

»Der Uttdörfer –« hauchte sie mit allen Zeichen des Abscheus.

»Sie gerieten in Streit,« sagte hinter ihr einer der Männer leise. »Der Uli kündigte ihm die Freundschaft und reizte ihn schwer – getrunken hatten sie beide –«

Barbara machte ein abwehrendes Zeichen mit der Hand; sie mochte nichts hören.

»Ich weiß –« sagte sie. – Da wurde die Tür geöffnet, hastig und doch vorsichtig. Rainer trat ein.

Als Barbara ihn an seinem Schritt erkannte, sank sie völlig zusammen und legte das Gesicht in die Betttücher, neben Ulrichs zerstochene Brust.

Sie hörte, wie der Rainer leise neben sie trat. Dann, nach einer Weile, fühlte sie, wie seine Hand ihr über den Rücken strich. Dann hörte sie ihn leise mit den andern sprechen, und wie die andern nach einigem Hin- und Hertreten und Stühlerücken die Stube und das Haus verließen.

Da richtete sie sich auf, strich mit der Hand über die Augen und sah sich um. Sie waren allein zu dreien.

Rainer stand dem Bett gegenüber, an die Wand gelehnt. Ein großer Schmerz verzog sein junges Gesicht; er hatte keine Farbe auf den Wangen und seine blauen Augen schienen völlig schwarz. So sah er an ihr vorbei, auf den Bruder.

»Ich mein', es wird müssen einer zum Arzt gehen –« sagte Barbara.

Rainer seufzte auf und kehrte seine Gedanken zum Leben zurück.

»Es ist schon einer hin; der Wirtsknecht, der solange in eurem Dienst gestanden. Er ist über die kleine Scheidegg nach Lauterbrunnen – der Schnee ist hart gefroren und trägt überall. In fünf Stunden, meint er, würd' er's schaffen. Die Nacht ist hell. Wenn der Arzt einen Wagen nimmt, über Zweilütschinen und Burglauenen, kann er am frühen Vormittage bereits hier sein.«

Mehr, schien es, hatten sie einander nicht zu sagen. Stunde um Stunde hielten sie Wacht an dem traurigen Lager. Die Lampe erlosch; Barbara tappte sich im Dunkeln in die Küche, um sie neu aufzufüllen. – Dann und wann nahm sie das Essigtuch von der Wunde, spülte es aus und legte es von neuem auf. Endlich stand das Blut. Dafür lief dem Ulrich der Schweiß in großen Tropfen von der Stirn nieder.

Dicht aneinandergedrängt standen der stumme Mann und das zitternde blasse Weib neben dem Lager und beobachteten es. –

»Rainer,« kam es scheu von Barbaras Lippen, »ist das der Todesschweiß?«

»Ich weiß es nicht,« antwortete er.

»Glaubst du, daß er wird am Leben bleiben?«

»Ich weiß es nicht.«

»Wenn er stirbt, Rainer –« sie vergaß, was sie weiter noch sagen wollte. Ulrich stöhnte wieder; so tief und traurig. Dann mit einemmale schlug er die Augen auf. Unwillkürlich wich Barbara einen Schritt zurück. Mit unklarem Ausdruck hafteten die Augen des Sterbenden an dem Bruder, als kennten sie ihn nicht. Der neigte sich über ihn und ergriff seine kalte, matte Hand.

»Ich bin es – der Rainer. Kennst du mich, Uli?«

»Ja,« sagte Ulrich – und zog die Hand mit Anstrengung zurück. Rainer strich ihm ein paarmal über die feuchte Stirn.

»Uli – mein Uli –« flüsterte er erschüttert. Ulrichs Gesicht verzog sich.

»Hast du viel Schmerzen?« fragte Rainer. Ulrich nickte. Rainer sagte ihm, daß sie zum Arzt geschickt hätten; daß er bei ihm bleiben und alles für ihn tun würde; er sprach ihm gut zu und redete mit ihm wie man mit einem geliebten Menschen redet, der Trost braucht.

Ulrich bewegte sich nicht und sagte nichts und sah den Bruder nicht an.

Barbara stand am Fußende des Bettes und sah mit trostlosem Herzen zu.

Nun ließ Ulrich seine Augen suchend umherwandern, bis sie an seinem Weibe haften blieben. Den stummen Ruf verstehend, kam sie näher. Rainer machte ihr ein wenig Platz, und sah sie an mit einem Blick, in den sich sein ganzes, mitfühlendes, gutes Herz zusammendrängte. Ulrich bemerkte den Blick.

»Barbara,« sagte er mit halber Stimme, »ich habe mit dir zu reden. Mit dir allein.«

Rainer nickte der Frau verständnisinnig zu und ging leise hinaus. Vor der Haustür, im Schnee, unter dem kalten Winterhimmel, ging er auf und ab, und versuchte, das Geschehene zu überdenken.

Drinnen war Barbara wieder neben dem Bett niedergekniet, weil sie den Kranken so besser verstehen konnte.

»Ich werde sterben, Bärbeli,« sagte die verschleierte Stimme.

»Nicht doch, Uli – es kann alles wieder heil werden –«

»Nein, es wird nicht mehr heil. Es ist alles zunicht in der Brust. Es rauscht und brennt – Bei jedem Atem – bei jedem Wort. Und die Schwäche – –« Er seufzte und schloß die Augen. Der Schweiß wurde stärker. Seine Finger klammerten sich um die gesunde, kräftige Hand seines Weibes wie in Todesangst.

»Hör' mich an, Bärbeli. Ich bin dem Uttdörfer Geld schuldig. Fünfhundert Franken. Auf Neujahr. Du mußt sie zahlen.«

Barbara nickte und ließ sich ihren Schreck nicht merken. Ulrich sah sie mit seinen sterbenden Augen fest an –

»Hörst du! du sollst sie zahlen! du! nicht der Rainer! verstehst du mich?«

»Ja; ich soll sie zahlen; nicht der Rainer;« wiederholte Barbara mechanisch. Ulrich schien erleichtert. Eine Weile blieb es still.

»Bärbeli, ich bin dir ein schlechter Mann gewesen all diese Zeit. Verzeih' mir das – alles. Viel reden kann ich nicht –«

»Es war nicht deine Schuld allein –« sagte sie finster. Er schloß die Augen und wandte das Gesicht ab. Es schien, als wolle er davon nichts hören. Barbara tat das Herz weh.

»Quäl' dich jetzt nicht mit dem allen, Uli. Ich trag' dir's nicht nach. Ich trag' mit dir zusammen. Und wenn der Herrgott nicht will, daß du bei uns bleibst, so wird er mich und die armen Kinder nicht verlassen, sondern weiter für uns sorgen.«

Ulrich schien plötzlich eine Unruhe zu empfinden. Seine Hände zuckten, sein Kopf drehte sich hin und her. Er verlangte nach Wasser. Sie ging an den Tisch, es ihm zu holen. Er sah ihr nach, und dabei überstürzten sich die Gedanken und Empfindungen in seiner Seele.

Wie hatte er sie lieb, und wie hart kam es ihm an, sie zu verlassen! Der liebe Herrgott wird für sie sorgen – und der Rainer. Ja, freilich, der Rainer. Er würde die Wirtschaft führen, er würde ihr mit Rat und Tat zur Seite stehen, wie das ganz natürlich war. Er würde sie lieben und endlich würde er sie heiraten; das wäre das Beste und Einfachste. Und der Uttdörfer würde sich ins Fäustchen lachen und sagen: seht ihr's – ich hatte ganz recht; der Amberger hat ihnen einen Gefallen getan mit seinem Tode, er ist grad zu rechter Zeit gestorben. Sonst – wer weiß! – Alle würden es ihm nachsprechen. Und um Ulrichs Hausehre war's geschehen –

Barbara kam zurück, stützte ihm den Kopf und ließ ihn trinken. Es erquickte ihn. Dann legte sie ihn vorsichtig wieder nieder, betrachtete ihn forschend und strich leise über seine Hände. Er haschte nach der liebkosenden Hand und hielt sie fest.

»Bärbeli –« sein Herz fing an zu schlagen, daß es ihm die Luft versetzte. Er hielt inne und sah sie angstvoll an.

»Was willst?« fragte sie, verwirrt durch den dunklen Blick.

»Bärbeli – du bist noch jung – du wirst wieder heiraten. Ja – sei still – 's wär gut, wenn du's tät'st. Ich würd' mich freuen. Aber – wenn du deinen Kindern einen andern Vater geben möcht'st – der Rainer darf es nicht sein!«

Eine tiefe Röte stieg ihr ins Gesicht; seine Worte verletzten sie.

»Davon ist ja gar keine Red' –« sagte sie hart.

»Es könnt' aber einmal davon die Red' sein –« Ulrichs Augen wurden immer starrer; fieberrote Flecken traten auf seine Backen; »und der Rainer darf es nicht sein – hörst du!«

»Nein – nein – « sagte sie beschwichtigend. Sie hörte kaum, was er sagte. Sie sah nur die schreckliche Veränderung in seinem Gesicht – den starren Blick der unheimlich vergrößerten Augen. Das halbgeleerte Glas in ihrer Linken zitterte.

»Schwör' es mir!« forderte der Sterbende. Seine Finger schlossen sich fest um ihre Hand; seine Augen suchten die ihren; sein Oberkörper schien sich ihr entgegenzuheben. Barbara graute es; sie wandte die Augen ab. Hinter dem unverhangenen Fenster ging ein Schatten vorüber.

»Ich schwör' es dir,« sagte sie. Groß und blaß stand sie neben ihm; das Entsetzen dunkelte in ihren Augen, mit denen sie eben – so meinte sie in ihren verworrenen Sinnen – den Schatten des Todes hatte vorübergehen sehen.

Ein unartikulierter Laut aus des kranken Mannes Kehle machte sie auffahren. Sein Gesicht verzerrte sich wie im Krampf; die Hände griffen in die Luft – die Brust hob sich empor. Barbara hatte grade noch Zeit, ihren Arm stützend unter seine Schultern zu schieben. Ein Strom schaumigen Blutes quoll ihm aus Mund und Nase, überrieselte das Hemd, das Bett und Barbaras Kleid. Da vergaß sie alles –

»Rainer! Rainer!« schrie sie in gellender Angst.

Er hörte den Schrei; er stürzte herein, und nahm den sterbenden Mann aus den Armen der halb ohnmächtigen Frau.

»Uli! mein armer Uli!« sagte er, und die Tränen kamen ihn in die Augen. Ulrich sah ihn nicht mehr. Mit einer letzten Blutwelle kam ein langer Seufzer über seine Lippen. Es war zu Ende.

Still legte Rainer ihn nieder und drückte ihm die Augen zu.

Dann kniete er hin und verrichtete ein stummes Gebet. – Als er damit fertig war, sah er sich nach der Schwägerin um. Sie stand an der Wand, die Hände vor dem Gesicht. Und diese Hände, dies Gesicht, die ganze Frau – alles war voll Blutflecken.

Rainer stand auf und ging zu ihr.

»Bärbeli –« sagte er und faßte ihre Hände. Sie sanken herab. Ein paar trockne Augen starrten ihn an.

»Kannst du nicht weinen, Bärbeli?« Sie kopfschüttelte.

Da erklang nebenan in der Kammer ein klägliches Kinderstimmchen. Der Angstschrei der Mutter hatte die Kleinen geweckt.

»Geh zu ihnen, Rainer,« bat die Frau. »Ich – kann nicht.«

Er ging. Sie hörte ihn mit den Kleinen sprechen, hörte die Kinder, den Alois, laut jammern und weinen. Sie kauerte sich neben Ulrichs Bett auf die Erde und hielt sich die Ohren zu. Sie war wie betäubt, und merkte nicht, daß die Uhr vorrückte.

Endlich kam Rainer wieder herein. Es wurde ihr besser, als sie ihn sah. Er blieb vor ihr stehen und sah sie an. Wie sie ihn jammerte!

»Ich hab' die Kinder hinauf gebracht in das Zimmer auf der Stiege – wo ich gewohnt hab'. Es ist kalt oben, aber ich hab' gleich ein Feuer angemacht und ihre Betten hinauf geholt und ihnen gesagt, sie sollten hübsch liegen bleiben, bis du zu ihnen kämst. Ich hab' auch den Knecht geweckt und ihm Bescheid gesagt.« Sie sah zu ihm auf.

»Ich dank' dir,« sagte sie. »Du bist so gut.«

»Geh' jetzt, und zieh' dich um, Bärbeli,« bat er. »Du kannst so nicht bleiben.« Sie erhob sich und warf einen scheuen, fragenden Blick auf den Toten. Rainer verstand.

»Den müssen wir schon so liegen lassen, bis der Arzt kommt; damit er besser Bescheid weiß.«

Sie senkte den Kopf, ging in die Kammer, wusch sich und zog sich um. Dann stieg sie hinauf zu ihren Kindern. –

So verging die Nacht.

Dann nahm der Tag seinen Anfang, wie jeder andre. Eine fahle Dämmerung kämpfte mit dem blauen Dunkel. Die Sterne erloschen. Im Osten schwamm eine matte Röte. Auf dem Hof knarrten die Stalltüren, die Kühe brüllten. In der Küche prasselte das Herdfeuer. – Da kam Barbara leise wieder ins Sterbezimmer herunter, und stellte sich neben Rainer, der auf dem Stuhle am Bett saß.

»In zwei Stunden kann der Arzt hier sein,« sagte sie.

»Frühstens,« gab er zur Antwort. Sie setzte sich auf das Bett, da, wo es unbefleckt war, schlang die Arme ineinander und sah den Toten an. Dann schauerte sie zusammen.

»Rainer – weißt du, wie es gewesen ist?« fragte sie, ohne sich umzusehen.

»Ja,« sagte er.

»So erzähl' es mir.«

Es fiel ihm schwer; aber es war ihr Recht, es zu erfahren, und so sagte er, was er wußte; was der Knecht, der ihn rief, und die übrigen Männer ihm erzählt hatten. Daß sie in Streit geraten wären um ein Geld, das Ulrich dem Uttdörfer schulde; daß Ulrich ihn beschimpft und sich von ihm losgesagt habe; dann wär auch von ihm, dem Rainer, die Red' gewesen, aber was – das hätten sie nicht verstanden. Und endlich hätte Ulrich, der immer mehr in Hitze geraten wäre, dem andern irgend eine häßliche Liebschaft vorgeworfen – und darüber wär's geschehen.

So wiederholte Rainer wortgetreu, was ihm berichtet worden. Die Deutung, die er dem unvollständigen Bericht zu geben hatte, behielt er für sich. Es war ihm weder Recht noch Pflicht, das zu verraten.

Sie hörte schweigend und ergeben zu. Es erschreckte und verwunderte sie nichts mehr.

»Alles Unglück kommt uns vom Uttdörfer,« sagte sie herbe.

»Nein, Bärbeli,« sagte der Rainer, »so darfst du nicht denken. Wir alle teilen uns in die Schuld. Und der liebe Gott wird sich unser aller erbarmen.«

Auf dem Flur erklangen flüsternde Stimmen. Dann wurde behutsam die Tür geöffnet; der Knecht steckte den Kopf herein.

»Was gibt's?« fragte Rainer.

»Die Uttdörferin ist draußen und will die Bäuerin sprechen.« Barbara erzitterte und sah den Schwager flehend an.

»Rainer – geh du – wenn du kannst!« Schweigend stand er auf und ging hinaus.

Draußen, vor der Haustür, als wage sie nicht die Schwelle zu betreten, stand Margred, Kopf und Schultern in ein dunkles Tuch gehüllt. In dem fahlen Licht des grauenden Wintermorgens sah ihr Gesicht aus, als gehöre es einer Halbtoten. Als der Rainer aus dem dunklen Innern heraustrat, wich sie ein wenig zurück.

»Was wollt ihr?« fragte seine tiefe, ernste Stimme. Er grüßte nicht und gab ihr nicht die Hand. Sie versuchte ein paarmal vergebens zu sprechen. Endlich kam es zitternd, halb unverständlich:

»Rainer – lebt er noch –«

»Mein Bruder ist vor drei Stunden gestorben,« sagte Rainer. Da entfuhr ihr ein Wehlaut, wie ein Hauch. Sie deckte die Hände über die Augen und taumelte. Er rührte kein Glied, sie zu stützen. Es war auch nicht nötig. Sie hatte allein ihre Kraft.

Ohne ein Wort weiter zu sagen, ging sie davon, über den verschneiten Hang, über die noch völlig leere und einsame Straße zurück in ihr Haus, darin in selbiger Nacht das Licht nicht ausgegangen war. In der Stube lief Anselm Uttdörfer auf und ab; sein Gesicht war verstört und finster. Als die Frau eintrat, blieb er stehen und sah sie an.

»Nun?« fragte er ungeduldig.

»Er ist tot,« sagte Margred dumpf. Da wandte sich Anselm Uttdörfer um und ging an den Schrank, in dem seine Sachen hingen.

»Da kann ich also gehen,« sagte er. Da hing sich die Frau an ihn – in wahrer Todesangst.

»Anselm – wohin?«

»Aufs Gericht, nach Interlaken, natürlich! Meinst du, ich wollt' ihnen den Spaß machen, daß der Gerichtsdiener mich durch das Dorf spazieren führt wie ein Raubtier, und die Leut' hinter mir hergaffen, und die Kinder mich ausäffen?«

»Jesus Christus!« stöhnte Margred.

Derweil zog er sich sein gutes Zeug an.

»Du mußt nun sehen, wie du allein durchkommst,« sagte er. »Fürs erste werd' ich wohl nicht wieder hier sein. Die Wirtschaft ist in guter Ordnung. Wenn's die Knechte an der nötigen Achtung fehlen lassen, so schick' sie fort. Halt die Buben in Zucht. Und wenn du sonst was brauchst, so geh – nun ja, meinethalben, so geh zum Pfarrer; er hat ein Herz für seine Leut!«

Margred hatte die Schürze vor das Gesicht genommen und schluchzte laut.

»Von dem Greinen und Flennen wird's nicht besser,« brummte er.

»Es ist ja nicht um mich,« schluchzte sie; »ich werd' mich schon durchfinden. Aber daß du – daß ich dich nun solang' nicht haben soll -«

»So wirst endlich einmal Ruhe haben,« rief er mit rauhem Lachen. Sie ließ die Hände mit der Schürze sinken und sah ihn ganz erstaunt an.

»Ruhe? – Ach, du lieber Gott –« Er sah fort. – Als er wegfertig war, hielt er ihr die Hand hin.

»Nun – leb' wohl, Margred.« Da konnt' sie nicht anders; sie fiel ihm um den Hals und klammerte sich an ihn wie eine Verzweifelte.

»Ich hab' Schuld, ich ganz allein!« schluchzte sie. »Hätt' ich dir damals nicht den Willen getan, als ich noch dem Rainer seine Braut war, so hätt' dir's der Amberger gestern nicht vorgeworfen – so wär's nicht gekommen –«

»Gekommen wär's doch, so oder so. Es konnt' nicht gut enden. Und wärst du mir damals nicht zu Willen gewesen, so wärst du wahrscheinlich nicht meine Frau geworden – und so stünd's heut noch viel schlechter um mich.«

»Anselm!« jauchzte sie auf. »Daß du mir das sagst – das hilft durch alles –« Sie lachte unter Tränen. Aber er riß sich rauh von ihr los.

»Mach's kurz,« sagte er. »Grüß die Kinder.«

Er ging hinaus in den kalten Morgen. Uebers Wetterhorn herauf schossen die ersten Strahlen der Morgenröte. Sein wuchtiger Schritt klang auf den Steinen des Hausflurs; dann verschlang der Schnee den Schall. Es blieb still im Hause.

Margred wankte in die Stube zurück, fiel auf einen Stuhl und warf sich mit beiden Armen über den Tisch. Sie weinte, lachte und betete, alles durcheinander.

 

* * *


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