Auguste Supper
Das Mädchen Peter und der Fremde
Auguste Supper

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In einsamer Gegend, wo Mitteldeutschland in den flachen Norden übergeht, schritt in kühler Morgenfrühe ein Wanderer.

Er war jung; aber jene Schatten lagen über ihm, die sich auf so manchen senkten, der die bösen vier Jahre draußen gewesen war.

Das starke dunkelblonde Haar des Barhäuptigen, das steil über der offenen gutgebauten Stirne stand, zeigte an den Schläfen schon vereinzelte graue Fäden; und auch dieser Stirne selbst sah man an, daß allerlei Wolken darüber gezogen sein mußten. Sie war auch jetzt, dem herrlichen Maienmorgen zum Trotz, nicht frei.

Von unfrohen Gedanken verdunkelt, blickten die Augen abwesend auf den staubigen Weg, und niemand hätte ihnen jetzt anmerken können, wie hell sie in Lebensfreude und Lebensglauben leuchten, in Humor und gelegentlich in raschem Spott aufblitzen konnten.

Die große schlanke Gestalt sah gut aus in dem Sportanzug; der mühelos getragene Rucksack mit eingeschnalltem Mantel deutete auf längere Wanderschaft.

Der ganzen Erscheinung hätte in dieser schönen Morgenstunde ein federnder ausgiebiger Schritt wohl angestanden; 6 statt dessen griff der Mann wie unwillig oder doch gleichgültig aus, als locke ihn kein Ziel.

Er sah die Lieblichkeit der einfachen Gegend nicht. Weder die aufblitzenden kleinen Seen und Weiher, noch die vom Lenzwind überstrichenen, frisch ergrünten Ackerbreiten, noch die da und dort eingestreuten dunklen Waldstücke nahm er wahr. Auch dem hohen Frühlingshimmel mit den weißen, nach junger Glückseligkeit aussehenden Wölkchen schenkte er keine Beachtung.

Nur in sich hinein blickte und horchte er und was er da fand, schien ihn nicht zu erfreuen.

Und weil man meist das am gründlichsten übersieht, was sich nachher als ein Stück Schicksal entfaltet, so entdeckte er auch das einsame, in eine leichte Bodenwelle geschmiegte, und von hoher Baumkrone überwölbte Haus nicht, das drüben über den Äckern lag.

Vor einem Kilometerstein hielt er jetzt an. Er las, was da geschrieben stand und wußte es dann weitergehend schon nicht mehr. Nach einer Weile kehrte er um und setzte sich auf den einladenden Stein.

Mit dem Stock zeichnete er Runen in den Staub. Wer sie hätte entziffern können, hätte allerlei erfahren.

So stand z. B. da: Also mit dem Musikstudium ist es endgültig aus! Das ganze Geld, das mir Tante Anna dazu 7 vermacht hat, gab jetzt noch die Briefmarke, die die Bank brauchte, um mir den Sachverhalt mitzuteilen. Wenn man wenigstens dafür jemandem an den Kragen könnte!

Aber die Sauerei geht in Ordnung im schönen Schieberdeutschland, weil folgerichtig auch das Geld hin sein muß, wenn die Ehre hin ist, nachdem jeder Frontsoldat nur noch als Trottel betrachtet wird. Nur – was soll jetzt werden? –

Noch einmal mit der Theologie anfangen, die mir der Vater aufgehängt und von der mich Tante Anna befreit hat? –

Ausgeschlossen! Ich habe im Krieg so gründlich eine neue Theologie kennengelernt, daß ich zur alten einfach nicht mehr zurückfinden kann – will – darf!

Geh zur Bank! sagt der Vater. Wenn einmal die Pfarrherren raten: geh zur Bank, dann muß es wohl das Richtige sein!

Von mir aus könnte der Teufel die Bank holen, er hat ja jetzt schon alle zehn Finger drin, soviel mein Laiengemüt ahnt.

Weil ich immer ein guter Mathematiker war, soll's keine andere Rettung für mich geben? – Wer lacht da nicht! –

Aber es gehen jetzt auch die guten Philologen, die Theologen, die Philosophen, die Maler, die Dichter, die Mediziner, 8 die Offiziere zur Bank. Gott verzeihe mir, wenn ich einen Beruf vergessen haben sollte! –

Die Bank muß Deutschland mit Papierfetzen erlösen, nachdem wir es mit dem Schwert in Schande und Armut gestürzt haben! – –

Er lachte laut auf und schaute sich dann um, als fürchte er, es möchte ihn jemand gehört haben.

Schon grübelte er weiter: Warum soll ich, Pfarrers Felix, nicht auch bei der Erlösung dabei sein, nachdem ich so lang beim andern dabei war? – Besonders da doch mein Vater mit Gottes und eines Stammbaumes Hilfe einen weitläufigen Vetter in Berlin herausgefunden hat, der Bankier ist und nun ausgerechnet ohne meine Dienste nicht mehr auszukommen glaubt! – –

Endlich hob er den gesenkten Kopf. Da wurde sein zorniger Blick hell. Als klare Silhouette stand ein pflügender Bauer mit seinem Gespann fern gegen den Himmel.

Laut sagte der Wanderer: »Ei, da ist ja wahrhaftig einer, den es nicht zur Bank zieht.«

Nach einer Weile mit tiefem Seufzer: »Mensch, wer es hätte wie du!« Unverwandt blickte er hinüber. Fast schmerzhaft stieg es in ihm herauf, wie er, der jüngste von drei Pfarrerssöhnen, als kleiner Knirps in den Ställen und Scheunen der Dorfbauern daheim gewesen und des seligen 9 Glaubens gelebt hatte, Kühe und Gäule und ein paar rechtschaffene Lederhosen seien seine Zukunft.

In der Schul- und Seminarzeit tauchte dann noch eine zweite Liebe auf, für die aber nur eine sehr musikalische Tante Verständnis und Billigung hatte, während der strenge Vater auf seinem Schein bestand und von dem Jüngling verlangte, daß er das Versprechen einlöse, das der Knabe in einer schwachen Stunde gegeben hatte.

So wurde Felix Klein, Pfarrers Felixle, dem ältesten Bruder nach Theolog. Als das Vermächtnis der sehr wohlhabenden Tante der Mußtheologie ein Ende machte, wurde die Musik herangeholt mit einer Leidenschaft, die vielleicht ihre Stärke zu einem Teil aus dem Triumph bezog, nun doch noch den eigenen Willen gegen den das Vaters und gegen die Macht der Tradition durchgesetzt zu haben. –

Die Gestalt des pflügenden Bauern verschwand jetzt hinter dem Hügel. Wie erwachend blickte der Sitzende sich um.

Plötzlich dröhnte die Erde und auf grasbewachsenem Bahndamm, den der Versunkene seither nicht beachtet hatte, raste unfern ein Schnellzug vorüber.

Das Tempo, das gerade noch die Bauart der langgestreckten Wagen erkennen ließ, bekundete zur Genüge, daß es ein besonders vornehmer Zug war, der für einen Augenblick der entlegenen Gegend die Ehre gab. 10

Über des Mannes Gesicht flog ein Aufleuchten. »Grüß Gott!« sagte er hell in das Dröhnen hinein, »du kommst von der Heimat, vom lieben Schwabenländle.«

Aber schnell erlosch die Freude und grimmig murmelte er: »Fahr meinetwegen zum Teufel! Du hast doch nur Schieber und Halunken geladen.« –

Der Ausbruch schien eine Erfrischung zu bedeuten. Rasch stand der Sitzende auf und blickte dem schon entschwindenden Zug nach.

Da sah er etwas Helles zur Erde wirbeln, das ihm der starke Luftstrom fast vor die Füße trug.

Unwillkürlich ging er darauf zu und nahm ein zerknittertes Papier auf, das er mit regelrechter Neugier entfaltete. Es war eine Zeichnung, die offenbar von Kinderhand herrührte. Ein etwas schiefstehendes, aber stattliches Haus mit einem noch stattlicheren Baum daneben und unter den, wie ballige Wolken aussehenden Ästen zwei menschliche Gestalten, die wohl Mann und Frau vorstellen sollten. Haus, Baumschlag und Figuren zeigten jene köstliche, nicht nachahmbare Vereinfachung, wie nur Kinderhände, denen noch nie ein Lehrer die Unbefangenheit getrübt hat, sie fertigbringen. Darunter stand mit wackligen, offenbar im fahrenden Zug geschriebenen Buchstaben: Das bist du und deine Braut. –

Wie in Betroffenheit blickte der Mann auf das Blatt. 11 Er fühlte sich persönlich angeredet durch dieses dahergewirbelte »das bist du« – –

Als prüfe er sie auf Ähnlichkeit, musterte er die Mannsgestalt. Hell lachte er auf. Geschmeichelt war ihm da nicht.

Zwei senkrechte Striche waren die Beine, ein aufgesetztes Dreieck der Oberleib, zwei waagerechte Linien mit je fünf Strahlen daran ergaben Arme und Hände, dazu ein etwas eckiger Kreis als Kopf und daran zwei topfhenkelartige Gebilde, die die Ohren vorstellten.

Die Braut kam besser weg. Hier schien die Hand eines Erwachsenen, vielleicht die des porträtierten Bräutigams, nachgeholfen zu haben. Immerhin aber war auch dieses weibliche Wesen keine ausgesprochene Schönheit. Ihre Haare und Gewänder flogen und die auswärts gestellten Füße mühten sich um Tanzschritte.

Der Beschauer blickte lachend dem Zug nach. Also doch nicht nur Schieber und Halunken, dachte er fast gerührt, es gibt auch noch Kinder in Deutschland! Er malte sich ein kleines Mädchen aus, das mit seinem erwachsenen Bruder zu dessen Braut auf dem Weg war.

Sorgfältig glättete er das zerknitterte Blatt und legte es zu den schmierigen Geldscheinen, mit denen seine Brieftasche gestopft war. 12

»So,« sagte er laut, »wenigstens ein Wertstück unter dem Plunder.«

Als er jetzt den Weg wieder unter die Füße nahm, war sein Schritt elastischer als zuvor. Bald fing er sogar zu pfeifen an, und das klang unverkennbar musikalisch und beschwingt.

Plötzlich stand er wieder.

Er war dorthin gekommen, wo die staubige Straße in steinerner Wölbung unter dem Bahndamm durchschlüpfte, um jenseits zwischen der Böschung und einem kleinen, von breitem Wiesenstreifen begrenzten Gehölz weiterzuführen.

Er bückte sich und hob eine schöne, offenbar neue Peitsche auf, an deren Stiel blanke Nägel blitzten.

Ei, dachte er, hat die auch der Schnellzug ausgespien?

Er wußte nicht recht, warum ihm der Fund unbehaglich war. Von dem Peitschenstiel strömte es aus, als sei da etwas nicht in Ordnung.

Unruhig schaute er sich um und betrachtete dann ebenso unruhig wieder das Fundstück.

Jetzt horchte er. Hinter dem Bahndamm hervor kam prustendes Pferdewiehern.

»Aha,« sagte er fast befriedigt, als habe er auf diesen Ton gewartet. So hatte er oft Pferde wiehern hören, die von Entsetzen über Unbekanntes überwältigt waren. 13

Mit der Peitsche in der Hand eilte er durch den kurzen Durchlaß und sah drüben am Gehölz, von der Straße durch einen ziemlich tiefen Graben und den Wiesenstreifen getrennt, ein zitterndes angsterstarrtes Pferd und einen zertrümmerten oder wenigstens bös zugerichteten kleinen Leiterwagen.

Rasch genug legte er sich die Dinge zurecht. Der vornehme Schnellzug, dessen Gedröhn gerade hier besonders rücksichtslos gewesen sein mochte, hatte das Unheil auf dem Gewissen.

Der starke Gaul, dem man trotz der böszerzausten Mähne und dem fast am Bauch hängenden Kummet gute Pflege ansah, hatte die Nerven verloren, das mußte dann der für die Kraft und das Temperament des Tieres sichtlich zu leichte und darum spielerisch gezogene Wagen büßen.

Um fester zugreifen zu können, hatte vermutlich der Fuhrmann die Peitsche fallen lassen und – –

Ja, wo steckte eigentlich der Fuhrmann? –

Suchend schaute sich der Wanderer um. Weit und breit konnte er kein menschliches Wesen entdecken.

Er erkletterte den Bahndamm, um die umfassendere Sicht zu haben.

Jetzt erst erblickte er, was er in der Versponnenheit vorher nicht wahrgenommen hatte: das grünende liebliche Gelände und die einzige menschliche Wohnstätte in der Ferne.

Sollte das verunglückte Gespann dorthin gehören? – 14 Ein stark ausgefahrener Weg führte hinüber. Aber der Weg war leer, der vermißte Fuhrmann ließ sich nicht darauf erblicken.

Kopfschüttelnd stieg der Wanderer wieder auf die Straße herunter. Er merkte dabei erst, daß er noch immer die Peitsche in der Hand hielt. Jetzt legte er sie ins Gras und versuchte, sich dem Gaul zu nähern. Aber er gab es auf, als er sah, wie sich das scheue Leuchten in des Tieres Augen verstärkte.

Der Gedanke kam ihm, einfach weiterzugehen und die Sache denen zu überlassen, die sie anging.

Aber einer ratlosen Gebärde sah man an, daß ihm das nicht lag.

Aus der Zeitenferne her kam ihm ein Einfall. Beim Bauern Roller, dem Nachbar des Pfarrhauses, war er als kleiner Junge oft dabei gewesen, wenn Jakob, der Knecht, einem schwierigen Gaul gütlich zuredete und zuletzt, als höchsten Trumpf, ein Liedchen pfiff.

Draußen im Feld pflegte man schwierige Gäule mit anderen Mitteln zurechtzubringen, aber hier konnte man ja das Rezept versuchen. Und siehe: das scheue Funkeln in des Tieres Augen wich schon dem ersten Lied, dem aufmunternden »Freut euch des Lebens, weil noch das Lämpchen glüht«.

Dem Manne machte die Sache Spaß. Er pfiff Lied um Lied, bis das Spiel der Gaulsohren von der Unruhe zum 15 offensichtlichen Behagen überging und kein Zittern mehr die glatte Haut des Hengstes überflog.

Lockend und zuredend machte er sich jetzt an das Tier heran, und es gelang ihm, die verwirrten und z. T. zerrissenen Stränge in die Hand zu bekommen und am Wäldchen an eine Fichte zu binden.

Bei dieser vorsichtigen Arbeit weiteten sich plötzlich seine Augen.

Er hatte soeben entdeckt, was er zuvor umsonst gesucht: vorne im Gehölz lag ein hingestreckter Mensch. Der schilfgrüne Anzug hob sich kaum vom Waldboden ab.

Also hier steckte der Fuhrmann!

Leise, als nahe er sich einem Schlafenden, ging der Wanderer hinzu. Aber dann sah er rasch, daß dieser Liegende nicht leicht zu stören war.

Das Gesicht hatte er im gebogenen linken Arm vergraben, der rechte war wie in entsetzter Abwehr ausgestreckt.

Ein blonder Haarschopf war zu sehen, der Anzug hatte einen nicht bäuerlich anmutenden Schnitt.

Mit jener Raschheit und Genauigkeit, die er an den eigenen Augen manchmal schon gepriesen, aber fast ebensooft verwünscht hatte, weil sie ihn mit manchem belasteten, dem weniger Scharfsichtige entgehen, überblickte er das alles. Dann kniete er neben dem Gestürzten nieder. 16

Zu seiner Erleichterung sah er, daß ein Ohnmächtiger, nicht etwa ein Toter dalag.

Vorsichtig wendete er den schlaffen, schmächtigen Körper um, dabei war sein erster Gedanke, daß es ein Unfug sei, wenn ein so junger und zarter Bursche dem schweren Hengst als Fuhrmann beigegeben werde.

Das blutverschmierte schmale Gesicht mit den geschlossenen Augen rührte ihn. Es erinnerte ihn an manches schlafende schmächtige Bürschchen draußen, dem die Schwere des auferlegten Schicksals über die Kraft ging. Eine im Wachen wohl unbewußte oder verborgene schmerzliche Bitterkeit war auf diesen Gesichtern gelegen, eine Bitterkeit, die er jetzt auch hier zu erblicken glaubte.

Lang betrachtete er die Züge; diese nicht sehr hohe, aber klare und kluge Stirn, unter der die geschlossenen Augen tief eingesenkt waren, die hageren, wie nach innen gezogenen Wangen, den festgepreßten schmallippigen Mund, der ein Geheimnis zu verschweigen schien.

Die reglose rechte Hand war aufgeschürft und beschmutzt. Erbarmungswürdig, hilflos lag sie auf dem Waldboden.

Der Wanderer griff danach und versuchte den Puls zu entdecken. Aber an beiden Handgelenken war nichts zu spüren.

Dem Mann kam plötzlich die Angst, die fühlbare Körperwärme möchte doch nur ein letzter Ausklang sein. 17

In schwerem Unbehagen fing er an, den grünlichen Kittel aufzuknöpfen. Da knisterte etwas wie Papier und irgendein Widerstand ließ den Untersuchenden jäh zurückfahren.

In Bestürzung stand er auf. Er war sich nicht klar, was das eben gewesen. Hatte der Liegende gezuckt, war dem knisternden Papier etwas entströmt? –

Er tat jetzt die paar Schritte an den Waldrand hinaus in der Hoffnung, ein menschliches Wesen zu entdecken, das hier zugreifen könnte. Aber die Straße blieb leer wie der Bahndamm. Doch hatte sich wenigstens der Gaul wieder auf sein besseres Selbst besonnen und rupfte Gras, soweit er reichen konnte.

Ob es wohl möglich wäre, den Burschen auf den Gaulsrücken zu bringen? Dann wäre das einsame Haus, in das er jedenfalls gehörte, wohl zu erreichen.

Der Gedanke schlug schnell Wurzel in dem Hilfsbereiten.

Doch als er ins Gehölz zurücktrat, wartete seiner eine Überraschung. Der Halbtotgeglaubte saß mit dem Rücken an eine Fichte gelehnt und hielt sich ein blutbeflecktes Tuch unter die tröpfelnde Nase. Er sah dabei erbärmlich mitgenommen und kindlich aus, und dem Mann trat einer jener halb drolligen, halb blödsinnigen Ausrufe auf die Lippen, mit denen seine Kanoniere im Feld heikle Situationen am raschesten überwunden hatten. 18

Verstört schauten die Augen des Sitzenden, zwei große dunkle, sprechende Augen, und schienen zu fragen: Freund oder Feind? Das ließ den Mann instinktmäßig einen leichteren Ton anschlagen, als ihm die Lage auf den ersten Blick zu erfordern schien.

»Also du schnappst wieder,« sagte er hell, »man hätte fast glauben können, du seiest – –« – er machte eine unbestimmte Gebärde.

Der Bursche ließ das Tuch sinken. »Wo ist Satan?« fragte er kurz und erregt.

Hellauf lachte der Mann. »Siehst du mir den Extheologen an, oder meinst du den Gaul?«

»Den Gaul natürlich,« klang es ärgerlich.

»Recht so! Ein guter Fuhrmann kümmert sich zuerst um den Gaul! Da draußen grast er friedlich.«

»Gott sei Dank,« kam es aus tiefem Herzen. Und dann wieder ängstlicher: »Und der Wagen?«

»Der ist futsch, aber gründlich.«

Der Bursche seufzte. »Ist er wirklich futsch?«

»Es scheint so.«

»Läßt er sich nicht mehr reparieren?«

Der Mann zuckte die Achseln. »Wenn ich meinen Ludwig Schwämmle da hätte, den Fahrer vom ersten Geschütz, den Schwarzkünstler und Teufelskerl, dann wollte ich sagen: 19 Der Karren wird wieder zusammengebastelt. Aber so – –« Er schüttelte den Kopf.

Es blieb eine Weile still. Dann fragte der Bursche trüb: »Ein neuer Wagen wird jetzt wohl Millionen kosten?«

»Millionen? – Du hast eine Ahnung! Aber jetzt möchte ich erst wissen, was mit dir los ist. Tut dir etwas weh?« –

»Alles,« kam es summarisch.

Der Mann lachte. »Dann ist's nicht schlimm. Alles hat uns draußen oft weh getan; das macht sich wieder. Kannst du aufstehen?«

Gehorsam zog der Bursche die Beine an, um den Versuch zu machen. Da stieg das Blut in sein blasses Gesicht. »Noch nicht,« kam es verzagt. Der Mann ließ sich aufs Knie nieder. »Stütze dich auf mich und es geht!« sagte er so kategorisch, wie er in Notfällen mit sich selber zu sprechen gewohnt war.

Das Bürschlein legte ihm die Hand auf die Schulter und kam hoch. »Siehst du, man kann, wenn man richtig will,« belehrte der Mann befriedigt.

War es heimlich aufflackernder Trotz, war es Erschöpfung, was den Burschen wieder niedergleiten ließ? –

»Na, na, Kerle, was ischt jetzt los?« fragte der Wanderer, in unangenehmer Überraschung das Idiom seiner Heimat gebrauchend.

Sofort schaute der Zusammengesunkene wie neu belebt auf. 20

»Ah, Sie sind Schwabe?«

»Was denn sonst?«

»Sagen Sie doch noch einmal etwas Schwäbisches!«

Wie Abwehr ging es über das Gesicht des Mannes. Die Mundart war durch Jahre des Fernseins von der Heimat so in ihm zurückgedrängt und ins Innerste eingeschlossen worden, daß sie ihm jetzt ein Geweihtes war, das man wohl im Augenblick irgendeines Ausbruchs, aber nicht um sich aufzuspielen, hervorholt.

Doch das abweisende Gefühl hielt nicht stand vor den freudig flehenden Augen des Burschen.

»Was soll i denn sage? I' mein' 's wär an dir, mir z' verzähle, wie alles komme ischt.«

Mit Mund und Augen, nicht mit den Ohren allein, schien der Sitzende zu horchen, als könne er von den Sprachklängen nicht genug in sich hineinnehmen.

Dann atmete er tief und sagte selbstvergessen: »Ja, so war's.«

»Was war so?«

»Großvater.« – Bei aller Kürze klang das leise, wie halbunterdrückte Wort so innig und warm, daß der Mann dem Burschen verwundert ins Gesicht schaute.

Der wandte den Blick. Stockend, unwillig berichtete er: »Ich weiß ja nicht mehr, wie es kam. Als ich merkte, daß 21 ich Satan nicht halten konnte, sprang ich ab. So glaube ich wenigstens. Im Wald bin ich dann aufgewacht.«

Der Mann lachte. »Wald heißt du das bißchen Gestrüpp da? Du solltest einmal mit mir heimkommen!«

»Wo sind Sie daheim?«

Der Schwabe winkte ab. »Jetzt sag du erst mal, wo du daheim bist, und wie ich dich hinbringen soll!«

»Sie sollen mich gar nicht hinbringen,« klang es schnippisch.

»Kerlchen, deine Kräfte scheinen zurückzukehren, fragt sich nur, wie weit sie reichen.«

»Bis Grünhaus sicher.«

»Also in Grünhaus wohnst du? Ist das eine Ortschaft oder ein Hof?«

»Unser Haus ist's natürlich.«

»Also das Haus, auf das der Weg dort drüben zuführt?«

»Es gibt weit und breit kein anderes.«

»Bürschlein, du hast eigentlich nicht nötig, so kurz zu sein. Ich wollte dir ja nur helfen.«

»Mir braucht niemand zu helfen.«

»Na also, dann ade ade, Schatz, lebe wohl!« klang es launig und der Wanderer machte Anstalten zu gehen.

Da rief ihn ein stöhnender Laut zurück. Der Bursche streckte die schmutzige Hand aus, als wolle er aufstehen und 22 könne es allein nicht. »Siehst du,« sagte in leiser Schadenfreude der Mann.

Der andere streifte ein paar blutbefleckte Haarsträhnen aus dem verschmierten Gesicht, aus dem die dunklen Augen in feuchtem Glanze schauten.

»Singen Sie es doch!«

»Was soll ich singen?«

»Vom Schatz, das Lied vom Schatz.«

»Weißt denn du schon, was das ist?« spottete der Mann.

Es glitt wie Hochmut, wie Zurückweisung über des Burschen Züge.

»Helfen Sie mir auf den Gaul!« klang es herrisch.

»Du kommst so wenig auf den Gaul wie ich auf den Mond. Habt ihr nicht einen Wagen in Grünhaus, der dich holen könnte?«

»Wir hatten nur den einen.«

»Der zählt nicht mehr.«

Nach trüber Pause kam's: »Einen Fahrstuhl haben wir auch, aber – –«

»Was, aber? Magst du nicht drin gefahren werden?«

Wieder das rasche Aufglänzen in den Augen. »O doch. Aber Ursel gibt ihn natürlich nicht heraus.«

»Wer ist Ursel?«

»Meine ältere Schwester.« 23

»Warum gibt die ihn nicht heraus?«

Jetzt ging in dem überschatteten Gesicht eine deutliche Wandlung vor. Die ganze Trübsal schien nun zu Feindseligkeit abzubiegen.

»Weil sie die Ursel ist, die ihren eigenen Kopf hat.«

»Na, du scheinst aber deinen eigenen auch zu haben.«

»Hab ich auch,« klang es selbstbewußt.

»Und was sagt da euer Vater dazu?«

»Mein Vater ist tot.«

Der Ton, in dem die kurze Antwort gegeben wurde, schien aus einer Tiefe herzukommen, die der Jugend des Burschen nicht angemessen war. Schon brach es weiter aus ihm heraus: »Wenn Sie es wissen wollen: Mein Vater ist tot, meine Mutter ist tot, Ursels Mann ist tot. Vor zwei Jahren ist auch mein Großvater gegangen und Walter Hutmann – –« Er brach ab und machte eine fast wegwerfende Handbewegung.

Die Färbung der Sprache, dieses leidenschaftliche Aufgewühltsein, das halb flammende Bitterkeit, halb schmerzlichste Hilflosigkeit war, erinnerte den Hörer an eine Zeit seines eigenen Lebens, als ihm ähnlich zumut gewesen war.

Er suchte nach einer beruhigenden Redensart, denn mehr konnte er ja dem wildfremden Burschen nicht bieten. Aber ehe er dergleichen fand, kam es schon in ruhigerer Tonart: 24 »Es ist doch wohl das Gescheiteste, Sie versuchen den Fahrstuhl von Ursel herauszubekommen. Sagen Sie einfach, ich habe mir den Fuß verstaucht.«

»Das ist ja aber nicht wahr, du kannst ja ganz gut stehen.«

»Sie haben wohl noch nie etwas gesagt, was nicht wahr, aber notwendig war?«

»Werde nicht frech, Kleiner, sonst lernst du einen Schwaben kennen,« meinte lachend der Mann.

»Sie sind der erste nicht,« entgegnete wie von oben herab das Bürschlein.

»So! Also dann weißt du, mit wem du es zu tun hast. Wenn Pfarrers Felix nicht ein guter Kerl wäre, könntest du dir jetzt deinen Fahrstuhl selber holen.«

Sie lachten beide. Dann richtete sich der Bursche langsam auf und schritt, als wolle er seine Kräfte prüfen, dem Waldsaum zu. Dort glitten seine erschreckten Blicke über die Zerstörung hin. Er ballte die blutige Faust gegen den grasenden Gaul. »Du, Rabenaas,« rief er hinüber.

»Aha,« sagte der Mann, »das hast du von einem Schwaben.«

»Erraten,« entgegnete kurz der andere und bückte sich nach den umherliegenden Holztrümmern, die einmal die Leitern eines Wagens gewesen waren. Er sammelte flink ein Häufchen zusammen, dann richtete er sich auf und gebot: 25 »Also, Sie holen den Fahrstuhl. Sie müssen am Gartentor läuten, auch wenn es nicht verschlossen sein sollte. Berti würde erschrecken, wenn Sie auf einmal dastünden.«

»Wer ist Berti?«

»Mein Bruder, natürlich. Er ist gelähmt.«

»Das kann ich doch wirklich nicht wissen.«

»Das weiß hier herum jedermann.«

»Hier herum gibt's ja weit und breit keinen Menschen.«

»Oho! Mehr als genug.« Mit einer deutenden Handbewegung: »Dort drüben Heinecke, der Streckenwärter und sein Lenchen natürlich.«

»Also zwei im ganzen.«

Der andere ging nicht darauf ein. »Sie müssen auch deshalb läuten, weil vielleicht der Hund läuft. Berti macht ihn oft los, und er ist bös.«

»Berti oder der Hund?«

»Der Hund natürlich, – aber manchmal auch Berti,« setzte der Bursche ohne Lächeln hinzu.

»Wie heißt denn der Hund?«

»Harras, natürlich.«

»O, dann kann er nicht bös sein. Die bösen heißen anders.«

»Wie denn?«

»Nun – Peter zum Beispiel.« 26

Der Bursche lachte auf: »So heiße ich.«

»Ein Glück, daß du kein Hund bist.«

»Ich habe mir schon gewünscht, ich wäre einer. Die haben es in manchem Stück viel besser als wir Menschen.«

Der Wanderer schaute befremdet auf den jungen Mund. Es kam ihm zum Bewußtsein, wie gut geschnitten und rassig das blasse Gesicht war, das jetzt Schmutz und Blut entstellten.

»Kerlchen,« sagte er aufmunternd, »so schwer wirst du es wohl nicht haben, daß du die Hunde beneiden mußt.«

Ein Blick traf ihn, der besagte: Wie kann man so töricht daherreden! Dann kam's: »Hunde denken gewiß nicht darüber nach, zu was sie auf der Welt sind, oder warum sterben sein muß, oder was leben und sterben überhaupt für einen Sinn hat – –«

Es blieb eine Weile still. Man hörte nur den Gaul das Gras rupfen. Jetzt fragte der Mann: »Also diese Dinge plagen dich! Du bist fast zu jung dazu, sollte ich meinen.«

Der Bursche straffte sich. Deutliche Ablehnung lag über der ganzen Gestalt.

»Sie müssen in Grünhaus natürlich sofort sagen, daß Satan nichts passiert ist,« klang es befehlerisch und ablenkend.

»Den nehme ich gleich mit, dann sieht es jedermann.« 27

Es arbeitete in des Burschen Gesicht. Jähes Mißtrauen glitt darüber.

»Der Gaul läßt keinen Fremden her, besonders nicht, wenn er erregt ist.«

Vielleicht wollte der Mann daraufhin erklären, daß, wer dabeigewesen war, als es galt, Munition vorzubringen, auch mit erregten Gäulen umzugehen wisse. Aber er sagte dann nur kurz: »Das laß meine Sorge sein!«

Er näherte sich dem Tier und betrachtete es. Sein Blick wurde hell davon. Kerle wie diesen vielleicht fünfzehnjährigen Hengst hatte man draußen zu Kameraden gehabt, als Himmel und Erde in Fetzen gehen wollten. Ja – hier an der mächtigen Hinterhand trug der Gaul den Stempel der unvergänglichen Bruderschaft. Diese verharschte Schramme stammte todsicher von draußen! Ludwig Schwämmle, der Fahrer vom ersten Geschütz, würde sagen: von einem ordonnanzmäßigen Granatsplitter. Der Mann wollte schon den Mund auftun, um den Burschen über diese Sache zu fragen, da fürchtete er, daß ihn jedes Wort in der Kehle würgen und daß ihm die Augen feucht werden würden. Scheu strich er dem Tier über die Flanke, über die zerzauste Mähne. Dann trat er dorthin, wo der mächtige Gaulskörper ihn gegen Sicht deckte. Einen Augenblick legte er den Kopf an den Pferdehals, er konnte nicht anders. Alles lohte in ihm 28 auf, was er erstickt glaubte unter der Erbärmlichkeit der Zeit, die nur noch Geldscheine kannte und schätzte.

Der Bursche trat jetzt herzu. Er schien sich zu wundern, daß der Hengst den Fremdling heranließ. Vielleicht spielte etwas wie Eifersucht mit.

»Können Sie reiten?« fragte er neugierig und fing an, das Kummet zurechtzuschieben.

Der Mann half dabei. Lachend gab er zurück: »Einigermaßen, wenn du nichts dagegen hast.«

»Dann kann ich mich hinter Sie auf den Gaul setzen.«

»Aha, du traust wohl nicht, ob ich mit deinem Satan nicht in die weite Welt reite?«

Der Bursche trat zurück und schüttelte sich die Haarsträhne zurück. »Also, ich warte hier auf den Fahrstuhl,« sagte er in einem Ton, der ebensogut heißen konnte: auf Dummheiten gebe ich keine Antwort.

Mit ruhigen Griffen löste der Mann die Stricke vom Baum und machte das Tier frei. Als er sich gewandt auf den ungesattelten Pferderücken schwang, erhob sich kein Widerspruch, ja, der Hengst schien befriedigt von der neuen Phase seines Abenteuers.

Und auch in des Mannes Gesicht, in seine ganze Haltung kam jene hochgemute Freude, jener beschwingte Stolz, der den rechten Reiter und sein Roß zusammenbindet. 29

Mit einer grüßenden Handbewegung verabschiedete er sich lachend von dem blassen Burschen und sprengte davon. Als in dem steinernen Durchlaß die schweren Hufschläge aufdröhnten, stieg mit der Erinnerung noch einmal Unruhe in dem Tier auf. Aber es ließ sich rasch zurechtbringen und bog aufwiehernd in den ihm vertrauten Weg ein.

Der Reiter lachte vor sich hin. Das unverkennbare Mißtrauen auf dem blutverschmierten Gesicht fiel ihm ein. Bürschlein, so jung du bist, du hältst nicht allzu viel von den Menschen! Ludwig Schwämmle, der für eine bildhafte Sprache ist, würde sagen: Du bist hochnäsig wie der Igel, wenn ihn einer kitzelt.

Nun ja – von mir aus! Ich mache dich nicht anders. Dafür ist der Pfarrer da, sagen sie in Riedorf, wenn's donnert und es ist kein Blitzableiter auf der Kirche.

Er fing leise an zu singen: Laßt mich nur in meinem Sattel gelten! Das schwelgende Lied paßte zu seinen Hochgefühlen auf dem Pferderücken. Als er von den Sternen über der Mütze sang, fielen ihm nächtliche Ritte ein, da wollte sich Schwere über ihn legen, und er brach ab.

Der Gaul ging Schritt. Aber es war ein elastischer, nicht etwa ein müder Schritt. Auch das Tier schien die Stunde und die Lage zu genießen. Der Reiter ließ sich in eine Unterhaltung ein und spielende Ohren antworteten. 30

»Also, du heißt Satan? Ob das wohl dein richtiger eingetragener Name ist, oder nur ein Übername, den dir Böswillige anhängten? –

Ich zum Beispiel stehe als Felix Klein im Kirchenbuch zu Riedorf, wo mich mein eigener Vater, weil er zufällig der Pfarrer war, so eingeschrieben hat. Aber meine Mutter hat mich dann bald umgetauft und mit Vorliebe. ›G'rechtmacher‹ zu mir gesagt, obgleich das im Schwabenland gleich hinter Raubmörder kommt. Weil ich als kleiner Stöpsel und gelegentlich auch später manches gern eingerenkt hätte, was mir verkehrt vorkam, mußte ich den Übernamen tragen, und ausgerechnet meine Mutter ist schuld daran!

Maria, geborene Ranstett, hat sie geheißen. Eigentlich von Ranstett. Aber das ›von‹ hat sie immer unterschlagen. Erstens aus Bescheidenheit und zweitens aus Hochmut. Ihr Vater war nämlich Kanzleirat. Das ist ein sehr ehrenwertes Amt, aber adlig braucht man dazu nicht zu sein. Zum Adel gehört eine Stammburg und Grund und Boden, damit das ›von‹ seinen rechten Sinn bekommt. Meine Mutter hat das auch so empfunden, weil sie dem Blut nach echt war.

So hat sie das Von nur noch im Blut, nicht mehr im Namen getragen, damit es keinen Schaden nehme.

Aber jetzt bin ich ganz abgekommen. Weißt du, wie ich dich taufen würde, wenn ich's zu tun hätte?« 31

Der Gaul wieherte auf, als wolle er den Reiter ermuntern, fortzufahren. »Luzifer müßtest du heißen, Lichtträger! Das wäre das Rechte für dich, besonders jetzt, wenn du mich auf dem Rücken hast!

Du brauchst nicht mit den Ohren zu spielen, ich weiß, was ich sage. Beinahe wäre ich einmal ein Kirchenlicht geworden; aber es kamen mir andere Begabungen dazwischen.

Und dann der Krieg!

Artillerist, schön, Fahrer schöner, Leutnant am schönsten.

Laß nicht schon wieder die Ohren spielen, Biest! Ich weiß schon selbst, daß schön, schöner, am schönsten auf den Krieg paßt wie die Faust aufs Auge. Aber such du da die rechten Worte! Die gibt's ja gar nicht, nicht einmal in der Musik, wo sie infernalisch ist.

Und sagen muß man doch etwas, sonst behalten zuletzt die das Wort, die den Krieg am wenigsten kennen und nur mit Dreck nach ihm werfen.

Übrigens, wo hast du dir die Schramme geholt? Nun, ist ja einerlei! Es war überall die gleiche Sauerei. Sauerei sagt man in Riedorf und drum herum. Ihr Mecklenburger oder Oldenburger drückt euch sicher besser aus. Ich muß dir übrigens sagen, Satanas, daß ich einen feinen Merks in den Schenkeln habe. Ich spüre sehr gut, daß du jetzt denkst: 32 Der Kerl wäre am besten Artillerieleutnant geblieben, denn er reitet ja wie ein junger Gott.

Du hättest ganz recht, wenn – – ja wenn – –

Sag einmal ehrlich, Satan: wurmt es dich nicht, daß du nach deiner militärischen Vergangenheit Ackergaul spielen mußt? Und doch hast du's noch besser als unsereiner. Hast deine Arbeit, deine Pflege, deinen Stall und dein Ansehen vor den Leuten.

Wenn wir vier Jahre draußen Kegel geschoben und nach der Scheibe geschossen oder sonst Allotria getrieben hätten – es könnte nicht lumpiger mit uns aussehen.

Geh zur Bank! ist der ganze Rat, den man für uns weiß. Als ob wir für die Bank im Schützengraben gelegen wären!

Wir, die dünnleibigen Einser sollen jetzt hinter den dickbäuchigen Nullen verschwinden.

Aber das sag ich dir: Einmal kommt so ein Einser, der stellt sich vorne hin und weist den Nullen ihren Platz an, auf den sie taugen, dann kommt die Welt ins Lot.«

Er sah über das ergrünte Land hin mit Augen, in denen Zorn und Drohung lag.

Dann kehrten seine Gedanken wieder auf den Gaulsrücken zurück. »Kerl,« sagte er, sich vorbeugend, »wenn dir einmal der Pflug zu dumm wird, geh zur Bank! Ihr könnt doch rechnen, ihr Gäule! Wurzelziehen und so. Mein 33 eigener Vater hat einmal einen Aufsatz darüber geschrieben, nur weiß ich nicht mehr, pro oder contra.

Allerdings nimmt man dich vielleicht nicht. Denn allgemein geht die Rede, Viecher seien die, die nicht bei der Bank seien.

Aber probieren kannst du's ja. Dann läßt du mir den Pflug und ich dir die Logarithmentafel; so ist uns beiden geholfen. –

Unter uns gesagt: als Reitpferd bist du ein wenig zu breit. Das soll kein Vorwurf für dich sein. Der Fehler liegt bei mir. Für Roland den Riesen wärst du das ideale Streitroß. Ich habe nur das Maß von einem schwäbischen Pfarrersbuben: im Schritt guter Durchschnitt, im Kopf etwas mehr. Aber dieses letztere spielt beim Reiten keine Rolle. Es wären sonst mehr Pfarrersbuben bei der Kavallerie.« –

Er überlegte eben, ob er nicht einen munteren Trab herausholen könne, da hob der Gaul den Kopf. Hundegebell ließ sich hören.

»Aha,« meinte der Reiter, »der verrufene Harras. Der scheint allerdings nichts weniger als angebunden zu sein.«

Ein prächtiger Schäferhund kam herangejagt und raste geradewegs dem Gaul vor den Kopf, als wolle er ihn küssen.

Der Hengst schien an solchen Liebessturm gewöhnt. Er machte kaum Miene, sich der Sache zu entziehen. Ein wenig 34 nur hob er den Kopf. Sein leises Schnauben hieß: man muß den Unverstand gewähren lassen.

Jetzt wandte sich der Hund dem Reiter zu. Aber die Beine, an denen er schnüffelte, waren andere Beine, als er erwartet hatte.

Mit wütendem Gebell umkreiste er die fremde Erscheinung.

Der Mann lachte erst, obgleich ihm die Ohren gellten. Aber als der Spaß zu lange dauerte, rief er mit voller Lungenkraft: »Sei still, Rabenaas!«

Der Hund schwieg augenblicklich wie in großer Verblüffung. In seine klugen Augen kam der Ausdruck des Suchens, des Sichbesinnens, der in Hundeaugen so stark werden kann, daß es aussieht, als wolle das Hundebewußtsein die Grenze gegen oben überschreiten.

Einen fast wehmütigen, reuevollen Laut stieß er aus und kam langsam gegen den Reiter her.

»So recht,« lobte der, »nun nimm eine Nase voll an meinen Beinen und benimm dich, wie sich's gehört, wenn ein gewesener Artillerieleutnant auf Besuch kommt.«

Eingehend beschnüffelte jetzt der Hund von neuem des Reiters Beine, ohne sich weiter über die gewonnenen Eindrücke zu äußern.

Der Mann sah sich suchend um. Wo war eigentlich das 35 Haus hingekommen? Es konnte doch keine Fata Morgana gewesen sein.

Jetzt entdeckte er, daß er gar nicht mehr weit davon war. Die Bodensenke und das Buschwerk eines alten Gartens schirmten es hier besser ab als vom Bahndamm drüben.

Ein hoher eiserner Zaun tauchte auf, den grünes Rankenwerk umschlang, das nur das Tor freiließ.

Hinter dem Hausdach ragte in stolzer Wölbung eine kanadische Pappel empor, als habe sie den Auftrag, die einsame Wohnstätte sorglich zu beschirmen. Auch die dem Tor zugekehrte Hauswand war übergrünt, so daß von der Mauer fast nichts zu sehen war und ein paar blitzende Fenster Mühe hatten, sich die Sicht frei zu halten.

Also daher Grünhaus, dachte der Beschauer.

Pfauengeschrei und das Kollern eines Truthahns ließ sich hören. Wahrscheinlich hatten diese wachsamen Tiere den sich nähernden Hufschlag vernommen und machten nun Meldung.

Der Mann sprang ab. Er hatte nicht den Ehrgeiz, auf dem viel zu schweren Gaul als Reiter bewundert zu werden.

Die fast übermütige Laune von unterwegs war abgeflaut und hatte einem Unbehagen Platz gemacht. Wie kam er dazu, hier in dem fremden Haus Einlaß zu verlangen? Hatte er sich einmal wieder in Dinge gemischt, die ihn nichts 36 angingen? Sagte die tote Mutter aus der Ferne her: G'rechtmacher? – Dabei war er doch der Meinung gewesen, sich im Krieg den verpönten Hang abgewöhnt zu haben! –

Er schaute sich nach einer Klingel um, ohne dergleichen entdecken zu können. Der Gaul aber drängte zur Seite und hob die Lefzen.

Einen im Gebüsch versteckten Holzgriff erfaßte er und zog daran, so daß der klirrende Schrei einer altmodischen Schelle in die Stille des Gartens brach.

Auflachend sagte der Mann: »Aha, so macht man das!« Der Hund bellte wie in freudigem Triumph, daß dem Fremdling gezeigt worden war, wie klug in Grünhaus die Vierfüßler seien.

Jetzt rührte sich im Garten etwas. Irgendwo ließen schleifende Schritte den Kies aufrauschen. Die beiden Tiere horchten mit erhobenen Köpfen.

Ein sehr bleicher, in schwarzen Samt gekleideter Knabe tauchte auf. Er ging mühsam und schleppend an zwei Stöcken und schien sehr elend zu sein.

Jetzt fing der Hund zu kläffen an und stieg am Gitter hoch, als könne er das Wiedersehen nicht erwarten. Auch der Gaul schien freudig erregt.

Übergroße dunkle Augen schauten gegen das Tor her. Dann blieb der Knabe stehen. Sein armseliger Körper reckte 37 sich, als wolle er Strammheit vortäuschen. Der Kopf, den tiefdunkles, lockiges Haar noch bleicher machte und dessen schöne breite Stirne durch die Zeichen äußerster Reizbarkeit beeinträchtigt war, legte sich wie in trotziger Abwehr zurück, angesichts der unerwarteten Erscheinung am Tor.

Der Mann fühlte sich seltsam erschüttert. Bürschlein, dachte er, du machst es wie ein gelähmter Hofhund, der keinen nahe kommen lassen will und doch weiß, daß er es nicht wehren kann.

Des Knaben kranke und vor Erregung fast krähende Stimme rief jetzt gegen das Haus hin: »Ursel, komm schnell!«

Gern hätte der Mann etwas Beruhigendes gesagt. Aber der Lärm, den der Hund vollführte, ließ ihn nicht zu Wort kommen.

So wartete er, wie sich die Sache weiter entwickeln werde.


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