Auguste Supper
Das Mädchen Peter und der Fremde
Auguste Supper

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So wurde Felix Klein Tischgast in Grünhaus.

Als er hinter Frau Ursel ins Haus ging, verspottete er sich innerlich: ›halb zog sie ihn, halb sank er hin.‹

Im Flur neben allerlei Kleidungsstücken sah er Mantel und Rucksack hängen und dachte unbehaglich: auch darüber ist schon verfügt.

Eine große hagere Magd mit ergrauten Haaren tauchte auf. Das Gesicht zeigte Spuren früherer Schönheit und war auch jetzt noch in Schnitt und Linien gut. Die Augen, die den Fremdling musterten, waren scharf, aber nicht unfreundlich.

Sie nahm des Gastes Mantel und Rucksack vom Haken und fragte, die Herrin anblickend: »Also ins grüne Zimmer?«

Die Frau schwieg. Augenscheinlich empfand sie die Frage und das Tun der Magd als Voreiligkeit.

Der Schwabe lachte auf. »So schnell schießen die Preußen nicht. Ich muß nachher weiter und brauche kein Zimmer.«

»Aber Sie werden sich vielleicht ein wenig ausruhen und die Hände waschen wollen?« redete die Herrin befangen zu um ihr Zögern zu verwischen, und sie tat eine Tür auf.

Dann sah sich der Mann allein in grüner Dämmerung.

Der große Raum hatte lichtgrün gestrichene Wände; vor zwei weitoffenen Fenstern drängte sich grünes Gezweig, 93 in dem ein Vogel sang, als wäre er ganz allein auf der Welt.

So merkwürdig unwirklich war alles, daß der Schwabe sich verwundert umsah.

Ein Gefühl von Gelöstheit überkam ihn, als sei er mit dem einzigen Schritt durch diese Tür in eine ruhevollere Welt getreten. Sogar die körperliche Müdigkeit fühlte er wohlig entströmen.

Ein weißbezogenes Bett – in seinen Maßen das würdige Gegenstück zu dem Fahrstuhl – stand, mit dem Kopfende an die Wand gerückt, frei im Zimmer. Die sehr schöne Wiedergabe von Hans Thomas »Hüter des Tals« hing zu Häupten. Der starke Gewappnete mit dem flatternden Banner, dessen schwere Falten man glaubte im Nachtwind knattern zu hören, er schirmte nicht nur das ins dunkelnde Tal geschmiegte Dorf, aus dem verlorene Lichter blickten, sondern auch den grünen schweigenden Raum.

Den Eingetretenen überrieselte Feierlichkeit. Stark klang es in ihm: ›Die Stätte, die ein guter Mensch betrat, ist eingeweiht.‹

Die eigenen behutsamen Schritte störten ihn und nur widerstrebend, als begehe er eine Unziemlichkeit, trat er endlich zum Waschtisch.

Das Klirren des Porzellans, das Plätschern des Wassers 94 empfand er als peinliche Unterbrechung einer unsagbaren Stille, die nicht von dieser Erde ist; und als er in den Spiegel schaute, wäre es ihm nicht überraschend gewesen, wenn das Glas das weißhaarige Haupt des unbekannten Großvaters bewahrt und gezeigt hätte.

Zum zweiten Male schlug draußen im Flur der Gong an.

Der Ton klang wie ein Ruf aus niederer Sphäre und es war Selbstüberwindung nötig, um sogleich zu folgen, obgleich der hungrige Magen an seine Rechte mahnte. Zögernd und ungern und mit dem Gefühl, herabsteigen zu müssen, ging der Mann.

Aus der Tür tretend, sah er den Knaben im schwarzen Samt höchst elastisch und ohne Stöcke auf sich zukommen.

Schon wollte er auch dies als eines der heimlichen Wunder dieses Hauses in Kauf nehmen, da gewahrte er, daß es nicht Berti, sondern der umgekleidete Peter war.

Gut, dachte er innerlich lachend, du willst also tatsächlich die Komödie weiter durchführen, obgleich du weißt oder doch wissen müßtest, daß du entlarvt bist? – Nun. – mir kann es ja nur lieb sein.

Mit unbeweglichem Gesicht, wie ein beflissener Page, tat Peter eine Tür auf und bat einzutreten.

Das Eßzimmer war groß und luftig. Die mit hellem Holz bekleideten Wände gaben ihm das Gepräge der 95 Einfachheit. Auch alle Möbel waren einfach. Die um den gedeckten Tisch gereihten Stühle, darunter der große Armstuhl oben an der Stirnseite, hatten zu ihrem hellen Holz schwarzes Lederpolster und wirkten in ihren alten Formen behaglich.

Frau Ursel wies dem Gast den Platz an. Sie sah jetzt, da sie sich umgekleidet und die große Schürze abgelegt hatte, jünger und vornehmer aus und ihr Gesicht unter dem braunen schlichtgescheitelten Haar war unleugbar schön, wenn auch von anderem Typ als das der Geschwister.

Von der Anwesenheit Petronellas schien sie keine Notiz zu nehmen, dagegen bemühte sie sich um den Gast. Sie hatte ihn sich gegenüber gesetzt, neben ihm saß Peter und dann der Knecht, der in einen, augenscheinlich der Tischstunde vorbehaltenen, blauen Leinenkittel geschlüpft war.

Neben Frau Ursel saß Berti und dann Monika. Der Armstuhl oben blieb leer. Es sei immer noch Großvaters Platz, erläuterte Peter kurz ihrem Nachbar.

Die Hausherrin sprach mit dem Gast von Reisen in Süddeutschland, die sie mit ihrem Mann gemacht habe.

Peter, als lese sie des Fremdlings Gedanken, warf halblaut ein: »Ursel hat nämlich schon mit achtzehn Jahren geheiratet, was ich verrückt finde.«

Eine Glutwelle ging über das Gesicht der Frau. aber sie redete weiter, als habe sie nichts gehört. 96

»Seid ihr eigentlich auch nach Riedorf gekommen?« fragte über die Suppe herüber Peter.

Als sie keine Antwort bekam, wurde sie dringlicher. »So sag doch, ob ihr in Riedorf wart?«

»Ich weiß nicht, was du meinst,« klang es abweisend.

»Dort stammt der Herr Leutnant her.«

»Ich heiße Klein.«

Ihre Suppe salzend fuhr Peter unbeirrt fort: »Ihr hättet dort erfahren können, ob Pfarrers Felixle immer folgsam war.«

»Du sollst nicht immer die Suppe nachsalzen, das ist ungesund,« tadelte über den Tisch herüber die alte Magd, und der Gast spürte, daß sie es tat, um Peter von Frau Ursel abzulenken.

»Großvater tat es auch,« erklärte eigensinnig Peter.

»Du bist dumm,« stellte der Knabe fest und sah ihr ins Gesicht.

Sie schnitt eine Grimasse und aß weiter.

Schärfer fragte der Kranke: »Wer hat dir erlaubt, meine Sonntagskleider anzuziehen?«

»Ich setzte deine Erlaubnis voraus, junger Herr.«

»Du bist maßlos frech.«

»Das stimmt nicht. Immer nur so frech, als die Umstände es erfordern.« 97

»Na na,« warf der Gast ein.

Sie fuhr auf. »Da können Sie Großvater fragen.«

Wie auf Kommando blickten alle nach dem leeren Stuhl.

Nach einer Weile sagte Frau Ursel ernst: »Peter, du hättest heute allen Grund, zurückhaltend zu sein. Der neue Wagen steht auf deinem Konto.«

»Du meinst: auf Satans Konto.«

»Oho,« sagten einstimmig der Kranke und der Knecht.

Peter wandte sich an Rudolf. »Du glaubst natürlich, der Gaul sei ein unschuldiger Engel, weil du ihn aufgezogen hast. Wirst ihm wohl jeden Tag vorgesagt haben: Bleibe fromm und halte dich recht!«

Ein leises Schmunzeln lief über des Knechtes stilles Gesicht. Bedächtig kam's: »Wenn ich's gesagt hätte, es hätte bei dem Gaul vielleicht mehr genützt als bei dir.«

»Mag sein,« entgegnete gleichmütig Peter, »ich lasse mir nicht gern predigen.«

»Wenn du es aber nötig hast,« warf nörgelnd der Knabe ein.

»Dann besorgt es Großvater,« antwortete Peter und reckte sich.

Eine Zeitlang hörte man nur noch das leise Klirren des Porzellans. Dann begann Peter wieder: »Heute nachmittag wird der Wagen gemacht.« 98

»Von dir?« erkundigte sich der Knecht.

»Von uns dreien,« und sie deutete auf den Schwaben, auf Rudolf und sich.

Der Schwabe wehrte ab. »Ich bin nicht von der Zunft.«

»Sie haben es versprochen.«

»Ich erinnere mich nicht.«

»Sie haben gesagt, wenn Ludwig Schwämmle dabei wäre.«

»Nun ja, der ist aber nicht dabei.«

»Dafür ist doch Rudolf dabei, der ist so gut wie Ludwig Schwämmle.«

Der Knecht schüttelte wie in erschrockener Abwehr den Kopf.

»Nichts, nichts! Ich bin kein Ludwig Schwämmle.«

Peter sprach aus, was in diesem Augenblick der Gast dachte: »Bist dir wohl zu gut dazu?« –

»Den Schwämmle macht keiner nach,« sagte der Knecht so würdigen Tons, daß Peter keinen Vorstoß mehr gegen ihn wagte.

Dafür wandte sie sich jetzt wieder an den Gast. »Wissen Sie, wo Ludwig Schwämmle ist?«

»Aha, du möchtest ihn herzitieren.«

»Ich könnte ihm schreiben.« 99

»Du meinst wohl, es müßten dir alle gehorchen, wenn du winkst,« warf der Knabe hin.

Sie überhörte es. »Kennen Sie die Anschrift?« drängte sie den Gast.

Der lachte. »Mache dir keine Hoffnungen. Ludwig Schwämmle sitzt irgendwo und siedelt.«

»O großartig!« rief Peter elektrisiert.

»Großartig wird's nicht sein. Vielleicht fünfzehn Tagwerk Ackerland und Wiesen und zwei Kühe, wenn's gut geht.«

»Bei fünfzehn Tagwerk könnte er sich auch noch zwei Schweine und Hühner und einen Gaul halten, nicht wahr, Rudolf?«

»Das kommt aufs Land und aufs Klima an,« erklärte bedächtig und ein wenig schulmeisterlich der Knecht.

Streitbar rief Peter: »Auf den Mann kommt's an, und wenn er doch ein tüchtiger Kerl ist, wird er's schon schaffen.«

»Ob er als Bauer so tüchtig ist, kann ich nicht sagen,« meinte vorbeugend Rudolf.

»Als was ist er denn tüchtig?« klang es ungeduldig.

»Als Soldat,« warf der Schwabe ein.

»Das war im Krieg. Aber im Frieden? –«

»Soldaten sind auch im Frieden tüchtig,« rief eifrig der Knabe und hatte auflodernde Augen. 100

Einen Augenblick schwiegen alle. Der böse Zwiespalt zwischen dem elenden Körper und den Flammen in der Seele tat ihnen weh.

»Hat er auch eine Frau?« erkundigte sich Peter jetzt.

Der Gast lachte auf. »Warum? Wüßtest du ihm eine?«

Sie antwortete nicht. Ihre Augen gingen durchs Fenster mit einem Ausdruck der Sehnsucht und zugleich der Überlegenheit.

»Ich werde auch einmal siedeln,« sagte sie dann fest.

»Du?« rief der Chor.

»Ja ich. Ich will mein eigener Herr auf eigenem Grund sein.«

Der Knecht warf ein: »Da gibt's harte Arbeit, Peter, und Sorgen und Kümmerlichkeit.«

»Und nichts Gescheites zu essen,« ergänzte Monika.

»Meint ihr, daß wisse ich nicht?« wehrte sich Peter, »ihr denkt nur an solche Dinge, an das andere denkt ihr nicht.«

»Was ist das andere?« wollte der Kranke wissen.

Sie war schon im Begriff zu antworten. Da fiel ihr wohl ein, daß alles, was sie sagen wollte, für den Krüppel schwer und bitter sei. Stumm schüttelte sie den Kopf.

Monika schob ihr die Schüssel zu. »Hier, Peter! Iß noch einmal tüchtig, ehe du siedelst!« 101

Das Lachen, das um den Tisch lief, glitt an ihr ab. Unbefangen füllte sie sich den Teller und fragte den Gast: »Haben Sie schon einmal an der Hobelbank gearbeitet?«

»Nicht daß ich wüßte.«

Mißbilligend schüttelte sie den Kopf. »Das müßte jeder deutsche Mann, sagt Großvater. Ich kann es Ihnen beibringen.«

»Peter!« mahnte die Schwester.

»Nun ja, auch ein Artillerieleutnant hat noch zu lernen.«

Hell lachte der Gast. »Du sprichst mir aus dem Herzen, Peter. Wie lange dauert dein Kurs?«

»Das kommt darauf an, ob Sie rasch oder langsam begreifen.«

»Das hängt bei mir vom Lehrmeister ab.«

»Dann können Sie bald das Nötige,« versicherte Peter.

»Bedenke, ich will heute abend in K. sein.«

»Nein,« rief erregt der Knabe, »übermorgen ist mein Geburtstag.«

»Ach was, Geburtstag! Wir müssen den Wagen flicken,« entschied Peter.

Frau Ursel griff ein: »Wie benehmt ihr euch! So verfügt man nicht über einen Gast. Ihr könntet höchstens bitten.«

Peter senkte scheinheilig die Augen: »Herr Leutnant, bitte, bleiben Sie da!« 102

Die Schwester wandte sich an den Gast: »Es wäre mir wirklich eine Freude, wenn Sie bleiben würden.«

Peter gab dem Nachbar einen Rippenstoß. »Benützen Sie die einzigartige Gelegenheit. Es gelingt höchst selten, meiner Schwester eine Freude zu machen.«

»Dir wenigstens,« ergänzte der Knabe.

»Euch beiden,« bemerkte die Frau mit kaum verhehlter Bitterkeit.

Der Schwabe dachte bei sich, hier seien drei Menschen, die eigentlich klanglich, also vom Blut her, zusammenstimmen müßten. Aber was nützte das, wenn jeder auf seinem eigenen Rhythmus beharrte? – Hier gehörte ein guter mitreißender Dirigent her!

Unwillkürlich blickte er nach dem leeren Stuhl. War dort der Mann gesessen, der dem Trio fehlte und in dessen verwaistes Zimmer man nun ihn, den Fremdling, eingewiesen hatte?

Spotte nicht schon wieder von drüben her, Mutter!

Laut fragte er, zu dem Knaben gewendet: »Ist eigentlich das Festprogramm schon gemacht?«

»Sie bleiben also?« jubelte der auf.

»Es scheint so,« bemerkte Peter trocken.

Der Gast blickte sie an. »Peter, wenn ich bleibe, so ganz gewiß nicht dir zulieb. Du bist verflucht vorlaut.« 103

Sie nickte. »Da haben Sie leider recht. Es ist mir offenbar angeboren.«

Alle lachten. Sogar Frau Ursel lächelte.

»Man ist aber auf der Welt, um seine angeborenen Fehler abzulegen.«

»Sagt das Ihr Vater, der Pfarrer?«

»Das sagt mir mein gesunder Menschenverstand.«

»Ebensogut hätte es ein Herr Pastor sagen können.« Das ›Herr Pastor‹ klang hart.

»Solang die Herren Pastoren sagen, was der gesunde Menschenverstand sagt, ist alles in Ordnung,« entgegnete er und sein Ton war nicht ganz so leicht wie vorher.

Sie legte jetzt ihre Serviette zusammen. Das Thema verlassend, sagte sie: »Ich denke, wir machen die neuen Leitersprossen etwas stärker.«

»Um neunzig Grad,« spottete er.

Sie funkelte ihn an. »Legen Sie erst selbst Ihre angeborenen Fehler ab! Wie heißt es, Rudolf? Spötter sind die elendesten von allen Kreaturen.«

Der Knecht lachte. »Da ist eine andere Sorte gemeint.«

Frau Ursel mischte sich ein. »Geben Sie sich keine Mühe, auf Peter einzuwirken! Es ist ein Schlag in die Luft.« 104

Peter hob den Kopf. Beherrscht, ja fast nachdenklich klang es: »Ist es meine Schuld, daß immer daneben gehauen wird? Großvater traf besser.«

Dem Gast war's, als komme von dem leeren Stuhl her der Vorwurf: warum mußtest du von den neunzig Grad anfangen! Er lenkte ab.

»Was werden wir für Holz zu den neuen Sprossen nehmen, Peter?«

»Fünfjähriges Eschenholz liegt im Schuppen,« berichtete der Knecht.

»Fünfjähriges. – Damals war Großvater noch gesund,« sagte nachdenklich Peter.

Rudolf nickte. »Der alte Herr hat den Baum selbst gefällt.«

»Um Martinitag herum,« ergänzte leise Monika.

Heiser sagte der Knabe: »Weil er im Sommer zu viel Schatten in mein Zimmer machte.«

»Er hatte den Baum sehr liebgehabt,« stellte Frau Ursel stillen Tones fest. Alle schwiegen. Der leere Stuhl schien allein das Wort zu haben.

Jetzt reckte sich Peter. Zu ihrem Nachbar gewendet sagte sie: »Großvater hat Bärenstärke gehabt. Einen Baum zu fällen, war ihm ein Kinderspiel.«

»Es war ihm ein Schmerz,« korrigierte Frau Ursel. 105

»Als ob ich ihn nicht so gut gekannt hätte wie du,« fuhr Peter auf.

»Ich habe ihn am besten gekannt,« trumpfte der Knabe auf. Und tiefe Leidenschaftlichkeit lag hinter den Worten.

Der Wettstreit um den Toten und seine Liebe hatte für den Gast etwas seltsam Ergreifendes. Alle die Fäden, die in die Ewigkeit hineinreichen und durch den Zufall des Sterbens nicht abgerissen werden können, schienen vor ihm bloßzuliegen und seine eigenen Toten traten dicht zu ihm her.

Frau Ursel stand jetzt auf und alle rückten die Stühle.

»Sie werden ein Stündchen ruhen?« wandte sich die Frau an den Fremdling.

»Wo denkst du hin?« mischte sich Peter ein, »Großvater hat nie geruht. Wir gehen gleich an die Arbeit, nicht wahr, Herr Leutnant?«

Der schlug lachend die Hacken zusammen. »Befehl, Herr Hauptmann! Aber deine Samthosen mußt du ausziehen, es geht hart auf hart.«

Sie ging hinter Knecht und Magd davon, ohne zu antworten.

»Aber du wirst ruhen?« fragte die Frau den Knaben.

Bitter kam's: »Ich ruhe ja den ganzen Tag. Was kann ich denn tun als ruhen?« –

»Du hast heute früh schon gelernt,« erinnerte die Schwester. 106

»Wozu lerne ich eigentlich? Kannst du mir's vielleicht sagen?«

Gequält schaute die Frau auf den Gast. Wie entschuldigend sagte sie: »Berti hat keine gute Zeit gegenwärtig. Es ging ihm schon viel besser.«

»Bist du schon lange leidend?« fragte teilnahmsvoll der Schwabe.

»Immer.«

Die Kürze war erschütternder als viele Worte und legte sich wie eine Schweigen gebietende Hand auf des Mannes Mund.

Verhalten berichtete die Frau: »Mein Bruder hat von Geburt an eine Rückgratverletzung, die sich schlimmer auswirkte, als man zuerst meinte. Es ist nichts zu machen.«

Mitleidig legte der Mann dem Kranken die Hand auf die Schulter.

»Berti,« sagte er zusprechend, »du hast viele Leidensgenossen seit dem Krieg. Mein bester Freund, der Maler, den ich in K. besuchen will, ist an beiden Beinen lahm. Ein Granatsplitter steckt ihm noch heute im Rückgrat.«

Der Knabe wurde blutrot. »Aber er kann malen,« sagte er nach verbissenem Schweigen.

»Er war Forstmann. Er liebte Wald und Wild so sehr. Das ist zu Ende.« 107

»Aber nun kann er doch malen,« entgegnete noch einmal der Kranke fast aufschreiend.

»Ja, das kann er. Aber in den Mund geflogen ist's ihm nicht. Du ahnst nicht, wie er sich abgeplagt hat und noch abplagt.«

»Aber Talent muß er doch haben, und das hab ich nicht.«

»Vielleicht nicht zum Malen, aber dafür zu anderem. Bist du musikalisch?«

Die Geschwister sahen einander überrascht an, als hätten sie diese Sache noch nie erwogen. Mit einem kleinen und trüben Lächeln sagte dann die Frau: »In Grünhaus sind, wie so manches andere, auch die Musen mit Großvater weggezogen. Man baut hier Spargel und bringt Gartengemüse zu Markt, wie es das Jahr schenkt. Großvater spielte leidlich Klavier und liebte das Singen sehr. Peter wandelt noch am ehesten auf seinen Spuren.«

»Was hat der alte Herr in der Hauptsache gesungen?«

»In der Hauptsache?« – Sie schien sich zu besinnen, und der Knabe fiel belebt und eifrig ein: »Schwabenlieder, Volkslieder; am liebsten: Freut euch des Lebens, weil noch das Lämpchen glüht.«

»Das Leiblied meiner Mutter,« sagte erfreut der Gast und fing an, die einfache Melodie zu summen. 108

Sofort fiel der Knabe mit dünner Stimme ein und sie sangen die Strophe. Wie in hilflosem Erstaunen blickte die Frau auf den Bruder. Sie wagte nicht, etwas zu sagen, als sei dieses Singen ein Schlafwandeln, das mit einem einzigen Wort zu stören, schon Gefahr bedeuten könne.

Der Schwabe lachte seinen Partner an. »Nun, es geht ja! Singe, wem Gesang gegeben!«

Als sei die Sonne weggegangen, verdunkelte sich des Kranken Gesicht.

»Für mich ist das alles Lüge,« stellte er hart und bitter fest.

Nach einem Schweigen fragte der Gast: »Was möchtest du denn, wonach lüstet's dich?«

Der Knabe hob den dunkelheißen Blick. »Reiten.«

Das kurze Wort verdüsterte den Raum. Eine böse Stille sank herab.

Endlich sagte die Schwester: »Es liegt ihm im Blut. Seiner Mutter Vater war Rittmeister und Herrenreiter, seine Mutter fanatische Pferdefreundin, und Großvater, der Tierarzt gewesen war, liebte vor allem die Pferde.«

Dem Schwaben zuckte der Gedanke durch den Kopf: Meinem Vater wäre es jetzt ein Leichtes, die Formel zu finden, in der man unterbringt, warum einer von Gott die Reiterleidenschaft ins Blut und dazu einen gelähmten Körper bekommen hat. – 109

Er fühlte einen galligen Geschmack im Mund und getraute sich nicht mehr, dem Kranken weitere Ratschläge zu geben.

Ablenkend sagte die Frau: »Singt Ihre Mutter viel?«

»Meine Mutter sang gern und viel. Sie ist meinen beiden gefallenen Brüdern nachgestorben.«

Wieder blieb es still.

Jetzt erzählte die Frau leise: »Auch mein Mann und mein Vater blieben draußen, das hat Großvater die Kraft gebrochen.«

»Er wurde vom Schlag gerührt und war zwei Jahre lang gelähmt,« setzte der Knabe hinzu und der Ton klang wie Fäusteballen.

»Es war zu viel für den bald Achtzigjährigen; er hatte vorher Schwerstes erlebt,« erläuterte die Frau und blickte den Gast an, als bitte sie für Großvaters Versagen um Entschuldigung. Dann setzte sie leise hinzu: »Ganz hinten im Garten, bei dem großen Findling, war sein liebster Platz. Dort saß er eines Sommerabends tot, eine rote Rose in der Hand und den Frieden Gottes im Gesicht.«

Es war, als rausche der Flügelschlag einer langvergangenen Stunde noch einmal auf und hülle alles in Feierlichkeit und Ruhe. 110

»War Ihre Mutter auch Schwäbin?« fragte, sich ermunternd, Frau Ursel.

»Sie war Altmärkerin.«

»Dann sind Sie also, wie Großvater, nicht reinblütig,« meinte sie lächelnd. Auch er lachte. »Ich müßte lügen, wenn ich sagen wollte, daß ich das als Mangel empfinde. Schwabenblut ist, wie mancher Wein, ganz gut zum Verschnitt.«

»Dr. Hutmann sagt das auch,« entgegnete sie und glühte auf.

»Aber er selbst ist reinblütig,« stellte der Knabe in einem Ton fest, als müsse er den Abwesenden verteidigen.

»Wohl ihm,« meinte lachend der Mann, »dann ist ihm manche Spannung im Blut erspart, die andere umtreibt.«

»Er ist sehr klug,« rief der Kranke eifrig, »Großvater hat das immer gesagt.«

Der Schwabe lachte stärker. »Beruhige dich! Das wird ja nicht bestritten. Ich bin der letzte, der einem Schwaben einen Stein aus der Krone nehmen möchte.«

Die Frau hatte plötzlich ein ganz verjüngtes, fast schelmisches Gesicht.

»Berti,« rief sie, »erinnere dich, was er von sich selbst schon gesagt hat!«

Jetzt lachte auch der Knabe. »Er nennt sich einen G'rechtmacher,« sagte er vergnügt, »wissen Sie, was das ist?« 111

»Und ob ich's weiß!« rief der Lachende, »das kommt bei uns gleich hinter Raubmörder.«

Jetzt war es Frau Ursel, die verteidigte. »Es ist wirklich nicht so schlimm. Wir haben seinen Besuchen in Grünhaus viel zu verdanken. Er ist erfahren und praktisch in allen Dingen, überall kennt er sich aus und weiß immer einen Rat.«

So warm klang das Lob von ihren Lippen, daß der Gast begann, sich heimlich einen Vers darauf zu machen.

»Nur mit Peter scheint er es nicht zu verstehen,« warf er abtastend hin.

In diesem Augenblick klang es vom Hof herauf: »Halloh, Herr Leutnant, wo stecken Sie denn?«

Der Knabe fuhr auf. Gereizt und zugleich kindlich erklärte er: »Ich muß gehen und Peter beibringen, daß sie anständig zu sein hat.«

Als er weggehumpelt war, berichtete die Schwester: »Petronella war Großvaters ausgesprochener Liebling, wenn er das auch nie zugegeben hätte. Mir ist heute noch nicht klar, ob er sie verzogen oder ihr nur zu ihrem eigenen Selbst verholfen hat. Das war das Ziel, das er für die Menschen als das höchste ansah. Er wird sich nicht gerade bei seinem liebsten Enkelkind vergriffen haben.«

Abgerissen sprach die Frau, als spielten ihr allerlei Gedanken dazwischen. Dann fuhr sie lebhafter fort: »Für mich 112 ist das Schwierigste an Peter ihre Zwiespältigkeit. Sie ist in einem Atemzug klug und blind, gewitzigt und kindlich. Derb kann sie sein wie ein Fuhrknecht und dann wieder zum Erstaunen feinfühlig. Eigensinnig und nachgiebig, störrisch und liebevoll, oberflächlich und hingebend – alles scheint bei ihr auf einem Zweig zu wachsen und Großvater tat, als sei das ganz in der Ordnung. Ob das wohl richtig war?« –

Sie schaute wie in tiefer Besorgnis auf den fremden Mann, als könne der sie aus ihren Zweifeln erlösen.

Er nickte. Zuversichtlich kam's: »Um Peter ist mir nicht bang. Großvaters Methode wird schon die richtige gewesen sein.«

Die Schwester blickte heller. Es kam ihr wohl nicht zum Bewußtsein, wie billig der Trost des Fremdlings war. Frischer begann sie: »Überraschend tüchtig ist Peter, das muß ihr der Feind lassen. Sie sieht, wo es fehlt, und greift überall zu. Sich selbst zu schonen, das kennt sie nicht. Dafür ist sie dann leicht ohne Geduld für andere und legt sich, wenn es um Leistungen geht, im Fordern keinen Zügel auf. Gut, daß Monika und Rudolf sie kennen und zu nehmen wissen.«

»Die beiden sind wohl schon lange in Grünhaus?«

»Sie waren schon bei Großvater, als er noch in der Praxis stand. Das liegt fünfundzwanzig Jahre zurück.«

»Diese Monika muß einmal sehr schön gewesen sein.« 113

»Sie war Diakonisse und mit einem jungen Pfarrer verlobt.«

»Und – –«

Frau Ursel zuckte die Achseln. »Ich weiß nur, daß sie in keine Kirche mehr geht, seit er sie verließ.«

»Aha,« sagte verhalten der Mann.

Ein merkwürdiges Schweigen kam auf, dann meinte stillen Tons die Frau: »Wer will sie dafür schelten!« –

Er lachte auf. »Ich nicht. Mir ist im Krieg aufgegangen, daß bei den meisten mit dem Glauben an die Menschen auch der Glaube an Gott zusammenbricht.«

»Seltsam,« klang es versonnen.

»Ich finde das gar nicht seltsam; ich finde es natürlich. Seltsam ist nur, daß so selten ein Mensch ernsthaft über die große und stolze Verantwortung nachdenkt, die ihm damit auferlegt ist.« –

Sie schwiegen beide lange, dann fragte leichtern Tons der Mann: »Wohin gingen eigentlich Ihre Geschwister in die Schule?«

»Ach,« entgegnete sie mit halbem Lächeln, »das ist eine bunte Geschichte, besonders bei Petronella. Erst gab man sie nach K. Dort wurde sie, trotz der geringen Entfernung, vor Heimweh krank und schickte die jammervollsten Botschaften. Man nahm sie denn auch nach Grünhaus zurück 114 und Vater besorgte einen jungen Philologen als Hauslehrer. Bald darauf wurde der krank.«

»Wahrscheinlich, weil Peter wieder gesund geworden war?« meinte der Gast lachend.

Sie nickte. Man gab sie dann in ein Pastorat – ich will den Ort nicht nennen – wo sie mit der Tochter zusammen unterrichtet werden sollte.«

»Und dort?« fragte der Mann, als sie schwieg.

Sie blickte auf. »Nicht wahr, Ihr Vater ist Pastor?«

»Pfarrer, sagt man bei uns,« erklärte er und fuhr fort: »Verstehe ich Sie recht, so ging es schief im Pastorat und der Herr Pastor war der schuldige Teil.«

»Allerdings. Peter hat von dort nicht wesentlich mehr mitgebracht als gute Sprachkenntnisse und ein sehr hartes oder sagen wir: keckes Urteil über Pastoren.«

»Das dürfte fürs Leben genügen,« entgegnete er und sein Lachen schwand.

Auch sie wurde ernst. »Man hat nicht den rechten Platz erwischt für die Zwölfjährige. Sie brachte von Großvater her schon bestimmte Maßstäbe mit, die dort nirgends passen wollten, und allzuoft wurde der Versuch gemacht, ihre innerste Art zu vergewaltigen.«

»Ich kenne das,« sagte der Gast hart, »es gibt unter den Herren immer wieder solche, die das für ihre vornehmste 115 Aufgabe halten. Hier war's Versuch am untauglichen Objekt.«

Sie nickte. »Ja. Peter trägt Großvaters Glauben im Blut; sie hätte die Flügel allzusehr zusammenfalten müssen, wenn sie in einen anderen hätte schlüpfen wollen.«

»So etwas bringt sie nicht fertig,« entgegnete warm der Mann und lachte hell auf.

Auch Frau Ursel lächelte. »Was in Peter lebt, das ist gewachsen und echt; sie kennt nichts Aufgepfropftes, das muß ihr auch ihr Feind lassen. Aber nicht überall hat man ein Verständnis für diese Dinge –«

Er nickte und sie fuhr ablenkend fort: »Mit Berti machte man gar nicht lang Versuche. Großvater unterrichtete ihn in der Hauptsache selbst, denn der Hauslehrer konnte ihn nicht weiterbringen.«

»Lernte er schwer?«

»Sein Gehirn arbeitet gut,« sagte sie mit trübem Lächeln, »aber damit ist ja noch lange nicht alles zu machen.«

Ein Sonnenkringel warf jetzt die Farben des Prismas auf den Tisch. Die Frau deutete darauf hin. »Dies hier konnte ihm niemand beibringen als Großvater.«

Er sah sie verständnislos an, und sie erklärte: »Daß, wie die Farben im Wassertropfen, auch in seinem Leben alle 116 Farben ausglühen könnten, wenn er verstünde, Licht darauf fallen zu lassen.«

»Nun, ich muß ja sagen: für einen so schwer verkürzten Jungen ist das keine einfache Sache.«

»Solang Großvater lebte, hatte es den Anschein, als sei Berti so weit. Damals wußte er die Gegenwart auszufüllen und oft schmiedete er sogar Pläne für die Zukunft.«

»Was plante er da?«

Sie lächelte. »Es war kindlich, aber es half ihm vorwärts. Einen Rennstall wollte er sich anlegen, oder ein Gestüt, um edle Pferde zu züchten.«

»Nicht schlecht! Aber im arm gewordenen Deutschland schwierig und unrentabel.«

Sie lächelte stärker. »Das sind Gesichtspunkte, die für einen Schüler Großvaters erst in zweiter Linie kamen. ›Das Übrige wird euch alles zufallen,‹ pflegte auch in solchen und ähnlichen Fällen der alte Mann zu sagen.«

Auch er lachte jetzt. »Aha, Großvater witterte Reich Gottes, wo es die wenigsten vermuten.«

»Ja, dieses Kunststück brachte er fertig, wie wohl kein zweiter.«

Nach langem Schweigen berichtete die Frau weiter: »Petronella war in jener Zeit mit ihrem Bruder immer ein Herz und eine Seele. Als Verbeugung vor seinen Plänen 117 zog sie am liebsten Knabenkleider an und wollte Jockey werden.«

»Ach so – daher der Unfug!«

»Zum Teil, ja. Aber später sicher auch aus praktischen Gründen. Bei der Gartenarbeit hindern sie die Mädchenkleider. Gesichtspunkte der Eitelkeit oder der Gefallsucht kennt sie ja nicht.«

Der Schwabe spürte heimliche Wärme. Daß diese Frau Ursel, die unter der anders gearteten Schwester gewiß oft litt, dennoch nichts auf sie kommen ließ, gefiel ihm ausnehmend.

Dunkleren Tons erzählte sie jetzt weiter: »Nach Großvaters Tod war es so merkwürdig: Man hätte doch meinen sollen, die Innigkeit zwischen den beiden müsse zunehmen, aber sie erkaltete. Alles Schöne erkaltete in Grünhaus. Berti glaubte nicht mehr an sich und sein Leben, und von Stund an glaubte auch Peter nicht mehr an ihn. Alles Untüchtige, oder was an Untüchtigkeit angrenzt, verhärtet ihr das Herz, weil es gegen ihre eigene Natur geht. Was man so gemeinhin Mitleid nennt, kennt sie nicht.«

»Hoffentlich!« warf der Gast ein, und als er ihren prüfenden Blick sah: »So nutzlos wird sie ihre schöne junge Kraft nicht vergeuden.«

»Sie kennt nur eine glühende Leidenschaft: alles Schlappe 118 zur Stärke zu bekehren. Großvater hatte das auch. Nur fing er es anders an –«

Es klang wie tiefe Ratlosigkeit aus ihrer Stimme.

Der Mann lachte. »Des Rätsels Lösung wird sein: der alte Herr hatte die Erfahrungen eines langen, Peter besitzt erst die eines achtzehnjährigen Lebens. Ein gewisser Unterschied ist da weiter nicht auffallend.«

Vom Hof herauf tönte es hörbar ungeduldig: »Herr Leutnant!«

Er schüttelte den Kopf. »Unbelehrbar! Sie ist nun einmal fürs Militär.«

Die Frau wurde glühend rot. »Aber gewiß nicht so, wie Sie denken!«

Er lachte hell auf und sie setzte mit großer Beflissenheit hinzu: »Das Soldatische ist ihr das Tüchtige und Disziplinierte; Sie müssen das recht verstehen.«

»Jawohl, ich verstehe. Es geht hier nicht um den schmucken Leutnant, sondern um eine Weltanschauung, wie man so schön sagt. Ich werde mich also doppelt anstrengen. um Peter beim Flicken des Wagens nicht zu enttäuschen.«

»Sie werden gut daran tun,« entgegnete die Frau und sah ihm lächelnd in die lachenden Augen. 119

*


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