Auguste Supper
Das Mädchen Peter und der Fremde
Auguste Supper

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Drüben vor dem Haus war ein Frühstückstisch so appetitlich und vielversprechend gedeckt, wie man es zurzeit selten zu sehen bekam.

Die Morgensonne streifte darüber hin, als freue sie sich, Roggen und Weizen, die sie im letzten Sommer ausgereift, das Heu, das sie getrocknet, den Blütenstaub und die Süße von tausend letztjährigen Blumen nun auf einem gastlichen Tisch als Brot, Butter, Honig wieder begrüßen zu dürfen.

Knecht und Magd waren nicht am Tisch und auch der Knabe fehlte. 154

Frau Ursel, die den Gast freundlich, wenn auch zurückhaltend begrüßte, sagte, Berti habe eine schlechte Nacht gehabt, man dürfe nicht auf ihn rechnen.

Der Mann spürte plötzlich den Schatten, der auch in der Frühlingshelle von Grünhaus nicht fehlte.

»Hatte er stärkere Schmerzen?« fragte er teilnehmend.

Sie schüttelte mit halbem Lächeln den Kopf. »Nein, ich glaube, sein Geburtstagsprogramm beschäftigt ihn so stark.«

»Komisch,« warf Peter ein, »wenn man vom Leben nichts hält, sollte man seinen Geburtstag nicht so wichtig nehmen.«

Ein verweisender Blick der Schwester traf sie. »Wie kannst du so reden?«

»Weißt du da etwas anderes zu sagen? Berti müßte, so, wie er immer redet, verbieten, daß man seinen Geburtstag feiert.«

Die Stirne der schönen Frau rötete sich. »Ich glaube, wir sollten uns doppelt anstrengen, den Tag festlich zu gestalten.«

Peter zuckte die Achseln und machte sich ein Butterbrot zurecht. Herzufliegende Vögel fütterte sie mit Krümeln.

Der Ablenkung froh deutete der Mann auf die gefiederte Schar. »Wie zahm sie alle sind. Jetzt fehlt nur noch der Würger.« 155

Peter machte eine Gebärde, die Schweigen gebot.

Frau Ursel schenkte Kaffee ein und schien nichts gehört zu haben. Sie ging jetzt ins Haus, um etwas Fehlendes zu holen, und Peter wandte sich an den Gast. Auf ihre Stirne deutend sagte sie: »Wie mögen Sie nur vor Ursel vom rotköpfigen Würger reden!«

»Aber warum denn nicht?«

»Das heißt doch wirklich: Perlen vor die Säue werfen. Ursel kann keinen Feldsperling von einem Finkenweibchen unterscheiden. Jeden Bussard oder Hühnerhabicht könnten Sie ihr als Adler servieren. Großvater hat nur mit mir allein von den Vögeln gesprochen.«

Es lag eine so leidenschaftliche Eifersucht auf die Gunst des Toten in der heißen Rede, daß der Mann stumm blieb.

Nach einiger Zeit begann Peter wieder. »Mit Ursel hat er dafür andere Dinge geredet, von Plato und Goethe und solche Sachen.«

Er lachte. »Dann sind das wohl die Dinge, die dich nichts angehen? Ihr liebt demnach reinliche Scheidung?«

Sie machte ein hochmütiges Gesicht. »Ich kann lesen, was ich will, mein Pastor hat mir ja jetzt nichts mehr dreinzureden.«

»Das tat er wohl?«

»Und ob!« 156

Sie schwieg verbissen. Dann brach es aus ihr heraus: »Man kann doch nicht immer nur das lesen, was zwischen Buchdeckeln steht. Großvater hat gesagt, die ganze Welt sei Gottes Handschrift, man müsse sie nur lesen lernen. Dazu sei man ein Mensch.«

Er blickte in ihr erregtes Gesicht, in ihre flammenden Augen, und ihm war, als durchschaue er den ganzen leidenschaftlichen Kampf, den sie um ihre innere Freiheit geführt hatte.

Ehe er antworten konnte, trat Frau Ursel wieder herzu und verscheuchte, ohne es zu wollen oder darauf zu achten, den Vogelschwarm, der schwirrend davonstiebte.

»Natürlich,« murrte Peter grimmig, und der Gast riß sich zusammen.

Sie sprachen jetzt von harmlosen Dingen, wohl jedes mit dem heimlichen Bewußtsein, nur eine Oberfläche zu kräuseln. Die Rede kam auf den morgenden Festtag und das zu entwerfende Programm. Wenn aber Peter etwas dazwischen warf, war es meist eher störend als fördernd, so daß sich der Gast über sie ärgerte. Der zweierlei Rhythmus, der ihm gleich zu Anfang aufgefallen war, trat immer stärker zutage. Es fiel ihm jetzt schwer, nicht für Frau Ursel Partei zu ergreifen; und doch wäre ihm das wie eine Treulosigkeit vorgekommen. So blieb er still bei dem Geplänkel der Schwestern, 157 das letzten Endes, teils versteckt und teils offen, darauf hinauslief, wessen Vorschläge mehr dem Sinn und Geist Großvaters gemäß seien.

Schließlich stand Peter ungeduldig auf und lief davon.

»Wie ein ungezogenes Kind,« sagte Frau Ursel mit verdunkeltem Blick. Dann wandte sie sich an den Gast: »Großvater fehlt hier sehr.«

»Ich kenne solche Lücken,« antwortete der Mann und dachte an das Gehen seiner Mutter, bei dem es gewesen war, als stürze eine Brücke ein, die vom letzten der Söhne zum Vater geführt hatte.

Sie schaute ihn mit stillen Augen an. »Sie haben viel erlebt, Sie waren draußen,« sagte sie unvermittelt.

Er nickte. »Vier Jahre lang.«

»Mein Mann fiel an der Somme.«

»Dort stand ich auch einmal.«

»Er war Landwehrhauptmann.«

»Bei welchem Regiment?«

Sie gab ihm Auskunft.

Wie unter drückender Schwere verstummte das Gespräch. Dann zwang sich der Mann zu sagen: »Das Regiment hatte dort große Verluste.«

Sie nickte schweigend. 158

In dem Gast quoll etwas auf wie Sehnsucht nach Peter, nach ihrer Beredsamkeit, ihrer Keckheit, ihrer Frische, nach ihrer dem Leben zugewandten Art, die ihm, der nicht Erinnerungen suchte, sondern von ihnen loskommen wollte, so wohltätig war.

Aber sie erschien nicht wieder auf der Bildfläche und die Schwester begann aufs neue: »Unser Vater stand auch in der Nähe.«

»Er war Stabsarzt, ich weiß.«

»Ach, Sie wissen das – woher – –?«

»Peter sagte es mir,« unterbrach er ihre erregte Frage.

Sie schien überrascht. »Ach so, Peter kramte schon Familiendinge vor Ihnen aus? – Da können Sie sich etwas einbilden. Es ist sonst ihre Art nicht. Vielleicht hat sie gemerkt, was auch mir auffiel, daß Sie in irgend etwas an Großvater erinnern. Ich komme nur nicht dahinter, wieso –«

Er mußte lächeln. Bei sich dachte er: es ist wirklich kein Kunststück hier an Großvater zu erinnern. Wenn die Herzen und Köpfe so voll sind von dem alten Herrn, dann muß schließlich alles und jedes an ihn erinnern.

Laut sagte er: »Ich glaube, daß ich Peter für einen Jungen hielt und sie weiterhin so behandle, das gibt ihr das nötige Zutrauen. In dieser Hinsicht ist Bertis Geburtstagswunsch kein schlechter Einfall.« 159

Auch sie lächelte jetzt. »Es sieht Peter ähnlich. Hat sie Ihnen noch mehr von Vater erzählt?«

»Ich wüßte nicht. Nicht einmal der Name ist genannt worden.«

Sie schaute auf. »Löser, Bernhard Löser beim Regimentsstab – –« Sie nannte die Nummer.

Seine Augen weiteten sich. Ungläubig schaute er sie an, als habe sie Erstaunliches gesagt. Dann klang es schwer: »Stabsarzt Dr. Löser hat meinem ältesten Bruder die Augen zugedrückt und dann selbst meinen Eltern geschrieben. Mein Bruder war Unterarzt draußen.«

Es kam jene Stille auf, die wie ein Gang an ferne umglänzte Gräber ist, vor denen alles, auch das Verwundern, schweigt.

Nach langer Zeit hob die Frau den tränenvollen Blick. »Unser Vater war ein sehr gütiger Mann, vielleicht zu gütig für den Krieg,« sagte sie leise.

Er schüttelte den Kopf. »Man hat solche draußen gebraucht, es wäre sonst nicht auszuhalten gewesen.«

Ihre Augen strahlten dankbar auf. »Die Draufgänger und Raufbolde allein können es nicht machen; die Ruhigen und Gütigen müssen wohl daneben stehen.«

Er nickte. Nachdenklich kam's: »Ja, der Krieg brauchte beide. Er war wie ein ganz verdichtetes, ein ganz 160 zusammengepreßtes Leben. Darum brauchte er alles Gute und alles Böse in verdichteter Form. Die Raufbolde waren gerade rauflustig, die Gütigen gerade gütig genug für draußen.«

»Sie hatten, wenn ich recht verstand, noch einen zweiten Bruder im Feld?«

»Ganz recht. Mein Bruder Theophil ging als Theologe freiwillig mit und fiel acht Tage nach Albrecht, dem Mediziner.«

Sie strich sich wortlos über die Stirne. Nach einiger Zeit fragte sie: »Theophil – ist das ein häufiger Name in Schwaben?«

Er mußte lächeln. »Das läßt sich, glaube ich, nicht behaupten. Nur Pfarrersbuben heißen manchmal so und auch die eigentlich nur in besonderen Fällen. Bei uns lag solch ein besonderer Fall vor. In meines Vaters Familie spielte ein Vorfahr Theophil als geistlicher Liederdichter eine glanzvolle Rolle.«

Die Frau erhob sich still und ging ins Haus. Als sie nach kurzer Zeit zurückkehrte, legte sie ein dünnes schwarzes Buch vor den Gast auf den Tisch. Den Überraschten hinderte eine Scheu, danach zu greifen. Ihm war, als müsse er sich die Hände daran verbrennen.

Da schlug Frau Ursel selbst den Deckel auf.

»Geistliches Schatzkästlein. Zum Gebrauch für Trauernde und Heimgesuchte,« las er da in veralteter Druckschrift 161 und darunter von Frauenhand: »Meinem lieben Theophil für Leben und Sterben.«

Er schaute bleich und erschreckt in das erblaßte Gesicht der Frau. »Wie kommt – –?«

Sie eilte ihm zu Hilfe. »Es wurde mir zusammen mit meines Mannes Nachlaß aus dem Feld geschickt. Wie es zuging, kann ich nicht sagen.«

Sie setzte sich wieder neben ihn, als möchte sie ihm Stütze sein in diesem erschütternden Augenblick.

Da riß er sich gewaltsam zusammen. »Meine Mutter hat das geschrieben. Sie gab jedem von uns dreien das mit, was sie für angemessen hielt. Theo bekam das Schatzkästlein. Daran erkenne ich meinen Bruder, daß er es Ihnen, der Unbekannten, schicken ließ zum Trost.«

Sie saßen lange schweigend und nur das schwarze Bändchen auf der weißen Tischdecke schien überlaut zu reden.

»Nummer 24 ist angestrichen,« flüsterte die Frau.

Er blätterte auf. Das Gedruckte wollte ihm vor den Augen verschwimmen.

Dann las er und die Frau sah mit ihm ins Buch:

Bald wird's im Osten wieder tagen,
War auch die Nacht dir sternenlos.
Dir schwärzesten der Stunden tragen
Schon künftges Licht in ihrem Schoß. 162

Was heut dich quält, wird bald zerfließen,
Wird als ein schwerer Traum zergehn,
Und tausend neue Pfade grüßen
Dort, wo du keinen mehr gesehn. –

Lang blieben sie reglos. Dann sagte der Mann verloren: »Manche Begegnung habe ich erlebt und mich nicht gewundert, aber – –«

Er verstummte.

Die Frau legte leise die Hand auf seine Rechte. Es war eine Gebärde guter Mütterlichkeit. »Darf ich dem einen Bruder danken, weil ich dem andern niemals danken konnte?« sagte sie mit hellen Tränen in den Augen.

Nach einer Weile setzte sie leise hinzu: »Großvater würde sagen: Nun grüßen einmal wieder die von drüben.« –

In ihr stilles Versunkensein stolzierte jetzt der Pfau über den Weg. Er hatte die Schwanzfedern zu schillerndem Rad ausgebreitet, und seine Haltung schien zu besagen: Seht her, es gibt, trotz allem Durchlebten, immer noch Prächtiges auf der Erde.

Die Frau deutete nach dem Tier: »Vater hat uns den Pfau als Küken aus dem Feld geschickt.«

Langsam wendete sich der Vogel her. Er schien es, wie die Herrin, für Pflicht zu halten, den Gast von Grünhaus wegzulocken von Schwerem. 163

Das prachtvolle Blau des Halses und das herrliche Krönchen auf dem feinen Kopf schimmerten. Ein sichtbares Zittern, wie von stolzer Erregtheit, ging durch den Tierleib.

Noch halb abwesend meinte der Mann: »Die verkörperte Eitelkeit.« Die Frau lächelte. »So nimmt man gemeinhin an. Großvater hätte es schwerlich so gesehen. Er hatte zu große Ehrfurcht vor dem Geheimnis der Tierheit, als daß er immer die menschlichen Maßstäbe angelegt hätte.«

Im Gefühl, die rechte Saite anzustreichen, fragte er: »Der alte Herr hat wohl viel mit Ihnen über solche Dinge gesprochen?«

Sie nickte. »Großvater war derjenige von allen Menschen, der mich am besten gekannt hat,« sagte sie leise und innig.

In ihm dachte es: Mit diesem Großvater ist es wie mit dem Vollmond: jeder meint, er stehe just über seinem Dach.

Frau Ursel fuhr nachdenklich fort: »Sonderbar! Großvater hat jedem das Seine gelassen und gegeben und nichts darüber hinaus verlangt oder aufgedrängt. Dabei waren wir damals einig wie seither nie mehr.«

Er lachte. »Das ist nicht sonderbar. Es ist die Kunst jedes guten Kapellmeisters. Der alte Herr war einfach musikalisch.« 164

Sie schaute ihn freundlich an. »Was Sie darunter verstehen – sicherlich.«

Seine Stirne furchte sich. Wie es leicht jedem Schwaben widerfährt, sträubte sich ihm beim Streicheln das Fell.

»Pfui Teufel,« entfuhr es ihm, »wie heutzutag dirigiert und musiziert wird.«

Sie nickte. »Ja, ich bin dankbar, daß wir im stillen Grünhaus leben dürfen.«

»Wohnen Sie eigentlich schon lange da?«

»Nahezu meine ganze Kindheit hindurch und dann wieder seit dem Krieg.«

Er scheute sich, weiter vorzudringen, aber sie erzählte jetzt von selbst: »Großvater kaufte Grünhaus, schon ehe ich auf der Welt war. Vor etwa hundert Jahren hat es noch zu fürstlichem Besitz gehört. Es wurden damals hierherum Fasanen gehegt und das Haus hieß die Fasanerie. Später wurde es Gärtnerei und Blumenzüchterei. Großvater kaufte es, um ein Altenteil zu haben, wenn er seine große Praxis aufgeben würde.«

Sie schwieg. Der Zuhörer hatte das Gefühl, als überlege sie, wie weit sie dem Fremdling gegenüber gehen dürfe.

Dann fuhr sie fort: »Großvater wurde schon bald durch viel Leid in die Einsamkeit getrieben. Seine Frau und seine beiden Töchter starben ihm an Diphtherie, der man damals 165 noch machtlos gegenüberstand. Tante Lenchen war Braut, Tante Brigitte zählte siebzehn oder achtzehn Jahre. Sie soll große Ähnlichkeit mit Petronella gehabt haben.«

Wieder gab es eine Pause. Dann berichtete die Frau rascher als vorher: »Tante Lenchens Bräutigam wurde später mein Mann.«

Das rasche Aufblicken ihres Zuhörers trieb ihr das Blut ins Gesicht. Befangen erklärte sie: »Paul Nohl hatte Tante Lenchen sehr geliebt. Als sie starb, ging er als Handelsvertreter nach Pernambuco. Bei seiner Rückkehr nach zehn Jahren fand er, daß ich Tante Lenchen sehr ähnlich geworden sei. Großvater freute sich so sehr darüber.«

Aha, dachte der Mann verstehend, also Großvater zu lieb – –!

Sie erzählte hastig weiter: »Wir heirateten. Drei Jahre lang wohnten wir in Berlin, dann kam der Krieg.«

Wahrscheinlich wußte sie selbst nichts davon, wie tief sie hier aufatmete, so daß es schien, als habe sie einen hohen Berg erstiegen und müsse ausruhen. Zum Überfluß machte sie jetzt noch, wie ein Rebhuhn, das von seinem Gelege weglocken will, eine Anstrengung, vom eingeschlagenen Weg abzukommen.

»Großvater schrieb seinem Freunde, dem Vater von Walter Hutmann, er möge doch für mich eine Schwäbin 166 besorgen, die als Dienstmädchen nach Berlin möchte. Er meinte, die ungewohnte Stadt und das neue Leben werde dadurch für mich heimeliger, weil wir alle Schwäbisch doch so sehr lieben.«

Der Mann spürte, daß das hieß: Meine drei Ehejahre stehen nicht zur Diskussion. Sie sind ganz allein meine unantastbare Sache.

Leichten Tons sagte er: »Na – und erschien sie dann, die Schwäbin?«

Frau Ursel lächelte. »Jawohl, sie kam, das Agathle. Ein knappes Jahr hielt sie es aus, dann plagte sie das Heimweh so, daß sie nicht mehr schlafen und nicht mehr essen konnte. Als der Frühling kam, wollte sie heim zur Erde. Wir zwei weinten manche Stunde zusammen zwischen den Steinmauern.«

»Ich kann's verstehen,« entgegnete er, als sie schwieg.

Als hätte er ihr etwas besonders Gutes gesagt, schaute sie ihn dankbar an und fuhr fort: »Sie hat mir dann ein paarmal geschrieben, aber das Briefschreiben war nicht ihre starke Seite. Im Krieg schickte sie mir einmal eine Wurst, damit ich sie als Liebesgabe meinem Mann ins Feld schicken solle. Sie kam damit zu spät. Mein Mann war eben gefallen.«

»Aus welcher Gegend war sie denn?« fragte der Schwabe, um der Frau fortzuhelfen. 167

»Sie war aus Kleinfelden, des Bürgermeisters Tochter.«

Er lachte auf. »Dann habe ich sie jedenfalls gekannt. Kleinfelden ist eine schwache Stunde von Riedorf, und als Bub war mein Radius so etwa drei Stunden im Umkreis. Kam nie die Rede auf die Riedorfer Lausbuben?«

»Ich erinnere mich nicht,« entgegnete lächelnd die Frau und sie spürte warm sein Bestreben, Schatten zu scheuchen. Sich zusammenraffend, fuhr sie fort: »Sechs Jahre alt war ich, als meine Mutter starb. Mein Vater brachte mich nach Grünhaus und ging als Schiffsarzt fort. In Triest lernte er später die Mutter meiner Geschwister kennen. Sie starb bei Bertis Geburt und auch Petronella und Berti kamen zu Großvater. Ich war damals vierzehn und eben eingesegnet. Großvater war immer die Planke, an die man sich klammerte, wenn das Schiff zerschellt ist.«

Als er still blieb, schloß sie ab: »Nun wissen Sie zur Not, bei wem Sie eingekehrt sind. Ich bin Ihnen diese Erklärungen schuldig, schon allein für Ihres Bruders Buch und Ihres Vorfahren Gedicht.«

»Ich danke Ihnen,« entgegnete er verhalten.

Sie wehrte ab. »Zu danken habe nur ich. Lassen Sie sich die Episode Grünhaus nicht reuen! Mir ist, als hätte Großvater Sie hierher geführt. Berlin frißt Sie noch früh genug.« 168

»Ich danke Ihnen,« wiederholte er bewegt und nach einer Weile: »Was das Gefressenwerden anbelangt, ist mir nicht bang. Man schluckt uns Schwaben nicht so leicht, besonders die nicht, die draußen waren.«

Sie stellte mit behutsamen Händen das Geschirr zusammen, und er bemühte sich, so gut es ging, ihr dabei zu helfen.

Jetzt blickte sie ihn an und fragte mit deutlichem Erröten: »Sie wissen wohl nicht, ob Ihr Malerfreund Doktor Hutmann kennt?«

»Ich entsinne mich nicht, daß er den Namen erwähnt hätte.«

»Großvater sagte, Schwaben in der Fremde halten zusammen.«

»In der Fremde, das stimmt. Daheim hapert es manchmal.«

Sie lachte und er fuhr fort: »Selbstverständlich kann ich nicht behaupten, daß die zwei sich nicht kennen. Im Briefschreiben beschränkt sich der Wennberg, genau wie ich, auf das Allernotwendigste, und selbst das lassen wir manchmal noch weg. Aber ich werde mich sofort erkundigen, wenn ich hinkomme.«

Sie wehrte ab. »Nein, bitte nein! Das sind doch Dinge, die mich nichts angehen. Ich dachte nur – –« 169

Er wunderte sich über ihre Verwirrung, dabei kam ihm zum Bewußtsein, wie mädchenhaft und anziehend sie aussehe.

Berti kam herzu, von dem Hund wie immer mit überschwenglicher Freude begrüßt. Sehr mitgenommen sah der Knabe aus, gar nicht, als hätten ihn in der schlaflosen Nacht nur frohe Gedanken bewegt. Schwer ging er an beiden Stöcken. und die großen Augen lagen blauumschattet unter der bleichen Stirn.

»Wo ist Peter?« rief er, die Bewillkommnung des Hundes wie etwas Lästiges abwehrend.

»Berthold,« mahnte die Schwester, »wir haben einen Gast.«

Er verbeugte sich flüchtig. »Wo ist Peter?«

»Ich weiß es nicht. Sie lief weg.«

»Wieder einmal,« kam es hämisch und dann erregt: »Er lief weg, sollst du sagen.«

»Aber doch nicht, wenn wir allein sind.«

»Immer, solang Herr Klein da ist.«

»Na, ich weiß ja den Schwindel,« begütigte der Gast.

»Aber wir wollen doch tun, als ob es kein Schwindel wäre,« rief klagend der Kranke.

»Willst du jetzt nicht frühstücken?« lenkte die Schwester ab.

»Wo Peter ist, will ich wissen,« kam es unartig zurück, und von dem Hund demütig und treu begleitet humpelte der 170 Kranke davon. Der müde Blick der Frau traf in den des Gastes. Ist es meine Schuld? schien er zu fragen, bin ich eine schlechte Erzieherin?

Der Schwabe tröstete: »Leicht ist es nicht; aber der arme Kerl hat es selbst am schwersten. Was mag er nur in dieser Stimmung von Peter wollen?«

Ihr Gesicht klärte sich auf. »Für diese Stimmung ist ihm Peter Arznei. Sie zeigt ihm kein Mitleid, sieht ihm nichts nach, stellt ihre Forderungen und läßt sich nichts von ihm gefallen. Er scheint das zu brauchen.«

»Ja, aber wenn Sie das doch wissen!« –

»Ich dürfte ihm so nicht kommen. Nur von Peter her wirkt es.«

Er nickte. »Ich verstehe, eine erste Geige kann nicht gut den Cellopart übernehmen.«

Sie hob lächelnd die Hand. »Bitte sehr, die erste Geige spielt hier Peter.«

»Verzeihung, aber ich finde das nicht ganz in der Ordnung.«

Sie zuckte die Achseln. »Großvater hat es, glaube ich, kommen sehen.«

»Und gebilligt?«

»Er hat sich nicht darüber ausgesprochen. Er beredete nicht gern Werdendes.« 171

Und nach einer Weile mit fast schelmischem Aufblick: »Gehört es eigentlich zu eines Kapellmeisters Obliegenheiten, die Instrumente ganz nach eigenem Gutdünken zu besetzen?«

Er lachte. »Sie haben recht. Es sind da allerlei Gesichtspunkte zu wahren.«

Aufstehend sagte sie jetzt: »Entschuldigen Sie mich; ich muß an die Arbeit. Es sind viele Briefe zu erledigen.«

»Haben Sie so große Korrespondenz?« fragte er verwundert.

»Geschäftliches zumeist. Der Spargelversand setzt ein, es liegen Bestellungen vor.«

In ihm dachte es: Sie lügt sonst nicht, aber eben hat sie dich angelogen.

Laut sagte er: »Ich werde mich jetzt wieder hinter den Leiterwagen machen.«

»Der ist fertig. Rudolf hat das besorgt. Er ist schon seit Tagesanbruch dahinter.«

»Ach, dann habe ich wohl nicht gut genug gearbeitet,« meinte er betroffen.

Sie lächelte. »Darüber müssen Sie Peter fragen. Sie hält sicher mit ihrem Urteil nicht zurück.«

»Davon bin ich überzeugt,« entfuhr es ihm.

Sie wollte sich schon wegwenden und kehrte noch einmal zurück. 172

»Bitte, sehen Sie in Peter nicht das, was man etwa enfant terrible nennt. Sie dürfen sie schon ernst nehmen, sonst verbauen Sie sich den Weg. Sie hat ein feines Gefühl für dergleichen.«

Und noch einmal wandte sie sich. »Sehen Sie sich die Spargelländer und den Garten an! Fühlen Sie sich zu Hause, so gut das geht!«

Er schaute hinter ihr her. Zu Hause, dachte er, du hast ja keine Ahnung, wie heimatlos ich bin, seit Mutter nicht mehr den Dolmetscher zwischen Vater und mir macht. Wir reden ja zweierlei Sprachen, woher soll da ein Heimatgefühl für mich kommen? Ich bin vorläufig nirgends zu Hause.

Er schluckte die aufquellende Bitterkeit hinunter und ging den Kiesweg entlang, bereit, sich irgendwo eine Arbeit zu suchen. Als er in die Nähe des Stalles kam, hörte er den Gaul stampfen. Gut, dachte er, dir werde ich einen Besuch abstatten. Bei Kriegskameraden wird mir noch am ehesten heimelig und heimatlich.

Er tat leise die angelehnte Stalltür auf, um einzutreten, blieb dann aber mit geweiteten Augen stehen.

Neben dem mächtigen nackten Tier in der Box, mit dem Rücken gegen die Stalltür, stand Berti. Die bleichen kraftlosen Hände griffen immer wieder nach Flanke und Mähne des Rosses, als mache der Kranke verzweifelte Versuche, auf 173 den Gaulsrücken zu kommen. Schließlich legte er den Kopf an den Pferdehals und weinte herzbrechend.

Der Mann trat zurück und zog die Tür zu. Ganz kalt war ihm, trotz der leuchtenden Morgensonne. Wie ein Schuldbewußter schlich er weg.

An zwei schwarzweißen Kühen vorüber, die auf einem Wiesenstreifen weideten und ihn so verwundert anblickten, als erwarteten sie, daß er sich wenigstens vorstelle, kam er an ein Feldstück, auf dem Peter und der Knecht an der Erde arbeiteten.

Sie blickten nicht auf und nahmen keine Notiz von dem Nahenden. Da blieb er neben einem Holunderstrauch stehen und schaute den beiden zu. Peters flinke Bewegungen stachen seltsam ab gegen das gemessene Hantieren des Knechts, und der Beobachter mußte an einen ruhigen tragenden Baß unter der bewegten Oberstimme denken.

In der lautlosen Luft hörte er jetzt das Sprechen der zwei. Manchmal verstand er sogar Worte und Zusammenhänge, ohne daß er besonders zu horchen brauchte.

Zu seiner Überraschung vernahm er Bibelsprüche und dazwischen das in Grünhaus offenbar unvermeidliche Wort: Großvater.

Eben sagte der Knecht: »Der Gerechten Seelen sind in Gottes Hand.« 174

Peter stützte sich wie ausruhend auf den Hauenstiel und rief ungeduldig: »Da ist doch alles! Es kann doch nichts außerhalb sein.«

Auch der Knecht ließ jetzt die Haue ruhen und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirne. Es war fast eine Gebärde der Hilflosigkeit.

»Klugsnaken is da nich,« sagte er zurechtweisend.

»Ach ja, du kommst immer mit Platt, wenn ich recht habe. Gib mal richtig Antwort! Glaubst du, daß etwas außerhalb von Gott sein kann?«

»Na,« kam es eher nachdenklich als rechthaberisch, »der Teufel, denke ich.«

»So,« rief Peter kriegerisch, »hast du das einmal zu Großvater gesagt?«

»Es steht im Buch,« entgegnete er so ruhig, als habe er nun wieder Boden unter den Füßen.

Aber Peter ließ sich nicht beirren. »Wer hat es da hineingeschrieben?«

Er gab keine Antwort und fing wieder zu arbeiten an.

»Ich will dir's sagen,« brach sie los, »Menschen haben es hineingeschrieben, weil sie das vom Teufel damals geglaubt und nichts Besseres gewußt haben.«

Der Knecht lachte ihr ins Gesicht. »Und Peter weiß es nun besser.« 175

»Von Peter ist gar nicht die Rede. Großvater – –«

»Und Großvater,« er verbesserte sich, »der alte Herr, woher – –«

»Gut, daß du fragst,« fiel sie ihm erregt in die Rede, »woher wissen es denn die im Buch?«

Er blickte auf. »Alle Schrift aber von Gott eingegeben,« sagte er eindringlich.

Sie gab ihrem Hauenstiel einen Stoß. »Du hast wohl Großvater nicht gekannt oder schon vergessen?« rief sie empört. »waren ihm seine Gedanken vielleicht nicht auch von Gott eingegeben?«

Wie in Betroffenheit schaute der Knecht die Lodernde an. Dann kam es zurückweisend und doch mit ernstem Zweifel beladen: »Also hätte der Herrgott mal so – mal so seggt – –«

»Schwatz nicht so dumm,« fuhr sie auf, »der Herrgott sagt natürlich immer das gleiche. Aber die Menschen hören doch nie das Ganze, weil das viel zu groß für sie ist. So hört einer da ein Wort und ein anderer dort eines. Darum schreiben und reden sie mal so –mal so. Das ist doch klar! So kommen sie nach und nach dem Ganzen näher, wenn es auch lang dauert natürlich – –«

Hilflos rang der Knecht gegen sie. »Wenn aber nu de Pastor seggt – –« 176

»Sei mir still!« klang es barsch, »ist das fromm, wenn die glauben, Gott habe einmal ein heiliges Buch diktiert und sei dann verstummt?«

Berti humpelte herzu. »Also da bist du,« rief er gereizt, »ich suche dich schon eine halbe Ewigkeit.«

»Soll ich das wissen?« klang es gleichmütig.

»Ich muß mit dir reden.«

»Ich weiß schon: dein Fest! Du und Ursel wollt feiern, was das Zeug hält.«

»Du bist gemein,« kam es weinerlich.

Sie fing zu arbeiten an, als sei sie allein.

Die Stimmung in dem Knaben schien umzuschlagen. Er lachte auf. »Du, ich weiß genau, daß du weißt, daß der Leutnant weiß, daß du ein Mädel bist.«

Sie schaute ihn gelassen an. »Du, das war ein schöner Satz, den mußt du dir aufschreiben! Kamst du übrigens her, um mir das zu sagen?«

Er wurde aufs neue weinerlich. »Mich fragt niemand, was ich mir für morgen wünsche.«

»Du hast dir doch, wenn ich nicht irre, den Leutnant ins grüne Zimmer gewünscht. Ist das vielleicht nichts?«

»Unsinn,« begehrte er auf.

»Ich finde das nicht. Er ist ein ganz netter Kerl.«

»Und du bist schamlos.« 177

»Ähnliches hast du mir schon oft gesagt, weißt du nichts Neues?«

Wieder änderte der Knabe seinen Ton. »Glaubst du, daß Ursel Walter Hutmann eingeladen hat?«

Jetzt fuhr sie plötzlich auf. »Hoffentlich nicht! Sie muß doch wissen, daß er in sie verliebt ist. Sicherlich will er sie heiraten.«

Dem unfreiwilligen Horcher, der sich jetzt an seinen Platz gebannt fühlte, wurde noch unbehaglicher.

Also eifersüchtig! dachte er gereizt, daher die betonte Abneigung gegen den unbekannten Landsmann! Wenn sie weiter nichts ist als ein verliebtes Mädel, was braucht sie dann mir gegenüber so täuschend den guten Kameraden zu spielen! – Was ihm seither ein erwünschter Scherz gewesen, wurde plötzlich heimtückischer Betrug.

Die Gruppe der drei stand jetzt wie in tiefster Niedergeschlagenheit beieinander.

»Du bist wohl verrückt?« sagte Berti rauh.

»Ich nicht. Ursel scheint verrückt zu sein. Alle paar Tage bekommt sie einen Brief.«

»Ach so – und die zählst du ihr nach! Daher deine Freundschaft mit dem Postjochen?«

»Daher, ja,« entgegnete sie hell, »ich muß wissen, wohin Grünhaus steuert.« 178

Der Lauschende spürte Erleichterung. Ein neuer Gesichtspunkt tauchte auf. Vielleicht doch nicht Eifersucht – vielleicht nur reine Sorge um Grünhaus? – Sein Groll kehrte sich unvermerkt von Peter ab und diesem Doktor zu, der offenbar die Absicht hatte, ein Instrument aus dem Grünhauser Trio zu entführen. Man konnte da wirklich nur von Frechheit reden.

Der Knecht schüttelte jetzt die Erde von seiner Haue, trat zu Peter und sagte etwas.

»Was hat er gesagt?« rief der Knabe ungeduldig.

»Du kannst es gerne hören. Er hat gesagt: Führe deine Sache mit deinem Nächsten und offenbare nicht eines andern Heimlichkeit.«

»Da hast du's,« meinte hämisch der Kranke.

Peter schaute, ohne zu antworten, hinter dem sich entfernenden Knecht her, und der Lauscher benützte den Augenblick, um näher zu gehen. Er spürte jene nicht ganz reine und reinliche Befriedigung, wie ein Spieler, der ungewollt einem andern in die Karten geblickt und zufällig gesehen hat, wie die Trümpfe liegen.

Über das sauber gehaltene Gelände hindeutend sagte er: »Hier wachsen wohl die berühmten Spargeln?«

Peter schaute ihn abwesend an, als habe sie nicht verstanden. Dann lachte sie. »Sind Sie jetzt mit Ursel einig?« 179

»Einig – worüber?«

»Natürlich. Es ist schwer, mit Ursel über irgend etwas einig zu werden.«

»Ich versteh dich nicht.«

»Es wurden doch Geburtstagspläne gemacht, bei denen ich überflüssig war.«

»Bei denen du dich für überflüssig hieltest,« stellte er fest.

Sie zuckte die Achseln. »Kreihe wie Uhl.«

»Das stammt von Rudolf,« warf der Knabe ein.

»Ja,« entgegnete sie kurz, »von ihm habe ich vielerlei Gutes.«

»Was ist beschlossen?« wandte sich Berti an den Gast.

»Das dürfte ich nicht verraten, auch wenn ich es wüßte,« meinte der lachend.

Peter fuhr herum. »Berti, wie dumm von dir! Das Schönste sind doch Überraschungen.«

In diesem Augenblick sprengte drüben der Hengst aus dem Stall und trabte auf die Weide zu den Kühen. Laut klang sein helles Wiehern über die Wiesen, und das Tier in seiner Freiheit und Kraft bot einen prächtigen Anblick.

Dem hinüberschauenden Mann klopfte das Reiterherz. Da hörte er neben sich einen stöhnenden Laut. Verzückten Blickes, die zitternden Hände auf den Stockgriff gestützt, 180 starrte der Knabe. Man sah, wie die Erregung den schmächtigen Körper durchpulste.

Auch Peter blickte bewundernd. Aber als sie des Bruders verstörtes Wesen gewahrte, rief sie laut gegen den Stall hinüber: »Rudolf, was soll das heißen? Satan darf nicht heraus.«

Der Knabe zuckte zusammen. Von drüben rief der Knecht: »Ich habe ihn nicht losgelassen. Er lief frei, als ich herüberkam.«

»Warst du's?« wandte sich Peter an den Bruder.

Trotz und Stolz überflammten das blasse Gesicht. Er nickte stumm.

»Du hast dein Geburtstagsgeschenk vorweggenommen,« sagte Peter hart, »morgen wollte ich es dir erlauben.«

Er fuhr auf. »Du hast mir nichts zu verbieten und nichts zu erlauben.«

»Ich hätte dir sogar noch mehr erlaubt,« kam es unerschüttert.

Es wurde ganz still. Dann sagte der Knabe unbeschreiblichen Tons: »Reiten?«

Peter nickte. »Ja, Herr Klein hätte dir auf den Gaul geholfen.«

Der Mann blickte rasch auf und glaubte nicht recht gehört zu haben. 181

Aber eine Handbewegung Peters schnitt ihm jeden Einwand ab.

Reglos mit tränenschweren Augen stand der Knabe.

Peter zog einen weiten Kreis übers Gelände. »Bis hinunter zur Schwarzerle hätte ich dich reiten lassen.«

»Peter!« mahnte unwillkürlich der Gast.

Unerbittlich ging es fort: »Es hätte mein Geburtstagsgeschenk für dich werden sollen.«

Der Knabe schluchzte auf: »Großvater!«

Sie bohrte ihm den Finger in die Schulter. »Sonst sagst du immer, er sei tot. Jetzt soll er dir wohl helfen, daß du reiten darfst?«

»Peter!« sagte noch einmal, und jetzt fast erschreckt, der Mann.

Der Knabe weinte auf und humpelte weg. Peter blieb neben ihm.

»Ursel hat ihr eigenes Programm. Sie läßt natürlich Walter Hutmann kommen und veranstaltet ein Picknick bei der Sandgrube.«

»Ich will aber kein Picknick,« weinte der Knabe auf.

»Sag ihr das! Sag ihr, sie soll Walter Hutmann abschreiben!«

»Nein, er soll kommen, aber kein Picknick!«

Sie stampfte auf. »Also dann wird nicht geritten.« 182

Empört mischte sich jetzt der Gast ein. »Wie kannst du überhaupt von reiten sprechen! Satan ist kein Schaukelpferd. Deine Schwester müßte mich ja für verrückt halten, wenn ich bei solchem Unsinn Beihilfe leistete.«

»Was liegt daran,« meinte Peter, »mich hat sie auch schon für verrückt gehalten.«

»Das ist dein Privatvergnügen. Für mich liegt die Sache anders. Ich mache nicht mit.«

»Schade! Sie wären größer und stärker als Rudolf.«

»Der tut auch nicht mit.«

»Der tut mit, wenn ich es will,« klang es in vollkommener Zuversicht und sie ging davon.

»Armer Kerl,« tröstete der Mann, »es geht nicht. Es wäre ja viel zu gefährlich.«

Der Knabe blickte auf. Seine dunklen Augen flackerten. »Gefährlich? Ich bin doch viel zu krank, als daß mir etwas gefährlich sein könnte. Auch Gefahr ist ja nur für die Gesunden.«

Abgrundtiefe Bitterkeit sprach aus dem Davonhumpelnden. 183

*

Bei Tisch ging es heute einsilbig zu. Spürbare Unstimmigkeiten lagen in der Luft, die es nicht zu einer Harmonie kommen ließen.

Wenn der Gast erwartet hatte, Berti werde seine Klagen vor die ältere Schwester bringen, so sah er sich getäuscht. Stumm, bleich, mit abwesenden Augen saß er zumeist, und auch was Frau Ursel als Hausfrau mit dem Tischgast redete, hatte den Anstrich des Pflichtmäßigen und machte die Atmosphäre nicht wärmer.

Da wandte sich Peter an Monika und fing an vom Kuchenbacken zu reden, das am Nachmittag stattfinden sollte. Ausführlich sprach sie von den vorhandenen Vorräten und von allem, was Rudolf noch von K. herbeischaffen müsse.

»Könnte nicht ich das besorgen?« erbot sich der Gast, »dann kann ich mich gleich für morgen abend bei meinem Freund anmelden.«

Peter lachte auf. »Sie haben wohl schon mehr als genug von Grünhaus? Man kann das verstehen, wenn bei Tisch nur vom Wetter und vom Klima gesprochen wird.«

Frau Ursel schaute auf und meinte: »Oder von Backpulver und Eiersatz.«

»Das gibt wenigstens Kuchen,« verteidigte sich Peter, und zum Gast gewandt: »Haben Sie kein Interesse für Kuchen?« 184

»Sogar sehr,« gab der lachend zu, »besonders, wenn ich sie entstehen sehe.«

»Das dürfen Sie. Sie dürfen sogar helfen und im Backhaus den Ofen anheizen.«

»Welcher Einfall!« tadelte Frau Ursel.

»Nicht wahr? Ich habe oft gute Einfälle,« entgegnete Peter und winkte nach des Toten Platz hin. »Großvater sagte immer, eine größere Ehre könne man niemand antun, als daß man ihm eine rechtschaffene Arbeit zutraue.«

»Ganz meine Meinung,« stimmte der Mann vergnügt bei, »und zudem dürfte die Sache in mein Fach schlagen. Bei uns reden nämlich die Bauern, wenn sie etwas in den heißen Backofen schieben, vom Einschießen.« Es lief ein Lachen um den Tisch, und selbst der Kranke lächelte.

Belebter wurde die Unterhaltung. Der Knecht gab Ratschläge, wieviel Holz verbrannt und wie lang die Glut im Ofen gelassen werden müsse. Monika setzte auseinander, wie man mit einem nassen Lappen die Asche von den Steinen wische. Es ergab sich ein ziemlich buntes Bild von der Technik dieser Backerei, und der Gast enthielt sich nicht, die Meinung zu äußern, es gebe heutzutage wohl praktischere Methoden. Aber da kam er bei Peter schlecht an. Sie erklärte, Großvater habe nie anderes Brot und anderen Kuchen gewollt als das im gemauerten Backofen mit Holz gebackene. Für sie selbst, 185 wenn sie einmal siedle, komme nichts anderes in Frage. Sie habe sich sogar schon ein Modell zeichnen lassen von einem alten berühmten Backofenbauer. Er werde leider bald sterben. denn er leide an delirium tremens.

»Weißt du denn, was das ist?« fragte der Knecht.

»Ich nicht. Aber Walter Hutmann weiß es. Der weiß überhaupt sehr viel,« erklärte sie, zu der Schwester hinüberblickend, »er bekommt immer eine Menge Briefe.«

Frau Ursel schob flammend rot ihren Stuhl zurück und alle standen auf; der Gast mit einem unentschiedenen Gefühl, ob er jetzt lieber der Frau stumm die Hand drücken oder Peter eine Ohrfeige verabreichen möchte. Er entschied sich dann für die, wenigstens im Geist gegebene, Ohrfeige und trat mit Frau Ursel vors Haus.

Sie schlug ihm vor, mit ihr den Schauplatz für das Picknick zu besichtigen oder auch auszuwählen.

Also genau, wie Peter prophezeite, dachte er belustigt und schloß sich ihr an. Es ging hinaus in ein Gehölz von unbestreitbarem Stimmungsreiz. Zwischen hohen Fichten ragte da und dort ein rotleuchtender Föhrenstamm, von dem die Rinde blätterte. Heidekraut, das sich von den Strapazen des Winters noch nicht völlig erholt hatte, bedeckte kleine Blößen und umstand die verwitterten Überreste alter Baumwurzeln, an denen die Waldameisen siedelten. 186

Eine weitläufige und tiefe, aber offenbar schon länger nicht mehr benutzte Sandgrube lag inmitten des Holzes. Die zum Teil steilen und fast überhängenden Wände zeigten die Schichtungen, wie sie die Jahrtausende geschaffen hatten.

In jener Ehrfurcht, die fast ein Erschauern ist, blieben die zwei neben der Erdwunde stehen. Mit gedämpfter Stimme sagte die Frau: »Großvater hat hier vieles abgelesen. Er nannte diese Schichten ein aufgeschlagenes Buch.«

Nach einer Weile fuhr sie fort: »Er sagte mir, hier sei ihm schon manche Predigt gehalten worden.«

»Das glaube ich gerne.«

»Ist es nicht seltsam, daß man hier so still wird?« raunte sie. –

»Seltsam? – Ich denke nicht. Wo sollte man still werden, wenn nicht da, wo der Ewige redet?«

Sie nickte. »Großvater hat mir manchen Stein, manche Blume gezeigt und gesagt: Sieh, diese herrliche Gottesoffenbarung!«

»Und mir,« klang es finster, »hat jemand lobpreisend erzählt, daß er nun so los sei von allem Kreatürlichen, daß ihn die schönste Rose nicht mehr so freuen könne wie ein Buchstabe aus der Bibel.«

Erschreckt schaute sie ihn an. »Das ist ja fürchterlich! Und Sie?« 187

»Ich habe diesem Jemand gesagt, daß ich eine schlimmere Lästerung noch nie gehört habe, und daß es im Trommelfeuer, als mir der Kopf zerspringen und die Nerven versagen wollten, meine einzige Rettung gewesen sei, zu denken: Auch dies ist eine der Offenbarungen Gottes.«

Sie schwiegen. Die Föhrenwipfel rauschten und der Sand rieselte zur Tiefe.

Nach langer Zeit fragte sie still: »Und Ihr Bruder, der mir sein Buch aus dem Feld schickte?«

Seine Stirn entwölkte sich. Hell sagte er: »Mein Theo war ein durch und durch priesterlicher oder, was fast das gleiche ist, kindlicher Mensch, wie sie, zum Glück für diese Erde, mit und ohne schwarzen Rock herumlaufen, um unbewußt für Gott und Göttliches zu zeugen. Daß er viel hohe Worte im Mund geführt oder sich übermäßig mit Theologie herumgeschlagen hätte, wüßte ich nicht. Mir will überhaupt scheinen, Theologie sei mehr für die, die es weniger praktisch als theoretisch mit dem Herrgott zu tun haben.«

Sie lachten beide. Dann sagte die Frau leise: »Großvaters ganze Theologie hieß: Er ist nicht ferne von einem jeglichen unter uns.«

Der Gast schaute in die grünen Wipfel hinauf, die im Frühlingswind erschauerten. Als strömten ihm die Worte aus weiter Ferne zu, sagte er verloren: »Draußen ist mir vieles 188 aufgegangen und so auch dies: Jede Theologie ist zum Erstarren verurteilt, die nicht ihre Aufgabe darin sieht, zu allererst im Geschehen der eigenen Zeit Gottes Hand zu spüren. Was hätte das Erdendasein, was hätte das Furchtbare, das über uns hinströmte, für einen Sinn, wenn nicht Gott sich in ihm offenbarte.«

Sie schwiegen und lauschten auf das Rauschen der Wipfel, das die tiefe Stille noch stiller machte.

Jetzt deutete die Frau auf eine Stelle im Sandhang: »Dort hat Großvater eine Elchschaufel gefunden. Wenn sie von reinem Gold gewesen wäre, hätte er sich nicht so selig daran freuen können. Das längst vermoderte Tier hat ihn immer wieder beschäftigt. Zuletzt hat er eine Zeichnung davon gemacht. Sie hängt im grünen Zimmer neben der Tür. Sie werden sie wohl bemerkt haben?«

Er schämte sich, daß er verneinen mußte. »Und die Schaufel selbst?« fragte er, wie um von sich abzulenken.

»Er hat sie einem lieben Freund geschenkt,« entgegnete errötend die Frau.

Aha, dachte der Mann zufrieden, diesem berühmten Walter Hutmann.

Sie gingen vor das Gehölz hinaus. Die Frau deutete auf einen kleinen, von Heidekraut dicht bestandenen Hügel. 189 »Von dort aus sah Großvater einen Kugelblitz über Grünhaus. Vier Wochen später kam der Krieg.«

Er unterließ es, zu fragen, ob etwa Großvater einen Zusammenhang zwischen den beiden Dingen vermutet habe. Aber sie gab selbst den Bescheid: »Großvater hat oft an diesen merkwürdigen Blitz gedacht. Er sagte zu mir, indem wir die Phänomene sehen und untersuchen, wüßten wir noch sehr wenig darüber. Dem auslösenden Willen etwa könne auch die gründlichste und umfassendste wissenschaftliche Erforschung und Erklärung nicht auf die Spur kommen, wie ja schließlich alles, die ganze Welt und alles Geschehen, nur aus einem letzten Glauben her wirklich zu fassen sei.«

Nach einem Schweigen fuhr sie leise fort: »Hier war es auch, wo ich Großvater das Telegramm brachte, das Vaters Tod meldete.«

Das bittere Leid von einst zitterte in ihren Worten.

Langsam schritten sie nebeneinander aus. »Großvater, Thema mit Variationen,« stand über ihren Gesprächen.

Schließlich kamen sie auch in tastendem Zurückgehen an jenen Punkt, wo es möglich erschien, daß sich ihre beiderseitigen Blutströme in einem gemeinsamen Vorfahren einmal berührt hatten.

»Dann wären Sie also auch mit Großvater verwandt, 190 das müßte Sie freuen,« meinte in einem fast kindlichen Ausbruch die Frau und blickte ihn strahlend an.

Ihm war es eine kleine Enttäuschung, daß sie nur seiner eventuellen Verwandtschaft mit Großvater, nicht auch mit sich selbst, Bedeutung beimaß. In diesem Stück schien sie es genau wie Peter zu halten.

»Ich werde mir Mühe geben, der Ehre würdig zu sein,« versicherte er lachend.

Sie kamen nach Grünhaus zurück, ohne den Platz fürs Festpicknick ausgewählt zu haben. Dafür hatten sie unter Großvaters Obhut viele Fragen gestreift, die auf Menschen eindringen, denen einmal der Boden unter den Füßen gewankt hat.

*

Peter hantierte im Backhaus im weißen Kittel wie ein Konditor. Ein weißes Tuch hatte sie sich als Turban um den Kopf gewunden, schmal schaute ihr erhitztes und mehlbestäubtes Gesicht darunter hervor. Ihr ganzer Aufzug war mehr grotesk und abenteuerlich als kleidsam. Aber Eitelkeit kannte sie offenbar nicht.

Sie war nicht nur ganz und gar bei der Sache, sondern verstand auch, für sich einzuspannen, wen sie erwischen konnte. 191

Daß sie sich selbst dabei am wenigsten schonte, versöhnte mit ihrem Verfahren und hob es sogar auf jene Ebene, wo – ohne den weitverbreiteten Mißbrauch – von Organisation gesprochen werden darf.

Auch der Gast wurde einbezogen und unterstellte sich vergnügt dem Kommando. Bei einer ihrer raschen Anordnungen entfuhr es ihm: »Donnerwetter! Dich hätte ich bei meiner Batterie haben mögen!«

Mit glühendem Gesicht schaute sie her. »Im Ernst?«

»In vollem Ernst. Für dich gilt nicht, was Ludwig Schwämmle für einen Etappenwachtmeister dichtete.«

Der in der Nähe stehende Knecht lachte auf.

»Kennen Sie den schönen Vers?« fragte der Gast, nach ihm umblickend.

»Jawohl,« gestand er grinsend, »ich kann ihn nur nicht sagen, er ist schwäbisch.«

Der andere lachte hell. »Durchaus.«

»Sagen Sie ihn!« bettelte Peter fast stehend.

»Wenn es dich glücklich macht – warum nicht! Aber tu die Ohren gut auf, damit dir nichts verlorengeht!

»No kommt er gloffe', tobt und schreit:
Jetzt schaffet, Kerle! Höchste Zeit!
's pressiert heut zum Verrecke'! –
Wer's g'schafft hot, derf mi wecke'!« 192

Rudolfs ganzes Gesicht strahlte auf wie von schönster Erinnerung. Peter aber hatte offenbar das wenigste verstanden. Sie schaute hilflos, ja fast unglücklich drein, als schäme sie sich ihrer großen Unzulänglichkeit. Ihre Augen gingen scheu von einem der Männer zum andern, dann bat sie: »Noch einmal!«

Aber der Gast schüttelte lachend den Kopf. »Wie hast du heute früh gesagt, als ich vor deiner Schwester vom rotköpfigen Würger redete? Man soll die Perlen – Du weißt doch!« – Der Knecht ging schmunzelnd davon.

Sie wandte sich wieder ihrer Teigschüssel zu, und er mühte sich am Ofen um das unfreudige Feuer, dem er in seiner Unerfahrenheit nicht die richtige Stimmung beizubringen wußte.

Jetzt trat sie mit einem Blasbalg neben ihn und ermunterte die zögernden Funken zur Flamme.

»Du bist tüchtig,« lobte er.

Sie schaute ihn überlegen an. »Einmal nehmen Sie mich ernst, einmal verspotten Sie mich – was gilt jetzt eigentlich?« fragte sie von oben herab.

»Das Ernstnehmen natürlich.«

»So – und warum wollen Sie dann Berti nicht auf den Gaul helfen?«

Er war über die scheinbar weitabliegende Frage so 193 überrascht, daß er nicht sofort antworten konnte. Da fuhr sie fort: »Glauben Sie, ich hätte mir diese Sache nicht reiflich überlegt, ob sie zu machen sei oder nicht? – Ich denke seit Wochen darüber nach, wie Bertis Geburtstag richtig zu feiern wäre. Picknick? bah! Was hat Berti von einem Picknick! Man fährt ihn im Stuhl hinaus, damit er dort Kuchen ißt, den er daheim bequemer essen könnte. In die Sandgrube wagt er sich nicht hinein und im Holz kann er mit den Stöcken nicht gehen. Ursel will ja das Picknick nur wegen – –« Sie sprach nicht aus, sondern fuhr fort: »Es soll doch nicht Ursels Fest sein, sondern Bertis! Früher hat Berti oft in der Nacht geträumt, er reite auf Satan. Dann hörte ich ihn nebenan durch die Wand lachen. Seit Großvater starb, lachte er nie mehr.«

Sie machte die Ofentür zu und der warme Schein auf ihrem Gesicht erlosch. Ruhiger fuhr sie fort: »Ich möchte doch nur, daß er wieder mehr Kraft bekommt.«

»Aber, Peter! Reiten gibt doch nicht Kraft! Es erfordert Kraft.«

Sie warf den Blasbalg weg. »Wenn aber Berti ein einziges mal reiten dürfte, bekäme er wieder Glauben an sich selbst, und Großvater sagt, das sei der Untergrund für alle rechte Freude und für allen rechten Glauben, aus dem allem Kraft kommen kann.« 194

»Du könntest recht haben, aber – –«

»Ein rechter Glaube kennt kein ›Aber‹, sagt Großvater.«

Als er nicht antwortete, fuhr sie erregt fort: »Es ist so einfach immer zu sagen: Habe nur Glauben! Es muß erst etwas in uns sein, das glauben kann, wie man erst Augen haben muß, um sehen zu können.«

»Ganz richtig,« gab er zu, aber sie unterbrach ihn schon wieder: »Berti ist einfach zu elend zum Glauben, sonst würde er doch zu allererst glauben, daß Großvater nicht tot ist. Das müßte er doch spüren, wenn in ihm nicht alles zugedeckt wäre von seiner Krankheit!«

»Ja,« sagte der Mann, »das, was du meinst, kann man nur glauben, wenn man in sich selbst etwas spürt, von dem man genau weiß, daß es nicht sterben kann.«

Sie nickte. »Gerade das will ich in Berti herausgraben.«

Es war ein fast feindseliges Schweigen, das zwischen ihnen aufkam. Dann gab der Mann zu bedenken: »Peter, ich, als alter Reiter und Soldat, übersehe die Sache besser als du. Es wäre ja Gott versucht – –«

Sie fiel ein: »Gott versucht? – Man kann genau so gut sagen: es wäre an Gott geglaubt. Die ihn nie versuchen, glauben auch nicht an ihn. Und was die Verantwortung anbelangt, die würde ich übernehmen – wenigstens vor Großvater,« setzte sie leiser hinzu. 195

Man sah, daß er schwankte. Aber er gab noch nicht nach. »Meine Verantwortung kannst du mir nicht abnehmen. Die muß jeder selbst tragen.«

Sie fuhr auf. »So – und im Krieg? – wie war's da? Jeder hat gemordet und keiner trug die Verantwortung.«

Ihm stieg jäh das Blut in die Stirne. »Du, davon rede nicht! Der Krieg hat sein eigenes Maß und ist kein Ding zum Schnabelwetzen! Das wissen nur die, die sich bis aufs letzte hergegeben haben.«

Sie blickte ihn scheu an, als sehe sie ihn zum erstenmal. Dann sagte sie veränderten Tons: »Ich glaube, so hat Großvater auch gedacht.«

Sie wandte sich ab und fing wieder an dem großen Tisch zu arbeiten an. Monika kam mit Tüten und Töpfen, Rudolf schleppte noch Holz herzu, und auch der Hund gönnte den Festvorbereitungen seine Teilnahme.

Peter wies ihm ihre mehlbestaubten Hände. »Ich kann dich nicht streicheln, Harras, aber geh zu Rudolf, der tut es für uns beide. Du kannst ihm auch sagen, daß Berti morgen reiten wird.«

Der Knecht schien weniger überrascht, als der Gast erwartete. Er war wohl von Peter schon vorbereitet. Immerhin schüttelte er den Kopf und sagte halblaut: »Dat is nich.«

»Dat is,« entgegnete Peter kurz und schob ihm auf dem 196 Tisch eine Handvoll Haselnüsse zu. »Hier, Alter! Sind doch die Motten nicht in Großvaters Sattel?«

Er schaute auf. »Is all in en hänfenen Sack.«

»So tu alles heraus aus dem hänfenen Sack und merke dir: morgen bekommt Satan auf alle Fälle den Sattel aufgelegt, denn er hat ja mit Berti Geburtstag.«

»Aber – –«

»Großvater hat es so gehalten: an seinem Geburtstag wurde Satan gesattelt.«

»Aber hei reit nich me',« kam es still und der Knecht ging davon und ließ die Haselnüsse liegen.

Vielleicht empfand Peter das als Niederlage. Gereizt wandte sie sich an den Gast. »Legen Sie drei Scheite nach.«

Er lachte. »Melde gehorsamst: schon nachgelegt.«

Sie zuckte die Achseln. »Es freut Sie natürlich, daß Rudolf nicht mittun will.«

»Ich meine, du solltest dein Vorhaben fallen lassen.«

»Lassen Sie jedes Vorhaben fallen, das ein Knecht nicht billigt?«

»Ich besinne mich, wenn mir ein zuverlässiger Mensch einen Ratschlag gibt.«

»Aber nicht, wenn Sie sich eine Sache schon reiflich selbst überlegt haben.«

Monika, die seither scheinbar unbeteiligt einen Teig gerührt 197 hatte, trat herzu und nahm die Haselnüsse vom Tisch, um sie wieder in die Tüte zu legen.

»Mein Neffe, der Lehrer, sollte näher da sein,« sagte sie halblaut. Peter schien zu verstehen und nickte.

Das genügte aber der Alten nicht. Sie wandte sich an den Gast: »Er sieht sie und hat auch schon manchmal mit ihnen geredet. Seine Mutter hat das auch gehabt. Sie war Westfalin. Sie hat ihm das angehängt. Vorigen Herbst, als er in Grünhaus war – –«

»Sei doch still, wir wollen das nicht!« unterbrach Peter verweisend und barsch.

»Er will es auch nicht. Aber es kommt doch. Die Luft in Grünhaus – –«

»Jetzt schweige doch! Großvater hat immer gesagt, solche Dinge dürfe man nicht suchen.«

Zäh machte die Magd weiter: »Nicht suchen! Aber doch auch nicht leugnen, wenn nüchterne Leute sie erleben. Mein Neffe könnte vielleicht den alten Herrn fragen, ob Berti reiten – –«

»Da braucht's deinen Neffen nicht,« unterbrach Peter aufs neue schroff.

»Nun, dann ist's ja gut,« sagte ungekränkt und mit ruhigem Gesicht die Alte und ging zu ihrer Schüssel zurück. 198

*


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