Auguste Supper
Das Mädchen Peter und der Fremde
Auguste Supper

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Nach der, dem Fest des Nachmittags zulieb, etwas abgekürzten Mahlzeit war der Gast auf seinem Zimmer.

Er fühlte sich hier heimisch, als hätte ihn der Geharnischte über dem Bett schon seit Kindheitstagen mit beschirmt. 240

Aber etwas ließ sich nicht leugnen: Das Versprechen, zu bekanntem Zweck um zwei Uhr im Stall zu sein, büßte in der Luft des Raumes an Harmlosigkeit ein.

Der Mann näherte sich wortlos jener einen Stelle, wo jedes Stückchen Zukunft sich vor dem Aufbruch zu melden hat, um seine Marschbefehle und Aufträge entgegenzunehmen.

Darüber fielen ihm die Abendandachten daheim ein. Von dem ungeheuren Stoff des Bibelbuches wurde vom Vater Tag für Tag ein Stückchen abgehackt, als sei das Ganze ein Garn, das im Jahreslauf zu kleinen Fetzen zerschnitten werden müsse. Der Mutter gelegentlicher Einspruch gegen dieses Verfahren konnte wenig oder nichts erreichen.

Nie wanderten die unruhigen Gedanken der drei Pfarrerssöhne besser als bei diesen Lesungen, und wenn es oft nur war, um dem andringenden Schlaf zu entrinnen.

War es doch bei der verfehlten Methode des Vaters geradezu ein glücklicher Zufall, wenn von dem wahllos Gelesenen einmal etwas innerlich anklopfte mit der Macht des Lebendigen, das auf Lebendiges stößt. Weit häufiger blieben die dahinplätschernden Worte beziehungslos und bildeten in der Vorstellung der Haussöhne eine Art Rauchopfer, das hergehörte, um eine geruhsame Nacht zu garantieren.

Einmal aber hatte eine Lesung den Jüngsten, der damals dicht vor dem Studium stand, seltsam aufgerüttelt. 241

Von einer Unstimmigkeit oder Unentschlossenheit der Jünger war die Rede, die die bedrängten Männer dadurch beseitigten, daß sie das Los warfen.

Da war über den jungen Hörer scharf der Gedanke hergefallen, daß nichts den wesenhaften Unterschied zwischen dem Meister und seinen Jüngern greller beleuchten könne als dieser Bericht. Selbst dem Instinktlosesten würde es nicht beikommen, sich Jesus vorzustellen, wie er mit dem Würfelbecher den Willen Gottes zu erforschen sucht.

Aber der Vater, als ihm nach der Lesung diese Gedankengänge seines Jüngsten gutgläubig vorgetragen wurden, hatte nur eine Zurechtweisung dafür übrig gehabt.

Das konnte nicht verhüten, daß Felix Klein von jener Stunde an die klare Überzeugung mit sich herumtrug, daß die letzte und wesenhafte Unterscheidung unter den Menschen die sei, ob sie den Willen Gottes mit irgendeinem Würfelbecher in der Hand oder aber in der eigenen Brust suchen und finden.

Und jetzt nun, in diesen Minuten vor zwei Uhr, ertappte er sich darauf, daß seine Gedanken nach einem Würfelbecher tasteten, obgleich er sich längst entschlossen glaubte. –

Er schüttelte den Kopf in heimlicher Empörung über sich selbst; und als er zögernd die Treppe hinabstieg, um sich in den Stall zu begeben, war seine Stimmung voll Unruhe. Aber 242 sie ahnungsvoll zu heißen, hätte er abgelehnt. So wenig kannte er die Art der Schwingungen in der eigenen Seele.

Von der Stalltür aus sah er Peter in der Box, wie sie an Satans aufgelegtem Sattel schnallte und prüfte.

Rudolf stand daneben und nestelte an einem Maiblumenstrauß, den er an seine Bluse stecken wollte, ohne ganz damit zurechtzukommen. Als er den Eintretenden bemerkte, ließ er die Hände sinken. Sein Gesicht wurde um einen Schein heller. Er warf einen Blick auf den Gast, der besagte: nun bin ich froh, nun übernimmst du die Verantwortung!

Peter wandte sich wortlos um, nickte dem Schwaben zu und steckte den Strauß an Rudolfs Kittel richtig.

»Haben Sie Bedenken, Rudolf?« fragte unwillkürlich der Gast.

Der Wortkarge winkte nach Peter. »Ik hev ihr seggt: ›Bestehe nicht auf deinem eigenen Kopf mit deinem Tun.‹«

Peter reckte sich auf. »Und ich hev ihm seggt: Wenn ein Narr schon etwas Gutes redet, so taugt es doch nicht, denn er redet es nicht zur rechten Zeit.«

Die Widerstandskraft des Knechts schien daraufhin erschöpft. Er half schweigend den Gaul fertig satteln.

»Und wo ist Berti?« fragte sich umschauend der Gast.

»Längst auf der Wiese,« erklärte Peter kurz. 243

»Hei kann's nicht erwarten,« setzte gedämpft der Knecht hinzu.

Peter führte den geschmückten Gaul, Rudolf trug die Stalleiter; in einer Rolle, die ihm nicht auf den Leib geschnitten war, folgte langsam der Gast. Aber wenn man die eigenen Schritte noch so zögernd setzt, – das zum Heraufsteigen kommandierte Stück Zukunft und Schicksal ändert das ihm befohlene Tempo nicht.

Peter deutete nach der im Sonnenglanz liegenden Wiese.

»Berti wartet schon.«

»Also bei der Erle ist der Start?« erkundigte sich der Gast.

»Start und Ziel,« entgegnete Peter, und wie jener berüchtigte Hohepriester wußte sie nicht, daß sie weissagte.

Angestrengt ausschauend murmelte der Knecht: »Hei hat sich hinleggt.«

»Er wird sein bißchen Kraft sammeln,« meinte leise der Schwabe.

Die Tritte der Menschen, die Hufe des Pferdes wurden lautlos im samtweichen jungen Gras. Aber dafür dröhnte etwas Unbegreifliches auf; das unhörbare Warnen einer geisterhaften Uhr, die zum Schlage ausholt.

Langsam erstarrten die Näherschreitenden. Da schlug die Uhr, die keiner sah, die Stunde. 244

Mit den Maiblumen geschmückt, die ihm Peter an den Samtkittel geheftet, lag Berti zurückgesunken im Gras. Als hätten sie schon nicht mehr mit der Erdenzeit zu rechnen, kollerten langsam ein paar Tropfen leuchtenden Blutes am Kinn entlang, der letzte Schlag des vor übergroßer freudiger Erregung gebrochenen Herzens hatte sie herausgetrieben. Die weit offenen dunklen Augen hielten einen unirdischen Glanz fest und über der zur völligen Klarheit entspannten Stirn lag ein tiefer, glückhafter Friede.

Die drei, die den Toten umstanden, waren wie hineingenommen in das Stück Ewigkeit, das sich herabgesenkt hatte.

Und dann geschah das Seltsame: Hellauf wieherte das freigegebene Roß. Mit stolz getragenem Kopf, im spielenden Rhythmus seiner gewaltigen Kraft und dabei merkwürdig behutsam, trabte es die Wiese entlang, rund um die ragende Schwarzerle und zurück zu den dreien, die den Atem anhielten.

Da sank Peter mit leisem Aufweinen in die Knie und legte den Kopf auf des verstummten Bruders Brust.

*

Von dem festlich geschmückten Tisch im Gartenzimmer waren nur noch die grünen Zweige übrig, die Felix Klein auf den stillen Berti häufte, den er mit Rudolfs Hilfe hier aufgebahrt hatte. 245

Draußen sangen die Vögel inbrünstig zu dem schweigsamen Tun, und der strahlende Tag stimmte seine tausendfach jubilierenden Töne nicht herab, weil in Grünhaus eine Saite gerissen war.

Der Hund drängte durch die angelehnte Tür, stieg an dem grünen Lager in die Höhe, um die schmale Hand zu lecken, die ihn so oft gestreichelt hatte. Stumm, mit eingezogener Rute, machte er sich wieder davon.

Um drei Uhr, auf die Minute pünktlich, ein fröhliches Hupenzeichen am Gartentor. Frau Ursel, die sich längst das Kränzchen aus dem Haar genommen hatte, bat mit zitternden Lippen den Gast, die Ankommenden in Empfang zu nehmen und zu unterrichten.

Als er gegen das Tor schritt, dachte der Schwabe benommen: also deshalb das böse Versagen, als ich den Einzug der Gäste herausholen wollte! –

Am Steuer des offenen Wagens saß ein stattlicher barhäuptiger Mann, dessen dunkle gewellte Haare in schönem Ansatz um eine freie und kluge Stirne standen. In den höchst lebensvollen braunen Augen wandelte sich der frohgespannte Blick zu sichtlichem Erstaunen, als sie auf das fremde Gesicht des unvermuteten Pförtners stießen.

Felix Klein trat her und berichtete. Fern und fremd klang ihm dabei die eigene Stimme. 246

Der Mann am Steuer stieg schweigend aus und ging, ohne sich umzublicken, eilenden Schrittes gegen das Haus.

Jetzt klang ein Laut ungläubiger Erschütterung auf. Hatte ihn der zweite Wageninsasse ausgestoßen oder der Pförtner?

Es sahen sich zwei in die Augen, denen ein Wiedersehen in dieser Stunde und an diesem Ort wie ein unbegreifliches Wunder sein mußte.

»Du, Wennberg?«

»Du, Klein?« klang es herüber und hinüber.

Und dann wußten die erschütterten Männer nicht, was sie unter dem hereinstürzenden Schwall der Erinnerungen sagten. Viel war es nicht, wenn nur das gilt, was laut wird.

Als sich der einst so gewandte und sportgeübte Forstmann, der sich zum Maler gewandelt hatte, unter dem Beistand des Freundes aus dem tiefen Wagensitz herausschaffte, zitterte ein Stöhnen auf, das nicht dem Krüppel entschlüpft war. Und als er sich von Felix Klein die Krücken reichen ließ, schaute dieser weg wie in tiefer Scham, denn in des Malers Blicken stand die stumme Bitte: »Nur kein Mitleid! Nur dieses Böseste nicht!«

Das Rätsel des unverhofften Wiedersehens fand eine einfache Lösung: Auf Frau Ursels telephonische Bitte hatte Walter Hutmann den ihm bis dahin nur dem Namen nach bekannten Landsmann aufgesucht und so lange bearbeitet, 247 bis er mitkam. Es war ein Teil des Geburtstagsprogramms von Frau Ursel gewesen, dem versinkenden Bruder in dem Maler eine Hilfe zuzuführen, die ihn herausreiße aus Mut- und Glaubenslosigkeit. Mit tränenfeuchten Augen erklärte sie den Männern den Zusammenhang, und Felix Klein wunderte sich nicht, daß sie hinzufügte: »Es war mir wie eine Botschaft von Großvater, als mir der Gedanke kam.«

Im hellen Eßzimmer saß jetzt Frau Ursel mit den Gästen.

Die Worte, die fielen, hatten wohl den dunklen Unterton der frischen Trauer, aber sie klangen dennoch gut und stark und aus jener Tonart, die Leidgeprüfte dem Tod gegenüber finden.

Felix Klein musterte immer wieder des Doktors Gesicht. Man möchte, wenn ein Trio sich auflöst, doch auch wissen, wohin die einzelnen Stimmen verschlagen werden.

Der dunkelhaarige Kopf gefiel ihm. Schwabentyp mit irgendeinem fernen Einschlag, der die Schwere auflockerte und eleganter machte. Klugheit und Energie sprachen daraus und das, was die Mutter ›Güte mit Vorbehalt‹ zu nennen pflegte, um es von der ihr verhaßten Gutmütigkeit abzugrenzen. Auch der Schalk, der den Wegweiser bekritzelt und Peter angeulkt hatte, war zu entdecken, wenn er sich auch in dieser Stunde versteckt hielt und eher geahnt, als gesehen werden konnte. 248

»Wo ist eigentlich Peter? Ich sah sie ja noch gar nicht,« sagte in diesem Augenblick der Arzt.

Allen kam offenbar jetzt erst zum Bewußtsein, daß Peter nicht da war.

»Sie wird bei Berti sein,« vermutete Monika, die mit verweintem Gesicht Teller und Tassen brachte.

Felix Klein erklärte, daß er sie suchen werde. Es war nun schon sein Amt an diesem Tag, Peter zu suchen. Und es bedeutete ihm kein Opfer. Das erste Zusammensein mit dem Freund in der Stunde eines Leids, das, gemessen am Schicksal des Kriegskrüppels, verblassen mußte, quälte ihn auf eine unbestimmte Weise, als sei er gezwungen, auf jedem Ohr eine andere Musik zu hören.

Dazu kam er sich kraftlos und armselig vor neben des Kriegskameraden gelassener Ruhe, der kein Mensch mehr anspüren konnte, wie schwer sie errungen war.

Er mußte ein Grauen von sich abwehren bei dem bloßen Gedanken, es werde ihm auferlegt, seinen gesunden leistungsfähigen Körper gegen das Los des Freundes auszutauschen. Auch wenn ihm dann die Fülle der Musik geschenkt wäre, dieser unirdische Reichtum, der sich um so lockender ausbreitete, je mehr Hindernisse sich entgegentürmten, – auch dann konnte er kein Ja zu dem Tausch aufbringen.

Leise trat er ins Gartenzimmer. 249

Ganz Kind geworden lag der friedliche Schläfer, der nicht Mann hatte werden dürfen. Niemand war bei ihm.

Still verharrte der Schwabe neben dem grünen Lager. Da trat eine große Klarheit zu ihm. Deutlich ward ihm bewußt, daß es, wenn einer der Kunst in jener echten Weise dienen will, die allein Licht und Wärme in die Dunkelheit der Erde tragen kann, – daß es dann mit der Bereitschaft zu kleinen Opfern, etwa zu gelegentlichem Hungern und Frieren, nicht getan ist. –

Berti, dachte er aufgeschreckt, hast du mir das zu sagen?

Als er ins Freie trat, wußte er, daß der Musikertraum ausgeträumt wäre, auch wenn Tante Annas Vermächtnis sich nicht in Papierfetzen aufgelöst hätte.

Er ging nach dem Stall. Mit hängendem Kopf stand der abgesattelte Gaul. Alles Grün war von den Wänden entfernt, nur das Fähnlein klebte noch vergessen in einer Mauerfuge.

Dem Mann war es wie gütlicher und tröstlicher Zuspruch: Sieh, es kommt so manches anders, als man wünscht und denkt; und gar vieles geht draußen und in der Seele unter. Aber was meine ernsten und heiligen Farben symbolisieren, das bleibt und dauert. –

Rudolf kam. Auf seinem Gesicht stand Leid.

»Haben Sie abgesattelt?« fragte der Gast. 250

»Peter.«

»Wissen Sie, wo sie ist?«

»Sie hat das Grünzeug zu Berti getragen.«

»Ich komme von drüben, sie ist nicht mehr dort.«

Nachdenklich stand der Knecht. Auf einmal belebten sich seine Augen, und wie immer, wenn ihn kein äußerer Grund davon abbrachte, kam er ins Platt: »Hei gung tauletzt nah de Sandkuhl – –«

Eine gute Eingebung ließ den Schwaben begreifen, daß das hieß: »Großvater ging in solchen Fällen zur Sandgrube.« –

Daß er daran nicht selbst gedacht hatte! Dort draußen, wo die Ewigkeit so deutlich nahe war, mußte gut weilen sein, wenn die Vergänglichkeit schrecken wollte.

Er ging den einsamen Weg. Ohne das quälende Sichabmühen und Plänemachen der letzten Zeit dachte er an seine Zukunft.

Daß sie verhüllt war, kümmerte ihn nicht mehr. Jeder Tag, jede Stunde hat ja kein anderes Amt, als diese Hüllen um ein Stück zu lüften. Gelassenheit, diese merkwürdige Frucht, die nicht geschüttelt und nicht gepflückt werden kann, rollte ihm als Geschenk vor die Füße. War's Großvaters, – war's Bertis Geschenk? –

Als er in das Gehölz eintrat, fiel ihm ein altes Wort ein, 251 das er irgendwo gelesen hatte: Und da sah ich aller Kreatur ins Herz und sah Gott selbst als aller Kreatur Zentrum.

Eine heilige Andacht schien aus den hohen Föhrenwipfeln herniederzuströmen, so daß er fast zögernd vorwärtsging.

Am Rand der Sandgrube saß Peter. Ihr blasses Gesicht mit den scheuen Augen, die ihm entgegenblickten, tat ihm weh.

Erschreckt dachte er: woher nehme ich das Recht, ihr diese Stunde zu stören! –

»Peter,« sagte er nähertretend, »man vermißt dich. Möchtest du nicht kommen?«

Sie stand sofort auf. Ein ratloser, verstörter Ausdruck, als sei sie aus tiefem Schlaf jäh geweckt worden, trat auf das junge Gesicht.

Jetzt stammelte sie, an sich hinunterblickend: »Ich kann doch nicht kommen. Sagen Sie Ursel, daß ich nicht kommen kann.«

Ach so, dachte er mit heimlicher Befriedigung, ihr Burschengewand vor den andern Männern! –

Der Sicherheit halber aber fragte er doch: »Warum kannst du nicht kommen?«

Sie atmete tief auf. Aber sie gab keine Antwort. Nach einer Weile setzte sie sich wieder.

Ihm war es jetzt selbstverständlich, sich zu ihr zu setzen. 252

Als sie stumm und ohne Regung auf die Sandwände starrte, wurde ihm bang. »Peter,« sagte er leise, »du wirst dir doch nicht etwa Vorwürfe machen?«

Sie drehte den Kopf. In ihre Augen trat das Verstehen und dann ein Aufblitzten. »Vorwürfe? Worüber? Etwa weil ich zu spät kam mit meiner Freude? – Das ist doch nicht meine Schuld.«

Als er schwieg, reckte sie sich und ihr Blick leuchtete. »Und wenn Bertis Herz zersprungen wäre, als er auf Satans Rücken saß – Vorwürfe würde ich mir nicht machen. Einen schöneren Tod kann ihm niemand wünschen, als daß er an zu viel Freude sterben durfte.«

Dem Mann war, als bedeute der kühle Hauch aus der Sandgrube Zustimmung. Ohne daß er sich dafür verspottete, wurde das Gefühl in ihm stärker, daß in diesem Grünhaus, in seinem stillen Garten und seiner alten Sandgrube Grenzgebiet sei, wo man gelegentlich Lichter von drüben aufblitzen sieht und ferne Laute vernimmt.

Nach langer Zeit erst wagte er noch einmal zu fragen: »Willst du nicht heimkommen, Peter?«

Still kam's: »Ich bin auch hier daheim.«

»Aber wenn nachher die Gäste wegfahren, ist deine Schwester allein.«

»Fahren Sie auch weg?« klang es erschrocken. 253

Ihm tat die Tonart wohl. Die Gefahr lag so nahe, daß er jetzt störend sei.

»Ich werde wohl,« entgegnete er.

»Es gefällt Ihnen natürlich jetzt nicht mehr in Grünhaus?«

»Du schätzest mich niedrig ein, Peter.«

Nach einer Weile des Schweigens merkte er, daß sie weinte. Ganz lautlos ging es vor sich.

Ein schweres Unbehagen überfiel ihn. Er hatte nicht den Mut, zu zeigen, daß er dieses Weinen bemerkte.

Endlich sagte er: »Peter, wenn du glaubst, daß ich hier noch etwas helfen kann, bleibe ich gerne. Nur lästig fallen will ich nicht.«

Mit einer Demut, die er nicht an ihr gewöhnt war, entgegnete sie: »Wir wollen Ursel fragen.«

Ihm wäre lieber gewesen, wenn sie von sich aus entschieden hätte. Aber dann schlug er vor: »Also gut. Komm mit, wir wollen fragen.«

»Eilt es so sehr?« kam es matt.

»Ich weiß nicht, wann Doktor Hutmann fahren will.«

»Sie sind doch gut zu Fuß. Wandern ist tausendmal schöner als fahren.«

Er bemerkte mit heimlicher Freude ihren belebteren Ton 254 und bemühte sich, mitzutun. »Bist du denn überhaupt schon Auto gefahren?«

»Natürlich. Damals, als mich Großvater von meinem Pastor wegholte.«

»Ach so! Nun, damals steckte dir dein Pastor noch in den Nerven, sonst hätte dir die Fahrt sicherlich gefallen.«

»Mag sein,« gab sie nach einer Weile nachdenklich zu, »alles ist ja immer so, wie es inwendig in uns aussieht.«

»Auch das hast du schon gemerkt? Es ist reichlich früh für dich.«

Sie ging darüber weg. Mit verfinstertem Gesicht erklärte sie: »Damals hätte ich die Welt an allen vier Ecken anzünden mögen.«

Er lachte auf. »Glaubst du, daß sich das lohnen würde um einen ungeschickten Pastor? Es gibt schrecklichere Dinge. Und überdies heißt es allgemein, die Welt sei rund.«

Sein Scherz glitt an ihr ab. Schwer sagte sie: »Er hat Großvater erzählt, mir sei nichts heilig und ich kenne keine Ehrfurcht.«

Jetzt verdunkelte sich auch sein Blick. »Das wäre allerdings schlimm. Mir scheint, Schlimmeres läßt sich von einem Menschen nicht sagen. Wie kommt der Mann dazu, dir das vorzuwerfen?« 255

»Wie er dazu kommt? Er sah doch immer nur sich selbst, daher nahm er sein Urteil.«

So vernichtend hart hatte das geklungen, daß der Mann still blieb, weil er spürte, daß es am besten war, die Entladung dieser starken Spannung nicht zu stören.

Sie fuhr erregt fort: »Kein Mensch kann doch wissen, was dem andern heilig ist und wovor er Ehrfurcht hat! Nicht jedem ist es gegeben, seine Heiligtümer aus dem Fenster zu hängen, und vollends nicht, zu verlangen, daß alle Vorübergehenden Reverenz davor machen, wie das mein Pastor im Brauch hatte.«

Er blickte sie unverwandt an. Ihre achtzehn Jahre suchte er in dem jungen Gesicht, in dem die schönen dunklen Augen brannten. Aber er fand einen Menschen, der über seine Erdenjahre hinaus zurechtgehämmert war von schweren Schlägen des Schicksals.

In ein langes Schweigen hinein sagte er endlich: »Dein Pastor ist da persönlich gar nicht so sehr verantwortlich. Was dich empörte, hat seine Wurzeln nicht in ihm allein.«

Sie schaute in die Föhrenwipfel hinauf, die dunkel in den blauen Himmel ragten. Es war schwer zu entscheiden, ob sie ihn gehört und verstanden habe.

Langsam trat ein verlorenes Lächeln auf ihr Gesicht. 256 »Ob Berti jetzt bei Großvater ist? – Ob er ihm erzählt, daß er hätte reiten dürfen?«

Der Mann hütete sich, ihr schönes Träumen und Mutmaßen zu stören. Auch ihm schien sie so nahe, die unsichtbare Welt, daß wohl die Versuchung herantreten konnte, hinüberzutasten. Hatte er es nach der Brüder, nach der Mutter Tod nicht immer wieder heimlich getan, und war ihm nicht manches im Gedächtnis, das er schweigend bewahrte wie eine Kostbarkeit, weil es viel zu hauchzart war, um in Worte gefaßt zu werden? –

Jetzt kam ein Vogelruf aus dem Holz.

Peter schaute sich wie erwachend um. »Das war der Pirol, der ist heute gekommen,« sagte sie mit klarer Bestimmtheit, die anzeigte, daß sie wieder ganz bei den Dingen der Erde war.

Sie horchten beide auf den klingenden Märchenruf, der aus einem fernen ewigen Frühling herzukommen scheint.

»Der Pirol ist der Vogel, der die meisten Geheimnisse weiß,« erklärte Peter.

Vielleicht der Vogel, der an die meisten Geheimnisse in uns rührt, dachte der Mann. Laut aber sagte er: »Welches Geheimnis möchtest du von ihm erfragen, wenn es dir freistünde?«

Sie besann sich eine Weile. »Wo ich siedeln soll,« kam es dann. 257

»Da braucht es keinen Pirol. Das kann ich dir sagen: in Grünhaus, wenn deine Schwester heiratet.«

Jäh hob sie den Kopf. »Sie hat wohl gar mit Ihnen darüber gesprochen?«

»Sie hat mir gesagt, daß Doktor Hutmann ihr Verlobter sei, wenn auch erst heimlich.«

»Alle Wetter! Sie muß viel gutes Zutrauen zu Ihnen haben! Wahrscheinlich, weil Sie Schwabe sind.«

»Sonst könntest du dir keinen Grund denken?«

Sie zuckte die Achseln. »Eigentlich nicht.«

Er war froh, daß ihr Temperament wieder zum Durchbruch kam. Lachend meinte er: »Du bist mehr ehrlich als höflich.«

»Besser als umgekehrt. Wissen Sie übrigens die Anschrift von Ludwig Schwämmle?«

»Was willst du denn von dem?«

»Sie sagen doch, er sei ein tüchtiger Kerl. Einen tüchtigen Kerl muß ich hier haben, wenn Ursel weg ist. Mit Rudolf allein schaff ich es nicht, weil ich dann natürlich auch die Bücher zu führen habe. Ich nehme dazu noch an einem Kurs in K. teil. Wenn Ursel einmal dort wohnt, kann ich das leicht. Die Kurse sind abends, dann bleibe ich natürlich bei Hutmanns über Nacht.«

Sie sprach so selbstverständlich und bestimmt, als sei gar 258 keine andere Lösung möglich und als sei sie schon völlig mit der neuen Lage vertraut.

»Schad,« sagte der Mann, »daß du nicht Soldat bist. Du verstehst schnelle Entschlüsse zu fassen.«

»Also die Anschrift von Ludwig Schwämmle?«

»Ich weiß sie leider nicht. Frage meinen Freund Wennberg, er könnte sie vielleicht wissen.«

»Wennberg, Oberleutnant Wennberg? Bei dem Heinecke Bursche war?«

»Ich denke, es wird der sein.«

Sie fuhr auf. »Das muß ich Heinecke sagen.«

»Aber doch heute nicht,« wehrte er ab.

Ein erschreckter hilfloser Ausdruck lief über ihr Gesicht, als sei ihr Leid wieder über sie hergefallen. Dann schüttelte sie den Kopf. »Nein, Oberleutnant Wennberg mag ich nicht fragen.«

»Warum denn nicht?«

»Es würde ihn natürlich an die Zeit erinnern, als er noch ein gesunder Mann war.«

Er dankte ihr im stillen das warme Wort. »Du darfst ihn ruhig fragen,« sagte er, »er ist stark genug, um keine Erinnerung zu scheuen. Seine Kunst entschädigt ihn für das Verlorene.«

Sie blickte vor sich hin. »Komisch! – Ich kann das 259 nicht begreifen! Wenn ich nie mehr in Feld und Garten arbeiten, nie mehr mit Satan ausfahren, nie mehr nach den Vögeln schauen dürfte, wie sie ihre Nester mit Blumen ausschmücken –« – als sei ihr widersprochen worden, unterbrach sie sich: »Jawohl, das tun viele, wenn es auch mein Pastor nicht glaubte. Aber Kind, sagte er, du bleibst ja nicht bei der Wahrheit! Das meinte er natürlich, weil sich seine Wahrheiten nie um die Wirklichkeit kümmerten – ja und wenn nun das alles zu Ende wäre, und ich dürfte noch so schön malen – mir wäre nicht geholfen.«

Er rückte ihr näher. »Glaubst du, mir gehe es anders? Früher habe ich wohl gedacht, wenn ich Musiker werden dürfte, wollte ich gern gelegentlich hungern oder frieren, wie es mir mein Vater prophezeite. Aber es schaudert mich, wenn ich denke: nie mehr auf einen Gaul kommen, nie mehr mit gesunden Gliedern in den Morgen hineinwandern, nie mehr durch wachsende Saat und taunasse Wiesen streifen – nein – ich könnte es nicht und wenn ein Beethoven aus mir würde –«

Sie schwiegen beide in einer Erregung, als sei ihnen die harte Wahl tatsächlich soeben angeboten worden.

Endlich sagte Peter mit schwerem Atemzug: »Das bedeutet, daß Sie nicht zum Musizieren auf der Welt sind und ich nicht zum Malen. – Großvater sagt: Das Wichtigste sei, herauszufinden, wozu man auf der Welt ist.« 260

Als er schwieg, sagte sie trüb vor sich hin: »Zu was wohl Berti auf der Welt war?«

Der Mann blickte her. »Gut, daß du das dich und nicht mich gefragt hast.«

»Und wenn ich Sie gefragt hätte?«

»Dann müßte ich sagen: darauf können und dürfen Menschen keine Antwort geben.«

»So,« entgegnete sie mit verfinstertem Gesicht, »aber mein Pastor hätte todsicher trotzdem geantwortet. Das war seine Stärke, eine Antwort zu wissen, wo Menschen keine wissen können.«

Es sprach eine so zornige Bitterkeit und Empörung aus dem jungen Mund, daß es sich dem Mann erschreckend aufdrängte, wie viel schlimme Erfahrungen hinter diesem Ausbruch lagen. Er versuchte zu begütigen. »Aber Peter, das braucht dich doch nicht so zu erregen. Es gibt in jedem Stand räudige Schafe. Du hast jetzt eben Pech gehabt. Hättest du meinen Theo gekannt oder meinen besten Freund, meinen Hans Veigele – du würdest ganz anders reden.«

Sie machte eine Bewegung, die anzeigte, daß ihr Groll nicht beschwichtigt war.

»Glaube mir,« fuhr der Mann fort, »die beiden hättest du gelten lassen.«

»Aber sie vielleicht mich nicht,« kam es unbesänftigt. 261

»Doch, sie dich auch. Das war ihre stärkste Seite, das Geltenlassen.«

Sie schüttelte den Kopf. »Dann waren es gar keine richtigen Pastoren.«

Es klang bei aller Feindseligkeit so altklug und kindlich, daß der Mann ein Lachen verbeißen mußte.

»Du irrst dich, Peter. Gerade darum waren sie richtige Pastoren. Mit ihnen hättest du dich sicher verstanden. Ihr wäret euch nicht in die Haare gekommen. Das kann ich doch beurteilen.«

Sie seufzte tief auf. »Ich glaube nicht,« stieß sie trüb hervor, wie in großer Hoffnungslosigkeit.

Jetzt lachte er hell. »Peter, laß den Mut nicht sinken! Es geschehen immer noch Zeichen und Wunder, vielleicht findet sich doch noch einmal ein Pastor, der deinen Beifall hat.«

Sie schien seinen Spott nicht zu hören. »Wenn einer käme wie Großvater,« sagte sie ernst und versonnen.

Da wurde auch er wieder ernst, und sie saßen stumm und versunken. Jetzt klang aus nächster Nähe ein seltsamer Laut. Das Hämmern des Spechts, dieses einzigartige Liebeslied, dessen Kraft und rasendes Tempo es rätselhaft erscheinen läßt, daß ein Vogel der Urheber sein soll.

Wie elektrisiert hob Peter den Kopf. Alles Bittere, alle Müdigkeit schien von ihr abgefallen. Mit von Freude 262 überglänztem Gesicht schaute sie nach dem eifrigen Gesellen, dessen schönes Gefieder sich von dem Baumstamm abhob.

In tiefer Erregung legte sie selbstvergessen die Hand auf des Mannes Arm. »Der Specht,« sagte sie fast atemlos. Und dann: »Den letzten, den ich sah, zeigte mir Großvater. Dabei hat er mir den Spruch gesagt: Es ist kein Tier, das nicht auf seine Weise den ewgen Schöpfer alles Lebens preise. Des Spechtes Hämmern und des Kuckucks Ruf, sie künden von dem einen, der sie schuf – –«

Sie sprang empor, als schäme sie sich ihrer Ergriffenheit.

»Gehen wir!« sagte sie rauhen Tons.

Auch er erhob sich. Und doch gingen sie nicht. Es war, als seien sie festgehalten in der Einsamkeit.

Vielleicht wartete unbewußt eines auf ein Wort des andern und dieses Wort war noch nicht erdenreif, sondern umspielte erst als zarter Hauch die beiden Herzen.

Endlich wandte sich Peter und trat hinaus auf den Weg, gefolgt von dem Gefährten.

Aus enger Kehle heraus sagte jetzt der Schwabe: »Ich werde also mit deiner Schwester reden. Wahrscheinlich gehe ich heute abend weg. Wollen wir uns dann nicht schon jetzt Lebewohl sagen?«

Sie wurde rot und blaß. »Aber es gibt doch jetzt so viel zu besorgen – –« 263

»Das macht Doktor Hutmann. Sie haben alles schon abgesprochen. Er weiß da gut Bescheid. Bertis Urne soll zu der von Großvater in den Garten kommen.«

»Und meine auch einmal,« warf sie leise hin.

»Das hat Zeit.«

Schweigend schritten sie aus. Jetzt sagte sie: »Wissen Sie auch schon, wo Sie einmal begraben werden?«

»Darüber dachte ich noch nie nach. Ich habe auch weiter keine Wünsche. Nur deutsche Erde sollte es sein.«

Sie nickte. »Dann siedeln Sie nur nicht zu nahe an der Grenze!«

»Siedeln – ich? Vorläufig habe ich nicht die Absicht. Ich sagte dir doch, daß ich in Berlin in eine Bank eintrete.«

Sie schüttelte den Kopf: »Ich würde es nicht tun.«

Der Rat klang so kindlich und dabei doch so eindringlich und ernst, daß der Mann nicht darüber lächeln konnte.

Weil er still blieb, fuhr sie fort: »Als Pastorensohn liegt Ihnen doch gewiß Rechnen und Geldzählen nicht im Blut. Das wenigstens kann man den Herren nicht nachsagen, daß sie Rechner und Geldzähler seien.«

Jetzt konnte er ein Lachen nicht mehr zurückhalten. »Also eine gute Seite gestehst du ihnen doch zu?«

»Ich sage es alles so, wie ich es erfahren habe,« entgegnete 264 sie mit seltsamer Einfachheit und Entschiedenheit, die ihn rasch wieder ernst werden ließ.

»Wie ist eigentlich Ihr Vater?« fragte sie nach langem Schweigen.

Er verhielt unwillkürlich den Schritt. Die Pistole war ihm auf die Brust gesetzt in einer Sache, der er sich sonst beständig zu entwinden suchte.

Mühsam sagte er: »Mein Vater. – Ja, wie kann ich dir das erklären? – Mein Vater ist so, daß meine Mutter immer nötig war, um die Stöße aufzufangen zwischen ihm und den Söhnen. Besonders zwischen ihm und mir. Seit sie starb – –« Er schwieg und sein Blick war dunkel und leidvoll.

Sie trat dicht zu ihm, wie um ihre treue Kameradschaft zu zeigen. Streitbar und kurz sagte sie: »Also auch so einer.«

Er schüttelte den Kopf. »Nicht wie du meinst. Deinem Pastor gleicht er nicht. – Wie soll ich es dir nur deutlich machen? – Denke dir einen stillen und herben Mann, der mit der Bibel in einer Klause sitzt und über Gott spekuliert. Darüber kann er natürlich nicht merken, daß man noch ganz andere Begegnungen mit Gott haben kann. – Ja, das ist's: er merkt nicht, daß Gott in allem Geschehen von einer Zeit in die andere schreitet und mit jeder in ihrer Sprache redet.« 265

Sicherer und freier hatte er zuletzt gesprochen, als sei ihm unter seiner Rede manches selbst erst recht klar geworden.

»Und Ihre Mutter?« fragte Peter leise, als er lange schwieg.

Ein heller Schein ging über sein Gesicht. »Meine Mutter – ach Peter, ich glaube, meine Mutter war mir das, was dir Großvater war.«

»Ist,« korrigierte sie kurz und mit aufglänzenden Augen.

Im Weiterschreiten meinte sie: »Es ist wohl recht gut, daß Grünhaus weit weg ist von Riedorf.«

»Ja,« gab er zu, »und Berlin noch weiter.«

»Ach nein, nicht Berlin! Es gibt doch so viele Plätze zum Siedeln.«

»Aber Peterlein, auch wenn ich wollte, – du weißt doch: man braucht Geld dazu! Das muß ich mir erst in Berlin verdienen.«

Sie machte eine wegwerfende Gebärde. »Geld. Ursel hat genug Geld von ihrer Mutter her. Ihre Vettern haben es in der Fabrik, da geht es nicht kaputt. Sie leiht Ihnen sicher. Sie müssen Zins zahlen, natürlich.«

Der Eifer, mit dem sie redete, ließ kein Spotten zu. Auf ihren sprechenden Zügen arbeitete es, als jagten sich die Pläne.

»Sie pachten sich Land. Aber natürlich nicht unter fünfhundert Tagwerk, weil Schafweide und Moor dabei ist.« 266

»Woher weißt du denn das?«

»Ich kenne doch die ganze Gegend hier herum.«

»Also hier herum muß es sein?«

Die Frage überhörend fuhr sie fort: »Dann lassen Sie Ludwig Schwämmle kommen.«

»Aber den brauchst doch du!«

»Erst müssen Sie in Ordnung sein. Ich helfe mir schon durch. Wenn ich nun doch scheint's in Grünhaus bleibe, so ist das ja gar nicht richtig gesiedelt.«

»Oho! Du meinst wohl, siedeln könne nur ein Uranfang sein mit selbstgezimmertem Haus und auszutrocknenden Sümpfen? Ich denke, ein Stück Land in der Einsamkeit so gut im Schwung haben wie euer Grünhaus, das kann mitzählen.«

Das Lob tat ihr sichtlich wohl; ihre Augen glänzten auf. »Glauben Sie, daß es Großvater für voll gelten läßt?«

»Da ist kein Zweifel. Ich glaube, er hat überhaupt an nichts anderes für dich gedacht. Du und Grünhaus, ihr gehört zusammen.«

Ein warmer Blick dankte ihm. Nachdenklich kam's: »Dann ist es vielleicht gut, daß Ursel Walter Hutmann heiratet?«

»Ausgezeichnet finde ich das.« 267

Leises Mißtrauen überflog ihr Gesicht: »Aber Sie kennen ihn ja noch gar nicht richtig.«

Er lachte. »Wie lange meinst du eigentlich, daß ich brauche, um einen Landsmann zu kennen? Man sieht ihm ja am Kopf an, was mit ihm los ist.«

»Aber nicht alles,« beharrte sie.

»Nein, alles nicht. Manches muß man auch am Wegweiser ablesen.«

Erst blickte sie verständnislos, dann färbte sich ihr Gesicht und ihre Augen flammten feindselig. »Das scheint Sie ja mächtig zu freuen.«

Als er vergnügt bejahte, kam es verächtlich: »Großartig, daß es einen Artillerieleutnant und einen Doktor befriedigt, wenn ich auf Dinge hereinfalle, die ich nicht besser wissen kann! Großvater hat es da ganz anders gehalten und dabei hat er doch viel mehr gewußt als ihr beide zusammen.«

Sie gefiel ihm außerordentlich in ihrer heißen Empörung, aber er hielt es trotzdem für gut, einzulenken.

»Nimm's nicht so schwer, Peter! Ein guter Kamerad muß Spaß verstehen!«

Sie machte eine wegwerfende Bewegung. »Die, die immer verlangen, daß man Spaß verstehe, verstehen selbst am wenigsten.«

Er lachte auf. »Mensch, vor dir könnte man Angst 268 bekommen, so viel Lebensweisheit hast du schon in dir aufgespeichert.«

Dabei nahm er vorsichtig ihre Hand, die sie ihm zu seinem eigenen Erstaunen ließ, als müsse das so sein.

»Glauben Sie, daß Ludwig Schwämmle kommen wird?« fragte sie jetzt.

»Du hast scheint's einen mächtigen Glauben an ihn,« entgegnete er mit leiser Gereiztheit über ihr zähes Beharren.

»Hab ich auch! Wenn ihn doch Rudolf und Heinecke loben, dann ist er richtig, denn die beiden sind fromm.«

Betroffen blickte er sie an. »Das gilt gerade dir so viel?«

»Wundern Sie sich?«

»Ich hätte es allerdings nicht vermutet.«

»Dann haben Sie mich schlecht verstanden,« sagte sie kurz.

Der Mann blieb jetzt stehen, ohne ihre Hand freizugeben.

»Ludwig Schwämmle müßte nach meinem Gefühl em rechter Tropf sein, wenn er sein angefangenes Werk im Stich ließe. Seinem Boden und seiner Ackerscholle läuft man nicht davon und überläßt sie ihrem Schicksal. Das würde dir Großvater auch gesagt haben. Mein Schwämmle – soweit kenne ich ihn – bleibt auf Posten, da mag pfeifen, wer will.«

Peter schaute weg. »Aber Sie können doch nicht allein –«

»Nach Berlin tippeln, meinst du?« 269

»Sie müssen doch jemand haben, der mit Gäulen umgehen und das Vieh besorgen kann und der Stellmacherarbeit versteht.«

Ihre vibrierende Stimme brannte sich in ihn ein. Den Betrug, der doch nie ein richtiger Betrug gewesen war, riß er wie eine Waffe an sich und sagte gezwungen lachend: »Wenn deine Kluft nicht wäre, ich würde dich für ein Mädel halten, so zäh bist du. Ich siedle nicht und ich brauche Ludwig Schwämmle nicht. Du hast Rudolf und in ein paar Jahren – – –«

Sie kehrte ihm rasch das blasse Gesicht zu. »In ein paar Jahren?«

Alles Blut strömte ihm zum Herzen. In seinen Ohren dröhnte es: »Befehl von der Batterie: auf Mädels wird nicht geschossen!«

Beherrscht sagte er: »In ein paar Jahren brauchst du außer Rudolf und Monika keine Hilfe mehr.«

In merkwürdiger Klarheit blickten ihre Augen zu ihm auf. Dann deutete sie nach der sinkenden Sonne und sagte still: »Bertis letzter Geburtstag ist jetzt vorbei, ich kann ihm keine Wünsche mehr erfüllen.«

Ein Gefühl tiefer Demütigung überkam den Mann. Ihm war, als hätte sie gesagt: wenn ich betrog, ich tat's um Bertis willen! – welches waren eigentlich deine Motive? 270

Er drückte ihre Hand. »Petronella!« sagte er leise und ihm war, als hätte er damit Reue und Buße getan, so inbrünstig wie noch nie.

Sie senkte den Kopf und deckte die freie Hand vor die Augen.

Er nahm diese Hand. Langsam führte er sie an die Lippen und dabei war sein Blick, wie der ihre, verdunkelt.

Um sie her lag das frühlingsgrüne Land, das zu Grünhaus gehörte und auf das sich das leise Nahen des Abends senkte. Wie durchpulst von geheimen Lebensströmen breitete es sich aus und sein Atem schien zu sagen: Heimat!

Da wußten die zwei zuletzt nicht mehr, war dieses Pulsen und Strömen drinnen oder draußen, so schien ihr junges Leben eins geworden mit allem.

Wie ein Erwachen kam es endlich über beide. Peter sagte leise: »Ich muß doch Walter Hutmann zu Heineckes Lenchen bringen, ich habe es Heinecke versprochen.«

»Und ich muß noch meine Sachen packen,« erklärte ebenso leise der Mann. Es war ein banger Blick aus zwei Augenpaaren, der besagte: muß es denn sein? –

Dann riß sich der Mann zusammen. »Lebewohl, Peter! Es waren schöne Tage, ich danke dir!« sagte er mühsam. Und als sie stumm und blaß ins Weite schaute, setzte er noch hinzu: »Ich werde dich auch nie vergessen.« 271 Tränen, von denen sie vielleicht nichts wußte, rollten über ihr Gesicht.

»Wissen Sie es denn ganz gewiß?« flüsterte sie hilflos.

»Was meinst du?«

»Wissen Sie ganz gewiß, daß Sie zur Bank müssen?«

Seine Augen schweiften über die Frühlingswelt. Ihm war, als höre er in der Ferne Gefängnistore knarren, die sich auftaten, um ihn einzuschlucken.

»Ach, Peterlein,« entfuhr es ihm, »jetzt sollte man Großvater fragen können.«

Sie nickte. »Ich werde fragen.«

»Hinten im Garten?«

»Immer.«

Er nahm wieder ihre Hand in die seine: »Du schreibst mir dann?«

»Ich weiß doch nicht wohin.«

»Das lasse ich dich wissen; ich werde ja auch an Frau Ursel schreiben.«

Ihre Hand zuckte. »Ach, wozu denn? Sie hat doch Walter Hutmann.«

Bei dem Ton war ihm, als höre er ein vertrautes Hauptmotiv wieder auftauchen, und sein Herz lachte.

Langsam kamen sie Grünhaus näher. Je mehr sich die 272 mächtige Pappelkrone aus der Senke hob, desto zögernder wurden ihre Schritte.

Jetzt sagte Peter: »Großvater hat nun Berti. Dafür hat er Sie nach Grünhaus geführt, er läßt mich nie im Stich.«

Es klang so innig und dabei so fern von jedem unfeinen Entgegenkommen, daß es den Mann seltsam bewegte.

»Ich darf von jetzt an dein Freund sein?« fragte er leise.

Sie nickte.

»Und du wirst oft an mich denken?«

»Jeden Tag.«

»In der Frühe oder Abends? Ich muß das wissen, damit unsere Gedanken sich begegnen können.«

»In der Frühe und Abends,« versicherte sie und blickte ihn ehrlich an, indes ihr blasses Gesicht sich langsam färbte.

War es seine Schuld, daß jener Befehl von der Batterie nur noch leis und ferne hallte? –

»Muß ich dann immer Fräulein Petronella schreiben und Sie?«

Blutbegossen schaute sie weg.

In diesem Augenblick flog Großvaters schöner Vogel über den Weg. Hell und freudig glänzte das Weiß auf Schwingen und Rücken. Wie ein elektrischer Schlag durchzuckte es Peter. Die Dämpfung, die über ihr gelegen, wich dem alten Temperament. 273

»Haben Sie ihn gesehen? Er trug etwas im Schnabel. Er bringt es dem brütenden Weibchen.«

»Der hat das gut machen, er muß ja nicht zur Bank.«

Sie lachte hell. Und hell klang es, als sie sagte: »Schreiben Sie nur immer Peter und du. Es ist ganz gewiß nach Großvaters Sinn.«

Er drückte ihre Hand. »Und nach deinem – –?«

Mit glücklichen Augen sah sie ihn an und nickte. –

Sie traten jetzt von hinten in den Garten ein, wo die große Stille war. Schweigend und ehrfürchtig umhüteten die Birken den Stein mit der goldenen Schrift.

Und schweigend saßen zwei junge Menschen Hand in Hand auf Großvaters Bank. Sie mochten stille Gelöbnisse tauschen, die dort drüben aufklangen, wo gerade das Stillste den Widerhall weckt.

Dann gingen sie den Weg entlang dem Haus zu.

Plötzlich blieb Peter stehen. Mit heißen Augen sah sie zu ihrem Begleiter auf. »Ursel darf es natürlich noch nicht erfahren, noch lange nicht! Sie hat mir ja auch all die Jahre nichts von ihrem – von Walter Hutmann gesagt.«

Er hütete sich, seinem Gelüst nachzugeben und hell aufzulachen. Er wollte sich den tiefen Reiz nicht zerstören, den es für ihn hatte, die Seele des Burschen Peter in ihrer echten Mädchenhaftigkeit vor sich ausgebreitet zu sehen. 274

»Wo denkst du hin!« sagte er ernsthaft, »es ist und bleibt unser Geheimnis.«

»Sie können inzwischen ruhig in Berlin Geld verdienen, das schadet gar nichts.«

»Hat noch nie geschadet. Aber es würde nun auch nicht schaden, wenn du nun du zu mir sagen würdest.«

Sie blickte weg und er sah ihren schlanken Hals sich röten.

»Brieflich,« kam es knapp.

Er zog sie näher zu sich her. »Einmal wenigstens mündlich.«

Und er küßte den jungen Mund, als sei nie ein Befehl von der Batterie ergangen.

Da geschah's, daß sie sich mit dem Handrücken den geküßten Mund wischte, wie ein echtes Kind, das solche Liebkosung noch nicht zu schätzen weiß.

»Peter,« sagte er mit glücklichem Lachen, »du hast noch viel zu lernen.«

»Ach ja,« gab sie ziemlich beiläufig zu und kehrte zu ihrem Thema zurück: »Glauben Sie, daß Sie sehr viel Geld verdienen können?«

»Ich hoffe es. Wozu übrigens?«

»Wir müssen doch einen stärkeren Leiterwagen kaufen.«

»Aha, um das Geld von Berlin herzufahren.«

»Unsinn! Weil der jetzige eine Beleidigung für Satan ist.« 275

»Richtig! Und Satan hat es nicht um uns verdient, daß wir ihn beleidigen.«

»Satan ist ein ganzer Kerl.«

»E' Kerle, heißt es.«

Sie legte scheu den Kopf an seinen Arm. »Das bin doch ich, sagtet ihr.«

Die Ehre, die sie ihm antat, indem sie ihn mit Großvater zusammenstellte, machte ihm das Herz noch wärmer.

»Du ganz allein,« sagte er leise und strich ihr übers Haar.

Leise lachte Peter auf. »Wenn Ursel bald heiratet, macht sie sich natürlich Sorgen, was aus Grünhaus werden soll.«

»Das hast du ihr früher bestritten.«

Sie achtete nicht auf den Einwurf. »Sie haben in Berlin natürlich Zeit, allerlei zu lernen.«

»Natürlich,« ahmte er nach, »etwa wie du bei deinem Pastor.«

Sie sah ihn aus großen Augen an. »Ich habe dort sehr viel gelernt, nur nicht gerade das, um was ich hingeschickt wurde.«

»Genau so dürfte es mir in Berlin gehen.«

Sie nickte. »Großvater sprach immer davon, mehr Gemüsebau zu treiben, weil doch in K. die Konservenfabriken sind. Er machte nur keine Anstalten, weil er Rudolf nicht überlasten wollte. Aber dann wären ja Sie auch da.« 276

Sie blickte so zuversichtlich und froh zu ihm auf, daß ihm war, als seien ihm Orden und Ehrenzeichen umgehängt worden.

Plötzlich blieb sie stehen. »Gehen Sie allein weiter! Man könnte uns sehen.«

»Aber was schadet denn das?«

Sie schaute verlegen weg. Leise kam's: »Ich will Ihnen nur sagen, daß ich von heute an keine Burschenkleider mehr trage.« Und sie schlüpfte ins Buschwerk.

Aus der Unsichtbarkeit heraus rief sie noch: »Ich schreibe Ihnen, wie viel Junge der Würger ausbrütet.«

 

Schluß

Felix Klein umging wie abschiednehmend das Haus. Auf dem Kiesplatz sah er des Doktors Wagen stehen, dessen schwarzer Lack glänzte und spiegelte, wahrscheinlich von Rudolfs sorglicher Hand blankgerieben.

Er warf einen Blick hinüber und dachte: »Auch wenn du mich fortträgst – ich bleibe da. Es ist die Merkwürdigkeit von Grünhaus, daß die Fortgegangenen da sind.« –

Das stille Haus, der Flur, die breite Treppe, alles war ihm wie lang vertraut, am meisten das grüne Zimmer, das er jetzt betrat. 277

Er holte tief Atem, als wolle er sich die Lunge vollsaugen mit dieser ewigkeitsdurchtränkten Luft. Unmöglich, daß, wer in diesem Raum genächtigt hatte, in die Wirbel der tollgewordenen Zeit hineingezogen werden konnte!

Langsam machte er sich daran, seine Habseligkeiten zusammenzusuchen. Er hörte die Stimmen der Sprechenden drüben im Eßzimmer; aber es eilte ihm nicht, hinüberzukommen. Man würde ihn ja doch nur nach Peter fragen, und Peter war ausschließlich seine Angelegenheit. Seine und allenfalls noch Großvaters! –

Mit dem Freund konnte er noch auf der Fahrt und dann in K. zusammen sein.

Als er den Rucksack zur Hand nahm, war ihm zumut wie draußen, wenn er aus trockenem Unterstand wieder hinausgemußt hatte in Schmutz und Nässe. Er schüttelte den sturmerprobten Wandergefährten. Du, sagte er in Gedanken, wir waren miteinander in Grünhaus und in Großvaters Zimmer, vergiß das nicht! Du wirst nie wieder ein schöneres Erlebnis haben! –

Wie um seine Dankbarkeit zu zeigen, gab der Rucksack das kleine Buch des Bruders heraus, daß es zu Boden glitt. Der Mann hob es auf, und da geschah es ihm, daß er die überschlanke Gestalt des Gefallenen so deutlich vor sich sah wie in einem Spiegel. 278

Der lange Feldgraue schien – ein wenig linkisch zwar, aber doch mit Schwung militärisch zu grüßen und, die Hand an der schildlosen Mütze, hellklingend zu melden: Wir dienen!

Erstaunt und erfreut dachte der Schwabe: »Das ist wohl eine Meldung, die ich Peter weitergeben soll, wenn sie wieder über ihren Pastor loslegt?«

Es klopfte. Auf seinen Ruf trat Frau Ursel über die Schwelle. Er richtete sich überrascht auf und sie berichtete: »Eben sagt mir Rudolf in Peters Auftrag, daß Sie nachher mit den beiden Herrn wegfahren werden. Ich möchte Sie gerne halten, aber ich habe ja kein Recht dazu.«

Der Gast dachte mit heimlichem Lachen: Es scheint, daß mein Peter die Sache nach ihrem Gutdünken dirigiert; ich werde der Letzte sein, der ihr dazwischenfährt.

Weil er nicht entgegnete, fuhr die Frau fort: »Peter kleidet sich eben um. Sie will meinen Verlobten zu Heineckes Lenchen bringen, drüben im Streckenwärterhaus. Das Kind ist von Geburt krank. Ich soll Ihnen Grüße von Peter sagen und zugleich Lebewohl. Sie will heute Abend drüben bleiben. Verzeihen Sie ihr dieses formlose Abschiednehmen! Sie haben es nicht um sie verdient. Aber Sie kennen ja nun meine Schwester.« –

In ihm jubelten tausend Lerchen. 279

»Sie haben recht: Ich kenne sie nun. Mich überrascht nichts mehr an ihr, als höchstens das eine, daß sie erst achtzehn Jahre alt ist.«

Sie lächelte. »Und mir sind ihre achtzehn Jahre immer das, was vieles erklärt.«

»Vielleicht kann man auch so sagen,« gab er entgegenkommend zu und freute sich der eigenen diplomatischen Begabung.

Die Frau blickte sich um und meinte: »In Großvaters Zimmer kann man nicht lange um eine Sache herumreden; darum will ich nur verraten, daß ich eine Bitte an Sie habe, die Sie mir auch um Peters willen nicht abschlagen dürfen. Es soll eine Überraschung für sie werden.«

Aha, sie hat ein Programm, durchblitzte es ihn, und Peter hält nicht viel von ihren Programmen!

Vorsichtig sagte er: »Sie scheinen etwas zu planen? Darf ich nicht erst wissen?«

»Wir wollen im Herbst heiraten. Bitte, kommen Sie zu unserer Hochzeit!«

Als müsse sie einer Absage zuvorkommen, setzte sie rasch hinzu: »Ihr Freund kommt auch; er hat es schon versprochen.«

»Schon im Herbst?« fragte er überrascht und dachte dabei an das, was er in Berlin lernen wollte. 280

Sie schaute weg. In tiefer Befangenheit und als müsse sie sich entschuldigen, kam es: »Wir kennen uns nun schon so sehr lange und zögerten immer wieder um der Geschwister willen und um Grünhaus willen.«

Er hätte sich für seine Frage ohrfeigen mögen, deren Grund die Frau nicht durchschauen konnte, so wenig, wie er ihr in diesem Augenblick Erklärungen geben durfte.

Zur rechten Zeit klopfte Monika und ihr grauhaariger Kopf schaute durch die Tür.

»Peter hat, ehe sie wegging, für die Herren einen Imbiß bestellt. Ich habe ihn ins Eßzimmer getragen. Das wollte ich nur sagen.«

Frau Ursel meinte leise: »Verzeihung! Ich sorge meist um ferne Dinge und Peter immer fürs Nächste. Ich hätte Sie doch sollen ruhig packen lassen, ehe ich Sie überfiel.«

Sie war kaum gegangen, da trat Monika ein. Als habe sie einen Auftrag von hoher Wichtigkeit, berichtete sie: »Peter läßt den Herrn Leutnant grüßen. Sie mußte mit Doktor Hutmann zu Heineckes Lenchen. Dort will sie den Abend bleiben. Sie nimmt sich ja des Kindes an, als wär's ihr eigenes!«

Offenbar erwartete sie, daß der Gast ein Echo finde zu ihrem Lob. Er machte sich den Spaß und sagte: »Kinder gehen immer gern zu Kindern.« 281

Da wehrte die Alte eifrig ab: »So ist das nicht! Da kennen der Herr Leutnant Peter schlecht. Manchmal meint man ja, daß sie noch ein richtiges Kind sei, aber wenn der Herr Leutnant wüßten, wie tüchtig sie ist – –«

Auf ihrem scharfen Gesicht glänzte die Liebe zu Peter und holte wieder viel von dem Schönen hervor, das hinabgesunken war.

Sie blieb stehen, als sei ihr Auftrag noch nicht zu Ende. Auf einmal fragte sie den überraschten Gast: »Möchten der Herr Leutnant nicht wissen, was mein Neffe, der Lehrer, vorigen Herbst hier gesehen hat?«

Schon war er bereit, sich die Sache berichten zu lassen, da klang es in ihm auf, wie von fremdem Mund gesprochen: Wer solche Geschichten erst nötig hat, der läßt sie sich umsonst erzählen! –

»Danke, Monika,« sagte er freundlich, »ich darf jetzt drüben nicht so lange auf mich warten lassen. Vielleicht ein andermal.«

Ihr Gesicht bekam einen wehmütigen Ausdruck. »Nur Berti durfte ich manchmal davon erzählen, sonst niemand.«

Gern hätte der Mann gesagt: aber gerade Berti hat nie glauben können, – – doch er schwieg, um der Magd nicht weh zu tun. 282

Als sie gegangen, stand er noch eine Weile allein und untätig in der Stille. ›Kraftfeld des Großvaters!‹ – Ganz Grünhaus war es, aber dieser Raum im besonderen, das spürte er im schweigenden Abschiednehmen. –

Es trieb ihn noch einmal zu Satan, dem Kriegskameraden.

Der Gaul schien wieder ausgeruht und frisch. Was aber in den dunklen Augen stand, war nicht zu ergründen. War es nicht Großvaters Weisheit, daß es in das Geheimnis der Tierheit kein Hineinschreiten gibt?

Der Schwabe klopfte des Hengstes blanken Hals. »Du, wenn mein Peter wieder mit dir ausrückt, führst du dich besser auf, verstanden! Es ist nicht immer ein alter Artillerist um den Weg, wenn du deinen Rappel hast.«

Das Tier prustete mit einem hellen Wiehern los. »Aha,« murmelte lobend der Mann: »Mecklenburger und Schwaben verstehen sich.«

Der Knecht trat herein. Über sein herbes und trauriges Gesicht flog ein wenig scheue Helle. Hörbar froh sagte er: »Also Peter hat doch recht gehabt, daß der Herr Leutnant noch einmal in den Stall kommen werden. Sie hat zu Heineckes Lenchen gemußt und ich soll den Herrn Leutnant grüßen! Ich soll auch sagen, Sellerie und Blumenkohl können nicht in Frage kommen. Es sei zu trocken dafür. Der Herr Leutnant wüßten dann schon.« 283

Des Gastes lachende Entgegnung wurde von dem Kläffen des ungestümen Hundes unterbrochen, der durch die angelehnte Stalltür drängte.

»Rabenaas, du sollst nich inkommen!« rief der Knecht.

Aber der andere wehrte. »Lassen Sie ihn diesmal, Rudolf! Er soll mir wahrscheinlich sagen, daß Peter zu Heineckes Lenchen gemußt hat und mich grüßen lasse.«

Sie lachten beide und reichten sich die Hände zum Abschied.

Stark verspätet erschien Doktor Hutmann zu Monikas Imbiß.

Er war befriedigt von seinem Gang. In dem, was er Frau Ursel berichtete, schwang Hoffnung mit für das kranke Kind.

»Und unser Peter,« sagte er abschließend, »hat reichlich teil daran, wenn es aufwärtsgeht.«

Felix Klein biß sich auf die Lippen. Hat sich was – »unser« Peter, dachte er vergnügt.

Der Doktor wandte sich an ihn. »Ich soll Sie von Peter grüßen und sie entschuldigen, daß sie nicht kommt. Ich glaube, sie hält nicht viel vom Abschiednehmen. Jetzt sitzt sie neben Lenchen und spielt mit Bauhölzchen.«

»Sie baut wohl Luftschlösser?« fragte belustigt Felix Klein. 284

»Im Gegenteil. Sie baut sehr reale Dinge. Einen Gutshof mit Ställen und Scheunen sah ich erstehen.«

»Haben Sie dann nicht nach dem Gutsherrn gefragt?« erkundigte sich der andere in kaum verheimlichtem Übermut.

»Gewiß hab ich das. Ich bekam die Antwort: Natürlich muß es ein Schwabe sein, die sind ja Hans in allen Gassen.«

Der Maler drehte lachend den ausdrucksvollen Kopf. »Das Mädel scheint Ihnen gewachsen zu sein.«

»Sie hat ein Mundstück, dem man nicht beikommt,« gab der Doktor zu.

Jetzt lachte Felix Klein laut auf. »Ha no,« sagte er, ins Schwäbische verfallend, »es ischt net immer g'rad e' Wegweiser bei der Hand, daß mer sei Sach schriftlich mache kann.«

Verständnislos blickte erst der Arzt, dann kam ihm die Erleuchtung. Lachend strich er der Frau übers Haar. »Ursel, der ist richtig, der muß zu unserer Hochzeit.«

Sie blickte glücklich zu ihm auf. »Findest du nicht auch, daß er an Großvater erinnert?«

 


 


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