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VIII.

Eva erholte sich sichtlich unter der Pflege, die ihr zu teil wurde, der Ruhe und Heiterkeit, die sie umgab. Ihre Wangen rundeten sich, ihre Bewegungen wurden elastischer. Die Augen blickten nicht mehr fieberhaft erregt, sondern ruhig und nachdenklich umher. Sie lebte förmlich auf. Von ihrer Angelegenheit war nie mehr die Rede gewesen. Heinz hatte ihr nur, am Tage nachdem sie der Freundin ihr Herz ausgeschüttet, beide Hände auf die Schultern gelegt, ihr fest ins Gesicht gesehen und gesagt:

»Donnerwetter, Mädel, alle Achtung vor dir! Nun hab keine Angst, ich helf dir immer. Kopf hoch und feste durch, mach dir's nicht unnütz schwer.«

Gerührt hatte sie ihm die Hand gereicht und ihm mit wenigen Worten gedankt. Sie konnte kaum reden, soviel Güte hatte sie nie erwartet.

Sie griff im Hause überall zu; das Mädchen war zwar wieder zurück aus dem Krankenhaus, aber es gab doch vielerlei zu tun, da die junge Frau auch öfters im Bureau half, Korrekturen für ihren Mann las und kleine Uebersetzungen für sein Blatt lieferte.

»Ich halte es nicht aus, bloss so in der Wirtschaft zu leben,« vertraute sie Eva an, »ich muss auch etwas vom geistigen Leben der Jetztzeit hören, selbst mit beitragen, dass es vorwärts geht und nicht zurück, wie so viele gern wollen. Und dann, meines Mannes Interessen muss ich kennen, wie soll er sonst eine Gefährtin an mir haben.«

Eva war all dies neu, aber sie fand es so selbstverständlich, es entsprach so ihrem Gefühl, dass sie sich kaum darüber wunderte. Sie hatte fast ganz die Pflege des Kleinen übernommen, Bubi bekam Zähne und war oft recht unleidlich. Eigentlich machte sie sich gar nichts aus kleinen Kindern, aber sie war froh, auf diese Weise ihre Dankbarkeit zeigen zu können. Sie schlief auch im Kinderzimmer, denn die Wohnung war nur klein und es war wenig Raum vorhanden.

Die Einnahmen des Ehepaares hätten zwar reichlich für alle Bedürfnisse genügt, aber da beide gern gaben, wandten sich alle mehr oder weniger Bekannten, wenn sie in Verlegenheit waren, an die immer offene Hand, so dass oft bedenkliche Ebbe in der Kasse herrschte. Ein grosser Bekanntenkreis verkehrte im Hause, meist Literaten und Künstler, fröhliches, sorgloses Volk, die lebhaft über alles mögliche debattierten, die ganze Welt auf den Kopf stellten. Eva wurde es erst angst und bange bei ihrem lauten Wesen, ihren hohen klingenden Worten, sie erschienen ihr alle als Helden und riesengross, weit über ihr stehend. Bald aber erkannte sie ihre wahre Art, sah das ernste Ringen und Streben, und dass es oft nur die eigene Mutlosigkeit war, die sie betäuben wollten, dass viele für ihre Ideen hungerten, dass sie nur scharf, hart und ungerecht waren gegen die Satten, Vollen, denen aber, die hungerten gaben, körperlich und geistig, gern, ohne Dank zu begehren. Sie verstand sie nach und nach alle und liebte jeden einzelnen auf seine Art. Ihre Liebesfähigkeit, ihr Mitleid und ihr Verstehen schien ihr oft bis ins Unendliche zu wachsen.

Auch Bücher las sie viel. Die ganze neue Literatur kannte sie nicht. Mit Ernst und Eifer studierte sie diese förmlich, eignete sich das an, verwarf jenes, und beteiligte sich mehr und mehr am Gespräch. Sie wurde sich dabei erst ganz klar in ihrem Urteil, verstand manches, was ihr erst undeutlich gewesen und lernte so das Leben mehr und mehr kennen – das Leben, das sie doch mit ihren zwanzig Jahren kaum geahnt hatte.

*

Ein heller sonniger Tag Ende Januar. Eva stand vor dem Spiegel und setzte den Hut auf. Sie wollte eben in die Stadt gehen, um eine Besorgung zu machen. Die Eltern hatten ihr gern noch Urlaub gegeben, da ihr die Berliner Luft zu bekommen schien. Sie waren ganz glücklich, wie wohl Eva auf dem Bild aussah, das sie ihnen im letzten Brief geschickt. Es war ein kleines Aquarell, das ein junger Maler angefertigt hatte.

Niemand war zu Hause. Eva zog die Gardinen zurück, dass die Sonne voll auf ihre Gestalt fiel, die der hohe Trumeau vom Kopf bis zu den Füssen wiedergab. Sie betrachtete sich genau, mit prüfenden Blicken. Sie hatte es lange gefürchtet, angstvoll kommen sehen. Ihre Gestalt war nicht mehr so schlank wie ehedem. Fast unmerklich noch war die Veränderung, nur dem wissenden Auge sichtbar. Aber wie lange noch?

Sie hatte es sich überlegt, sie musste fort von den Freunden. Sie war nicht mehr so weltfremd, so unerfahren wie vor einigen Wochen. Trotz der Duldung, ja Verherrlichung, die in ihrem jetzigen Kreis teilweise herrschte, ähnlichen Zuständen und Erleben wie dem ihren gegenüber, wollte sie nicht die Probe machen, wer zu ihr hielte. Sie fühlte, im Hause, das ihr Gastfreundschaft gewährte, durfte sie das nicht. Nur Rat und Hilfe konnte sie noch annehmen, bleiben durfte sie hier nicht, auf keinen Fall. –

Was sollte nun werden?

In tiefes Sinnen verloren hatte sie bereits einige Strassen durchschritten und bog eben in die Friedrichstrasse ein. Ein dichter Menschenknäuel auf dem Trottoir vor einem der Geschäfte sperrte ihr den Weg. Evas Interesse war erwacht. Eben trat ein Herr vor ihr zurück, es entstand eine Lücke, sie schlüpfte eilig hinein und stand nun dicht vor dem Schaufenster.

Der Laden war sichtlich neu. Blumen standen an den bis zur Erde reichenden Spiegelscheiben, durch die man bequem den ganzen Raum übersah. Einige Damen, – wohl sechs, alle jung und hübsch, sassen an kleinen Tischchen; ihre Finger flogen in eiliger Arbeit hin und her, aufmerksam sahen sie bald nach links, wo lose beschriebene Blätter oder Hefte lagen, bald nach rechts, ein schneller Griff nach den kleinen blanken Maschinen, sie schoben daran hin und her, nahmen beschriebene Blätter heraus, legten andere hinein. An den Wänden hingen bunte Plakate und fett gedruckte Kartons: »Beste Schreibmaschinen der Welt« – »Nur erstklassige Fabrikate« – »Anfertigung jeder Art Abschriften« – »Stenogrammeaufnahmen« – »Unterricht 10 Mk.« – »Jedes Kind schreibt nach einer Stunde.« –

Eva sah wie fasziniert zu. Das also waren Schreibmaschinen! Sie hatte wohl davon gehört, auch schon solche Schrift gesehen, aber so hatte sie es sich nicht gedacht. Wie nett das aussah! Maschine klang immer so schwerfällig, sie hatte unwillkürlich die Idee von etwas russigem, hässlichem damit verbunden. Aber so, das war ja reizend.

»Nu, Fräulein, machen Se uns ooch mal Platz, oder hab'n Sie'n gepachtet! Sie gehören wohl zum Bau? Hübsch genug sind Se dazu,« sagte eine laute freche Stimme neben ihr. Alles lachte und drehte sich nach dem jungen Mädchen um. Wie mit Blut übergossen stand sie da. Sie hatte ganz vergessen, wo sie sich befand, so versunken ins Zuschauen war sie gewesen. Eilig machte sie sich frei und ging weiter.

»Gehören Sie auch zum Bau?«

Wahrscheinlich, ob sie auch Maschine schrieb? Sie lachte hell auf. Nun was nicht ist, konnte ja werden. Sie überlegte: Der Rat war gar nicht dumm gewesen. Das musste doch zu lernen sein. Was so viele konnten, einfache Mädchen, das musste sie doch auch begreifen. Und wenn sie von Wolfs fortgehen wollte, musste sie arbeiten. Lange genug hatte sie auf der Bärenhaut gelegen und sich gepflegt. Sie musste sehen, später Geld zu verdienen. Und jetzt die vielen einsamen Stunden, die kommen würden, wie sollte sie die aushalten ohne Tätigkeit? Sie konnte es gar nicht erwarten, ihren Plan den Freunden mitzuteilen, alles zu erzählen und zu besprechen.

Es entstand eine ziemlich heftige Debatte, als Eva nach dem Mittagessen den beiden erzählte, sie wolle allein ziehen und arbeiten. Schliesslich gab ihr aber Heinz recht und auch Mieze konnte sich ihren Gründen nicht ganz verschliessen. Sie fühlte, sie würde ebenso handeln an Evas Stelle.

»Es trifft sich gut, ich habe eben heute ein Extrahonorar bekommen, nur ein paar hundert Mark, aber Evchen, davon kannst du schon einige Monate hausen,« sagte Heinz aufstehend. »Leicht ist das Geldverdienen nicht, besonders im Anfang, aber du bist ja ein tüchtiger Kerl und wirst dich schon durchbeissen. Die Idee mit der Schreibmaschine ist eigentlich famos! Dass ich da nicht selber drauf gekommen bin! Ich habe so oft schon meinen Aerger mit den sogenannten Damen gehabt, die nicht mal orthographisch schreiben können, nicht mal beim Abschreiben. Na, damit bist du deinen künftigen Kolleginnen allen ja gleich über. Nicht?«

Er ging im Zimmer hin und her, halblaut überlegend: »Weisst du, 's scheint dir ja sehr eilig zu sein. Am besten kaufen wir da gleich 'ne Maschine, du lässt dir nur die Handhabung zeigen und kannst dich in Ruhe einarbeiten. Mächtige Uebung gehört sicher dazu. Ich werde gleich heute mich mal erkundigen, – auch nach dem Preis. Na, sie wird wohl zu erschwingen sein!«

Eva unterbrach ihn. »Ich habe noch Geld, eine ganze Menge, – das wird wohl dazu langen.«

Er lächelte: »Na, Kleine, wieviel denn? Vom Taschengeld?«

.

»Dreitausend Mark! Langt das zur Maschine? Sonst ist der Ring hier noch. Ich glaube, er ist auch etwa soviel wert.« Zaghaft drehte sie den Brillantring vom Finger, das einzige, was sie von dem Brautschmuck Illners durchaus hatte behalten müssen. Sie trug ihn stets und hatte dafür den Verlobungsring, einen breiten Ehereifen, abgelegt.

Das Ehepaar lachte hell auf. Eva sah sie erstaunt an.

»Es ist wohl recht wenig?«

»Nein, Schatz, du bist köstlich! Alles was recht ist, aber hast du denn gar keine Ahnung von Geld und Geldeswert? Das ist ja ein Vermögen! Davon leben manche Familien mit sechs Kindern das ganze Jahr!« –

Mieze konnte sich gar nicht fassen. Sie lachte, dass ihr Tränen über die Backen rollten.

»Aber im Ernst, das beruhigt mich sehr in deinem Interesse. Wir hätten dir ja alles gern gegeben, doch wie ich dich kenne, hätte es dich am Ende gedrückt und du hättest dich dann überarbeitet, um von uns unabhängig zu sein. Nun geht die ganze Sache mit mehr Ruhe zu. Den Ring steck nur vorläufig wieder an, der muss erst später daran glauben, – wenn überhaupt.« –

Am Nachmittag ging Mieze aus, nachdem sie erst noch einige Zeit mit ihrem Manne konferiert hatte. Sie gab Eva einen Stoss Haushaltungsbücher und empfahl ihr, sich mal die Welt von der Seite anzusehen. Im ersten Jahre ihrer Ehe hatte sie sehr einfach wirtschaften und mit ganz wenig auskommen müssen und sie hatte damals jeden Pfennig gebucht, was sie jetzt als unnütz und zeitraubend aufgegeben hatte. »Aber ich habe viel gelernt auf die Weise,« erklärte sie Eva, »und dir wird das auch nichts schaden jetzt. Vertiefe dich nur recht rein, du musst nun lernen zu rechnen und mit Geld umzugehen. Hoffentlich kannst du's besser als ich,« fügte sie leise hinzu.

Und nun sass Eva an dem grossen Diplomatenschreibtisch, den Kopf tief über die Bücher geneigt, studierte Rechnungen und machte sich Notizen, schrieb Zahlen, addierte und multiplizierte und arbeitete sich schliesslich einen ganzen Haushaltungsplan aus, für einen Monat, ein Jahr. Zu vielem fehlten ihr die Unterlagen. Sie hatte keine Ahnung, was einzelne Zimmer kosteten, ob sie Möbel brauchte oder wie das wäre. Sie durchsuchte einen Stoss Zeitungen, sah die Inserate nach. Da waren ja Zimmer in allen Preisen, möbliert oder leer, hochelegant oder einfach, teuer und billig. Man brauchte nur zu wählen. Sie nahm den mittleren Preis und setzte 40 Mk. für die Wohnung monatlich fest. Nach den Anpreisungen mussten das wundervoll eingerichtete Zimmer sein. Es war doch besser, sich nichts direkt anzuschaffen, man konnte doch nicht wissen, wie alles kam.

Sie sah trübe vor sich hin. Wenn nur das nicht gewesen wäre, – das Kind. Sie freute sich so gar nicht, konnte so gar nichts für das Wesen fühlen, für das Werden, das sich leise in ihr regte. Sie faltete die Hände. Nein, sie wollte nicht ungerecht sein, wollte ihm danken und es lieb haben. Hatte es ihr doch geholfen, sich loszulösen aus der engen Heimat, hatte sie hinausgetrieben, sie ihren eigenen Weg suchen und finden lassen. Und es sollte aufwachsen zu einem glücklichen Leben. Mit offenen Augen sollte es sehen lernen und das Dasein verstehen. Alles, was sie durchgemacht, sollte ihm erspart bleiben. Das Gefühl der Verantwortlichkeit regte sich in ihr. Ja, sie wollte und musste arbeiten, am liebsten gleich, heute schon. Es liess ihr keine Ruhe mehr. Denn Geld war nötig zu allem, es wurde ihr ganz Angst davor, wenn sie überlegte, wieviel zum Leben gehörte. Besonders dann, wenn sie zu zweien war, wenn sie nicht für sich allein zu sorgen hatte, und das kleine Wesen auch ihre Zeit noch in Anspruch nahm.

Aber je mehr sie die Schwierigkeiten einsah, desto grössere Kraft fühlte sie in sich; alle Energie, die die vielen Jahre latent in ihr geschlummert hatte, regte sich und verlangte nach Betätigung. Und eine grosse Freudigkeit kam über sie, es ging ihr nicht schnell genug, sie konnte es kaum erwarten, vorwärts zu kommen, dem Ziele näher, der Arbeit.

Es war schon spät, sie hatte Bubi gewaschen, ins Bett gebracht und ihm die Flasche gegeben, als endlich Mieze und Heinz zusammen zurückkehrten. Sie hatten beide tüchtig was geschafft, wie sie sagten, und waren sehr mit sich zufrieden. Und nun erzählten sie, was sie den Nachmittag alles erreicht. Erst hatte Mieze stundenlang nach einer Wohnung gesucht, aber absolut nichts gefunden, bis sie endlich eine alte Frau getroffen, eine Briefträgerswitwe, die früher, als ihr Mann gestorben, vielfach von ihr unterstützt worden, die auch bei ihr gearbeitet, gescheuert und gewaschen hatte. Die hatte ihr geklagt, dass sie solche Not habe, ihre beiden Zimmer zu vermieten. Sie habe ihre junge, sehr hübsche Enkelin jetzt bei sich, da gehe es immer nicht mit den Logisherren; dem letzten habe sie des jungen Mädchens wegen auch kündigen müssen, und nun wisse sie gar nicht, was machen. – Es waren zwei Zimmer, ganz in der Nähe, 40 Mk. monatlich. Mieze hatte der Frau alles nähere erzählt und verabredet, am nächsten Morgen mit Eva zu ihr zu kommen.

»Ich wäre sehr beruhigt, wenn du dort wohnen könntest, denn dort weiss ich dich bald so gut aufgehoben, wie bei mir. Frau Renner ist eine erfahrene, anständige Frau, sie würde dir nie lästig fallen. Dazu liegt die Wohnung im Mezzanin, was ja auch für dein Geschäft günstig ist,« schloss Mieze ihren Bericht.

»Na, und eine Schreibmaschine prima Sorte, Remington, kannst du für 480 Mark haben mit allem, was drum und dran ist. Sogar Unterricht hier in der Wohnung fünf Stunden lang. Ich habe mit einigen bekannten Redakteuren und Schriftstellern so unter der Hand über dein Projekt gesprochen, sie warten alle förmlich auf dich! Was sagst du nun, Evchen? Die Kiste geht, wir müssen gleich mal drauf anstossen.«

Heinz holte eilig Flaschen und Gläser und noch lange sassen die drei zusammen, berieten, was nun alles zu tun sei und machten in vergnügtester Stimmung Zukunftspläne.

Schon nach einigen Tagen bezog Eva die von Mieze vorgeschlagene Wohnung in der nahen Marienstrasse. Man hatte sie gemeinsam besichtigt und war in jeder Weise damit zufrieden. Die zwei Zimmer nach vorn heraus gelegen, ein grosses und ein kleines, waren hell und freundlich, und die Frau war gern bereit, Evas Bedienung und Pflege zu übernehmen.

Wider Erwarten hatten die Eltern sofort eingewilligt, dass Eva noch in Berlin bleiben und etwas lernen dürfe, wie sie gebeten hatte. Von dem Wohnungswechsel hatte sie natürlich nichts berichtet, ihre Briefe kamen weiter unter Dr. Wolfs Adresse, bei denen Eva weiterhin die Mahlzeiten einnehmen sollte. Später brachte sie ihr Mieze bei den fast täglichen Besuchen, die sie der Freundin machte. Eva war nicht mehr zu bewegen, zu ihnen zu kommen, trotz allen Zuredens. Sie hatte sich jetzt ganz in Kost gegeben bei der Witwe und war für wenig Geld sehr gut versorgt. Einen Grund dafür gab sie nicht an.

Eines Tages hatte ihr das Mädchen geöffnet und ihre Gestalt höhnisch lächelnd gemustert. Während sie noch auf dem Flur ablegte, hörte sie diese dann in der Küche vor sich hinreden, laut, jedenfalls in der Absicht gehört zu werden: »Also so eine is das Fräulein, mit dem sich die Gnädge so hat! Na, ich danke. Die soll sich mal ihre Kledasche alleine ausziehen. So'n ...« Mehr hörte Eva nicht, sie nahm Hut und Mantel, und stürzte eilig wieder fort, die Treppe hinunter auf die Strasse, weiter und weiter. Immer hörte sie es in den Ohren gellen: So eine! So eine!

Spät am Abend erst kehrte sie matt und erschöpft nach ihrer Wohnung zurück. Frau Renner brachte sie ganz erschrocken zu Bett, gab ihr heissen Tee zu trinken und fragte, was ihr denn gewesen sei. Mieze schickte ihren Hausarzt, und einige Tage musste sie fest liegen. Endlich war ihr wieder besser. Nun überlegte sie: Nein, das ging nicht, sie durfte sich nicht aufregen über so etwas, sie brauchte ihre Gesundheit nötiger. Sie nahm sich vor, in Zukunft taub zu sein gegen alles, was sie etwa anhören musste. Nur in das Haus der Freunde setzte sie den Fuss nicht wieder, das hätte ihr zuviel Ueberwindung gekostet. Auch fürchtete sie Bekannte dort zu treffen, das war ihr peinlich, denn immer weniger konnte sie ihren Zustand verbergen.

Sie lebte jetzt fast nur der Arbeit. In dem grösseren der beiden Zimmer stand an dem einen Fenster die Schreibmaschine, auf der sie unermüdlich übte. Nach einigen Wochen schrieb sie schon vollkommen fehlerlos und sie merkte auch, die Geschwindigkeit nahm von Tag zu Tag zu. Schon hatte sie eine kleinere Abschrift, die ihr Heinz gebracht hatte, angefertigt. Wie ein Kind freute sie sich an dem ersten selbstverdienten Geld, das sie dafür erhielt. Drei Mark waren es. War das ein wonniges Gefühl! Sie hätte trotz allem und allem mit niemand in der Welt tauschen mögen. Es störte sie nur, und machte sie ungeduldig, dass sie sich oft schonen musste. Auch die täglichen Spaziergänge nahmen ihr zuviel Zeit in Anspruch. Aber Mieze hielt streng darauf, dass sie an die Luft kam, ging meist selbst mit ihr aus und wenn sie verhindert war, vertrat Frau Renner ihre Stelle.

Die langen Abende beschäftigte sich Eva mit der Stenographie. Sie hatte sich ein Buch für den Selbstunterricht gekauft, ganz heimlich, sie wollte sich nicht blamieren und fürchtete, es vielleicht nicht bewältigen zu können ohne Anleitung. Aber nach einigen Wochen ernsten Arbeitens wurden ihr die verschiedenen Zeichen und Striche doch vertraut, sie fing an, grössere Sachen zu lesen und abzuschreiben. Nur die Schnelligkeit fehlte ihr noch, die direkte Uebung.

Die ersten Wochen hatte sie sich recht vereinsamt und gedrückt gefühlt. Nach dem Aufenthalt bei Wolfs kam ihr die jetzige Umgebung doppelt geschmacklos und hässlich vor. Sie wollte aber die gute Frau, die so stolz auf ihre feinen Zimmer war, nicht kränken und wagte deshalb nicht, die Möbel etwas anders zu rücken, oder einige weisse Deckchen und Oeldruckbilder zu entfernen, wie sie sehr gern getan hätte. Es war die »gute Stube« des Ehepaars gewesen, in der sie wohnte. Noch jetzt waren der Regulator, die Kaiserbilder und das Vertikow der grösste Stolz ihrer Wirtin. Und alle die Decken und Deckchen hatte deren einzige Tochter gehäkelt, die nun auch gestorben war und ihr die kleine Enkelin hinterlassen hatte. Sie erzählte Eva gern von der Tochter, an der sie noch mit grosser Liebe hing: »Sie war so lustig immer und bildsauber. Freilich arbeiten mochte sie nicht, sie liess sich von den feinen Herren spazieren führen, ich konnte reden, was ich wollte. Wie sie dann mit dem Kinde dasass, da war die Mutter freilich gut. Aber was will man machen, so'n armes, junges Ding, und es war meine einzige. Mein Mann freilich hat ihr nich wieder freundlich angesehen. Aber wie sie dann tot war, da hat er die Bertha doch nich entgelten lassen, was mit der Mutter vorgekommen war. Nur wissen Sie, Fräulein, ich hab immer Angst, dass sie's mal ebenso treibt. Ich halt sie so streng, arbeiten muss sie feste, und zu hören kriegt sie's auch oft. Ob's freilich hilft?«

»Aber das Kind kann doch nichts dafür!« rief Eva empört.

»Ja, wissen Sie,« – meinte die alte Frau, – »was sie so jetzt von der Vererbung und dem Zeugs schreiben und reden, das versteh ich nich recht, aber der Apfel fällt nich weit vom Stamme, das is 'n altes Wort, und die stimmen immer.«

Ohne dass sie es wollte, hatte sie Eva ernstlich beunruhigt. Die brach ganz gegen ihre Gewohnheit das Gespräch kurz ab. Sie wollte allein sein.

Kopfschüttelnd ging die Frau. Die feinen Leute waren doch zu komisch, was denen manchmal nicht passte! Sie hatte gedacht, dem Fräulein die Zeit zu vertreiben, das arme Wurm arbeitete ja gar zuviel und hatte wenig Unterhaltung. Sie hatte Eva sehr ins Herz geschlossen. Ueber deren Zustand machte sie sich wenig Gedanken. Die war, wie sie gehört hatte, verlobt gewesen, und der Bräutigam am Hochzeitstage plötzlich gestorben. Na, das war doch nach ihren Moralbegriffen ebensogut fast wie bereits verheiratet. Ein paar Tage oder Wochen vor der Hochzeit, mein Gott, das kam ja oft vor. War eben nur ein grosses Unglück gewesen, dass die Sache so ausging. Das konnte doch niemand ahnen! Sie begriff auch die Rabenmutter nicht, die die arme junge Frau soweit fortschickte. Im Anfang hatte sie Eva auch immer »gnädige Frau« angesprochen, aber zu ihrer Verwunderung hatte sie sich das verbeten. Nun sagte sie kurzweg Fräulein. –

Eva dachte lange nach. Nein, es war doch ein Riesenunterschied zwischen ihr und jenen, wenn sie gleich nach der Meinung der Leute »Auch so eine« war. Und ihr Kind sollte nicht darunter leiden, – frei und stolz sollte es den Kopf erheben vor aller Welt. Dunkle Erinnerungen kamen ihr an Stellen aus Büchern, Predigten und Gesprächen, wo von Kindern der Sünde die Rede war, von dem Heimsuchen bis ins dritte und vierte Glied. – Ihr schauderte. Aber das war ja undenkbar! Und all dies sollte auf der christlichen Liebe fussen? Sie begriff nichts von alledem.

Als nach einigen Tagen der alte Sanitätsrat wieder einmal kam, um nach ihr zu sehen, erzählte sie ihm alles, und frug ihn geradezu nach seiner Meinung.

Der alte Herr schüttelte bedächtig den Kopf. Er hatte von Dr. Wolf alles erzählt bekommen und nahm herzlichen Anteil an der ihm Anvertrauten. In seinem Beruf hatte er viel gesehen und gehört, hatte manchen Blick in das geheimste Leben der Grossstadt getan. Er kannte die eleganten Villen der Reichen im Tiergartenviertel und die elenden Proletarierwohnungen, wo nur das Laster hauste, – aber nichts war ihm so zu Herzen gegangen, wie jetzt das Schicksal des kleinen mutigen Mädchens, das alles aus seiner tiefsten innersten Ueberzeugung heraus tat, das einfach seinem Gefühl nach handelte, unbekümmert um das, was die Menschen sagen würden. Eva flösste ihm einen mächtigen Respekt ein. Er gestand eigentlich niemand eigene Moral zu, – aber hier, dieser Fall bekehrte ihn halb und halb zu den Anschauungen der Neuen, der Jugend, die die Herrenmoral predigte, die sich über Gut und Böse stellte, und alle Begriffe ummodeln wollte, die die Jahrhunderte geschaffen hatten.

»Wissen Sie, Kindchen, da sorgen Sie sich mal nicht drum,« sagte er endlich. »Da trifft von allem auf Sie nichts zu. Ihr Junge oder Mädel – na, das wird sich ja finden, – wird mal ein tüchtiger, ganzer Kerl sein und seinen Mann im Leben ebenso stehen wie seine Mutter. Da sorgen Sie sich nur nicht!«

Und ernster werdend fuhr er fort: »Freilich, das mit dem Heimsuchen an den Kindern bis ins dritte und vierte Glied ist eine gar ernste Sache, wenn auch in viel tieferem Sinne. All die versumpften und vertierten Genussmenschen, die hirn- und rückenmarklosen Lebemänner mit ihren vielen ekelhaften Krankheiten, die armen schwindsüchtigen, halb verhungerten Arbeiterinnen, die Mütter der bleichsüchtigen, sogenannten unschuldigen höheren Töchter, die sorgen schon dafür, dass der Fluch nicht aufhört, der Fluch des krankhaften, elend siechen Körpers, in dem nie und nimmer ein gesunder Verstand sitzen kann. Ob solche armen Würmer ihr Dasein einem warmen Abendbrot, einem Glas Sekt verdanken oder einer Ehe, die mit vielem Klimbim durch Kirche und Staat sanktioniert wurde, – das gilt ganz gleich, das ändert nichts ... Hängen müsste man die Bande lieber, ehe sie soviel Unheil anrichten kann. Und dann kommen sie zu uns Aerzten, wir sollen ihren Nachkommen helfen, sie aufpäppeln. Eine Spritze Morphium wäre das beste. Das wäre Menschlichkeit, und auf den Knieen sollten sie einen darum bitten. Wie viele habe ich gewarnt, ich habe gesagt: leben Sie meinetwegen, heiraten Sie auch, wenn's nicht anders geht, aber lassen Sie sich's nie einfallen, Kinder in die Welt zu setzen. Ja, prost Mahlzeit. Hingegangen sind sie, haben einen andern Arzt genommen, der ihnen sagte, was sie hören wollten. Und Kirche und Staat befördern solche Kuppelei. Sie bauen sich förmlich darauf, brüsten sich mit ihren vielen Sichenhäusern, den Irrenanstalten, den Krüppelheimen und lassen lieber die Gesunden auch noch an den Kranken zugrunde gehen! – Und die Pastoren reden so erbaulich von Gottes schwerer Hand, seinem Strafgericht oder seiner Liebe, die züchtigt. Ganz wie's in ihren Kram passt und ihnen gutdünkt ...«

Der alte Herr hatte sich ganz in Eifer geredet. So oft er den Finger an diese Wunde der Gesellschaft legte, ging sein Temperament mit ihm durch. Eva hörte ihm gespannt zu. Ja, so war es. Er beugte sich jetzt zu ihr, strich ihr sanft über das Haar:

.

»Freilich, Töchterchen, es ist ein bös Ding, sich gegen die menschliche Ordnung auflehnen zu wollen, sich ausser sie zu stellen. Sie werden's noch oft genug erfahren. Gegen das andere alles, ist's freilich Kinderei. Aber den grossen ewigen Naturgesetzen, denen können Sie ruhig ins Gesicht schlagen, gegen die sich versündigen, soviel Sie wollen, wenn Sie nur die sogenannte göttliche und menschliche Ordnung gelten lassen. – Ja, ja, so ist's. Die kleinen Diebe hängt man, die grossen lässt man laufen.«

Er nahm Hut und Handschuhe. »Na, machen Sie nur kein so verstörtes Gesichtchen. Die Welt geht auch so weiter, und ab und zu gibt's auch mal so'n jungen Weltbürger, an dem man seine helle Freude hat. Sorgen Sie jetzt mal dafür. Das ist mehr wert und nützlicher als alles Philosophieren!«


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