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Das schlimmste war, daß sie seit langem nichts mehr vom Runkelstein gehört hatte. In den ersten Tagen hatte sie erfahren, daß der Fürst außer Gefahr sei – dann nichts mehr. Sie mochte niemand fragen, und unaufgefordert mochte niemand mit ihr davon sprechen. Die ganze Familie schien sich verschworen zu haben, in ihrer Gegenwart die gespenstische Geschichte mit keinem Wort zu erwähnen.

Man behandelte sie mit liebevoller Schonung und doch mit einer gewissen Scheu, wie man sie dem Rätselhaften – dem Unaufgeklärten entgegenbringt.

Und dies Unaufgeklärte, Unausgesprochene stand zwischen ihnen wie eine trennende Wand. Sie fühlte sich fremd, einsam und überflüssig in diesem Hause und in der ganzen Welt. Und wie nun der Frühling überall einzog, hielt sie es nicht mehr aus.

»Ich will ihn noch einmal sehen, und dann geh' ich fort – gleichviel wohin, nur fort.«

Sie setzte eine kleine dunkelblaue Mütze auf ihr blondes Haar, nahm ein Tuch um und ging im hellen Nachmittagssonnenschein zur Stadt hinaus, über die Brücke und den Weg zum Runkelstein hinauf. Während sie ging, durchlebte sie noch einmal die ganzen Schrecken jener Nacht und wunderte sich, daß sie nicht daran gestorben war. Aber man kann viel aushalten, ehe man sich hinlegen darf und sagen: nun ist es genug.

Anna Steinhofer trat durch die Tür, vor der sie seit jener Nacht nicht mehr gestanden, auf den gewölbten Gang. Ein kräftiger Luftzug durchwehte ihn – man hatte dem Frühling alle Fenster aufgemacht. Wahrscheinlich war man bei der Frühlingsarbeit – Scheuern, Waschen oder ähnlichem, denn es war kein Dienstbote zu hören oder zu sehen.

Wozu brauchte sie auch einen Dienstboten; sie war ja bekannt hier. Sie ging die Treppe hinauf; es war so wunderbar still und friedlich in ihr, wie lange nicht. Sie war in ihres Fürsten Haus und Schutz. Sie schritt über den teppichbelegten Flur und klopfte an die Tür von Griseldis' Wohngemach.

»Herein!« rief es von drinnen, und sie trat unverzüglich ein.

»Grüß Gott, Fürstin,« sagte sie mit der sanften Stimme früherer Tage. »Ich komme, nach dem Fürsten zu fragen und Lebewohl zu sagen. Ich will auf Reisen gehen.«

Griseldis war bei ihrem Anblick aufgesprungen – sie hätte eher erwartet ein Gespenst zu sehen, als dieses Mädchen. Fassungslos starrte sie auf Anna hin, die unschuldig und traurig an der Tür stand. Sie war über alle Maßen empört und zitterte vor Angst, daß Karl Friedrich sie sehen könne. Er kam zwar nie hier herein – aber ein besonderes Mißgeschick konnte ihn doch gerade jetzt hierher führen.

»Was willst du hier! Wie kannst du dich unterstehen!«

Anna Steinhofer öffnete die Augen groß und erstaunt.

»Warum soll ich denn nicht kommen? Ich habe ja immer freien Zutritt zu dir gehabt; außerdem war niemand da, durch den ich mich hätte können melden lassen.«

»Verstelle dich nicht!« brach Griseldis los. »Du weißt sehr gut, warum es eine Unverschämtheit von dir ist, heraufzukommen. Ich kenne dich – ich weiß sehr wohl, was du willst ...«

»Ich will fragen, wie es dem Manne geht, dem ich das Leben rettete,« unterbrach Anna in stolzer Ruhe, »ich denke, ich habe ein Recht dazu!« Diese Ruhe brachte Griseldis vollends um die ihre.

»Nein, du hast kein Recht dazu! Du bist mir aber mein Lebtag im Wege gewesen, hast dich immer und ewig zwischen mich und mein Glück gedrängt. Was hattest du bei ihm zu suchen – in der Nacht? Sage es mir doch – jetzt ist ja wohl Zeit dazu. Damals hast du mir die Auskunft verweigert! Warum denn? Weil du ein böses Gewissen hattest! Nun antworte doch? Was wolltest du bei ihm? Ja, wenn er lebendig gewesen wäre und gesund – dann wollte ich gar nicht erst fragen! Aber so möcht' ich es doch wissen!«

Sie hatte einen teuflischen Blick in ihren kalten Augen; es machte ihr Freude, das stille Mädchen mit diesem Blick zu foltern. Sie sog sich an ihrem Anblick immer glühenderen Haß ins Herz. Denn was Anna nicht wußte, das sah Griseldis: Anna war nicht mehr hübsch und lieblich; ihre runden rosigen Wangen waren schmal geworden, ihr Gesicht hatte lange Züge und einen leidenden Ausdruck bekommen, ihre Gestalt an Elastizität verloren, dafür die Haltung einer regenschweren Blüte angenommen. Das Auffallendste an ihr war der feuchte Glanz ihrer schwermütigen Augen, der ein irres Brennen nur schlecht verschleierte. Nein, Anna war nicht mehr hübsch und lieblich – sie war unglücklich und verführerisch – um so verführerischer, je weniger sie es ahnte.

»Warum willst du das durchaus wissen; es kann ja ein guter Geist gewesen sein, der mich zu ihm lockte, um ihn dir zu retten.«

Sie sagte das so einfach wie ein Kind und so müde wie eine Kranke.

Griseldis horchte auf; ihr dünkte, sie höre ihres Gatten Schritt.

»Nun gut,« sagte sie hastig, »du hast ihn gerettet; was willst du noch weiter? Er ist gesund und braucht dich nicht mehr. Ich hoffe, dir geht es auch gut. – Ich kann dich nicht nötigen, hierzubleiben. Karl Friedrich darf noch keinen Besuch empfangen und ich darf ihn nicht so lange verlassen. Also entschuldigst du mich wohl und dehnst deinen Besuch nicht weiter aus.«

Die Worte überstürzten sich, denn die Schritte kamen näher – den Flur entlang.

»Komm hier durch!« rief Griseldis, packte Anna am Handgelenk und zog sie durch das Zimmer der gegenüberliegenden Tür zu. Sie durfte dem Fürsten nicht in die Arme laufen. Anna begriff das alles nicht und widerstrebte dem vergewaltigenden Benehmen.

»Aber, Griseldis – da komme ich doch nicht hinunter – das ist ja –«

»Schweig!« zischte Griseldis – stieß die Tür auf und schob das Mädchen, das vor Staunen ganz willenlos wurde, hindurch und hinaus. Als sie heftig und hastig die Tür zuzog, betrat der Fürst ihr Gemach von derselben Seite, woher vor wenigen Augenblicken Anna erschienen war.

»Was geht denn hier vor? Wo ist sie?«

Er hatte nicht hier hereinkommen wollen; er hatte hinunter gewollt, aber im Vorbeigehen hatte er Annas Stimme gehört – und als er sich vergewissert, daß er nicht träume, war er unverzüglich eingetreten. Ein Fieber schien ihn ergriffen zu haben, seine Augen brannten und funkelten, seine Stimme klang heiser vor Ungeduld und Drohen. Griseldis begann zu zittern; sie wußte, was im Anzug war, wenn er so aussah. Sie wußte, was für eine Macht dazu gehörte, ihn so zu erregen, und sie kannte die Macht, die das jetzt vollbrachte. Sie wußte, daß jetzt alles auf dem Spiele stand.

»Wo ist sie?« wiederholte er lauter und trat mitten ins Zimmer.

»Wen meinst du?« fragte Griseldis kalt, und zwang sich, ihn anzusehen.

»Wo ist sie?« brach er los, und tiefe Glut stieg ihm bis in die Stirn.

»Wo hast du Anna gelassen!«

»Ich habe sie nach Hause geschickt,« klang es trotzig.

Er blieb die Antwort schuldig; sie standen sich gegenüber und maßen sich mit Blicken wie sprungbereite Leoparden.

Als er endlich die Sprache wiederfand, war seine Stimme wie klingendes Eis und ganz ruhig vor übermäßiger Erregtheit.

»Sie hat mich von den fürchterlichsten Todesqualen gerettet, und nun sie in mein Haus kommt, schickst du sie fort, statt, wie es richtig wäre, ihr die Hände unter die Füße zu breiten; behandelst sie wie eine Magd, wo wir alle vor ihr knien müßten. Wenn mir dein Benehmen in all diesen Jahren noch einen Funken von Gefühl für dich übrig gelassen hätte, dieser Augenblick hat ihn gelöscht. – Und jetzt will ich wissen, wo sie ist – denn ich weiß, daß sie hier ist; vor einer Minute noch habe ich ihre Stimme gehört. Wenn du sie nach Hause geschickt hast, so kann sie nur über diesen Flur und diese Treppe ins Freie und nach Hause gelangen. Den Weg hat sie nicht genommen, sonst hätte sie mir begegnen müssen. Du hast sie also versteckt.«

In deutlichem Raten richteten sich seine Blicke auf die gegenüberliegende Tür. Ohne zu wissen, was sie tat, stellte sich Griseldis davor, als wolle sie den Eingang decken.

»Sie ist dort!« fuhr Karl Friedrich fort. »Das Zimmer hat keinen anderen Ausgang – sie muß also noch darin sein. Mach Platz. Wenn du ihr mit Undank lohnst, so will ich ihr danken.«

Aber Griseldis widersetzte sich.

»Es ist mein Zimmer – hier habe ich zu befehlen. Willst du mich in meinen eigenen Räumen entwürdigen!«

Da lachte Karl Friedrich schneidend auf und machte Miene, sie beiseite zu schieben.

Wie der Blitz fuhr Griseldis herum, packte den Schlüssel, drehte ihn um, zog ihn ab, hob ihn hoch empor und rief in triumphierendem Hohn:

»So – nun geh hinein zu deinem Liebchen.«

Aber diesmal hatte ihre Berechnung sie im Stich gelassen. Sie hatte nicht für möglich gehalten, daß geschehen konnte, was nun geschah. Es geschah so schnell und so überraschend, daß sie wehrlos sich überrumpeln ließ. Karl Friedrich wurde kreideweiß vor Zorn. Dann stürzte er sich auf sein Weib wie ein wildes Tier. Er schlug, wohin es traf, riß ihr mit roher Gewalt den Schlüssel aus der Hand und stieß sie wie eine Bettlerin zum Zimmer hinaus auf den Gang.

»Nun wage es noch einmal, du – du –!« Die Stimme versagte ihm.

Er kehrte in das leere Gemach zurück und strich mit der Hand die Haare aus der Stirn. Die Finger zitterten ihm. Er lauschte und hörte, daß Griseldis sich entfernte. Er lauschte nach der anderen Seite und hörte nichts. Da ging er hin, schloß auf und öffnete.

Als er eintrat, stand Anna Stemhofer mitten in dem großen, mit wenig Möbeln eingerichteten, durch zwei verhangene Fenster ungenügend erleuchteten, unbewohnt aussehenden Gemach. Im Anfang war es Karl Friedrichs Privatzimmer gewesen – er war aber schon längst ausgezogen, denn es hatte keinen anderen Zugang als durch das Zimmer seiner Frau. Seitdem hatte es Griseldis für sich eingerichtet, aber sie bewohnte es nicht.

Anna Steinhofer stand mitten auf dem Teppich, sie sah völlig entgeistert aus, kein Tropfen Blut belebte ihr Gesicht, die Augen waren starr und dunkel, die Arme hingen ihr schlaff herab und sie zitterte am ganzen Leibe. Sie rührte sich nicht, als er eintrat, und er wußte, sie hatte alles gehört und alles begriffen.

»Anna,« sagte er, »um Gottes willen, Anna!«

Er streckte ihr die Hände entgegen, aber sie wich zurück.

Er sah sie mit seinen düster brennenden Augen an, die leidvolle Glut schmolz ihre Starrheit. »Anna – sage doch ein einziges Wort! ein erlösendes!«

Sie atmete auf und strich sich über die Stirn.

»Ich will gehen,« sagte sie.

»Nein,« rief er rauh und vertrat ihr den Weg, »du bleibst.« Sie fuhr zusammen; sie sah ihn mit einem unbeschreiblichen Blick an – so, wie ein Opfer den Priester ansieht, der das blanke Messer zückt. Dann fiel sie in einen Stuhl und verbarg das tiefgesenkte Gesicht in den schmalen, blassen Händen.

Er blieb vor ihr stehen und griff sich an die Stirn, als müsse er seine Sinne auf diese Weise zusammenhalten. Es brauste und tobte in ihm. Warum ließ er seiner Leidenschaft nicht freien Lauf, wie eben gegen sein Weib? Warum streckte er die Arme nicht aus nach dieser, wie eben noch gegen jene? Warum ging er nicht mit Gewalt vor gegen Anna, wie er es gegen Griseldis getan?

Er begann noch einmal weich und leise, obgleich seine Stimme vor Ungeduld zitterte:

»Anna, es tut mir leid, was eben geschehen ist – es tut mir noch mehr leid, daß du es gehört hast. Wenn du sie kenntest, würdest du es begreifen. Verzeihe mir, Anna! Anna – fürchtest du dich vor mir?«

Er trat näher und beugte sich zu ihr nieder. Sie nickte.

»Warum fürchtest du dich, Anna! Du hast dich doch vor dem Toten nicht gefürchtet, in den Schrecken jener Nacht! Ich will ja weiter nichts als dir danken dafür, daß du damals gekommen bist und mich gerettet hast. Aber wie ging es zu, daß du kamst? Du konntest doch keine Ahnung davon haben, daß ich nicht wirklich tot war?

– Was wolltest du von mir, Anna?«

Er fragte es in langen Zwischenpausen – immer dringender – immer flehender. Und sie sank immer tiefer in sich zusammen.

»Quält mich nicht!« hauchte sie.

Er versuchte ihr die Hände vom Gesicht zu nehmen

– sie widerstand ihm. Das brachte ihn um seine Selbstbeherrschung. Er faßte sie bei den zarten Gelenken, als wollte er sie zerbrechen – sie mußte nachgeben.

»Ach bitte, laßt mich doch!« flehte sie und sah sich hilfesuchend um, als spähe sie nach einer Gelegenheit, zu entkommen. Er fühlte ihren jagenden Puls, er sah, wie es in ihren Schläfen rastlos klopfte, in ihren Augen flimmerte; er vergaß alles –

»Warum verstellst du dich, Anna! Warum willst du nicht eingestehen, daß du mich liebst!«

»Nein – nein,« wehrte sie sich, wie ein Vögelchen noch in den Fängen des Geiers zappelt und mit den Flügeln schlägt.

»Lüge nicht!« rief er außer sich; er riß sie von dem niedrigen Stuhl empor und zwang sie vor ihm zu stehen.

»Soll ich denn mein ganzes Leben lang belogen werden? Die eine lügt mir vor, daß sie mich liebt, und läßt mich einen langsamen Hungertod sterben – bringt mich zur Raserei mit ihrer Kälte und Härte – und die andere will mir vorlügen, daß sie mich nicht liebt, und mir stehlen, worauf ich ein Recht habe! Aber ich lasse mich nicht länger belügen,« fuhr er leidenschaftlich fort, und seine Worte gingen wie ein Sturm über das zitternde Geschöpf hin, das sich seinem stählernen Griff nicht entwinden konnte.

»Ich will Wahrheit haben – Wahrheit. Und die Wahrheit bist du. Denn Wahrheit ist Liebe! Anna –«

Unwillkürlich sah sie zu ihm auf – halb tot vor Angst und wunderbar seligem Grauen. Der Blick genügte.

Er zog sie an sich, schlang die Arme um sie und küßte sie. Bis sie aufhörte zu widerstreben, bis ihr Kopf auf seine Schulter sank; bis ihre Füße den Halt verloren und sie langsam an ihm niederglitt. Eine kleine Weile hielt er sie noch aufrecht; er merkte nicht ihr Sinken und daß er sie beinah umbrachte mit seiner Wildheit. Er dachte nur an sich.

Plötzlich entglitt sie seinen Armen, kniete auf dem Teppich, wandte sich von ihm ab, vergrub den Kopf in den Sessel, von dem er sie emporgerissen und begann jammervoll zu weinen.

»Barmherziger Gott! was hast du getan!«

Er stand entsetzt und ratlos daneben.

»Anna – aber Anna – liebe Anna!«

Sie weinte nur heftiger; er starrte auf die blaue Samtmütze und auf die blonden Haare, die darunter hervorquollen.

»Ich will es nicht wieder tun, Anna – höre doch auf zu weinen, sieh mich an!« Nochmals wollte er sie aufrichten.

Sie wehrte seine Hände ab; im nächsten Augenblick stand sie aufrecht vor ihm mit einem entschlossenen Gesicht, mit brennenden Wangen und nassen Augen.

»Ich möchte jetzt gehen.«


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