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VI.

Dem Polterabend folgten trübe Tage in dem kleinen Häuschen, trotzdem die Sonne nach wie vor in fast sommerlicher Frische leuchtete und die Buchstaben über dem Giebel hell erglänzen liess, die weithin von dem Glück der Familie erzählten. – Auf dem kleinen Hofe lagen welk und verdorrt die Kränze, Girlanden und Blumen, achtlos in die Ecke auf einen Haufen geworfen. Sie verbreiteten einen leisen Geruch wie Tod und Sterben, einen Leichengeruch, der wie ein Hauch sich überall einmischte, – ein Geruch, der sich lähmend allen auf die Glieder legte, der in sich all die über Nacht verwüsteten Pläne, Hoffnungen und Wünsche zu konzentrieren schien.

Eva war in einen halb bewusstlosen apathischen Zustand verfallen, der sie vollständig teilnahmlos erscheinen liess. Schweigend, mit weit offenen Augen sah und hörte sie alles, all die bedauernden, teilnehmenden, aufmunternden, harten oder liebevollen Worte; den zartfühlendsten wie den taktlosesten Vorschlägen und Trostgründen setzte sie stets dasselbe eisige Schweigen entgegen. Nur ab und zu bei all den Reden und Gegenreden zog ein rätselhaftes Lächeln, das wie verirrt über ihre gequälten Züge schlich, ihre Lippen ein wenig auseinander und sie nickte mit dem Kopfe, als wollte sie sagen: ich weiss es ja doch besser.

Der Arzt schüttelte bedenklich den Kopf, sprach von nervöser Ueberreizung, allgemeiner, seelischer Abspannung und Depression, Hysterie, was ja alles aus dem Vorhergegangenen, der grossen Aufregung, dem Schreck und Schmerz erklärlich sei. Er verbot vor allem jedes Erinnern, jedes Rühren an das schreckliche Ereignis, verordnete Ruhe, kräftigende Kost, Erheiterung und Zerstreuung. »Die Zeit und die junge unverbrauchte Kraft unserer Kranken werden schon das ihre tun!« setzte er noch tröstend hinzu. »Aber jede Aufregung meiden, sonst stehe ich für nichts!«

So wurde Eva denn von allem weiteren verschont. An all den mannigfachen Arbeiten geschäftlicher Art, die die Umwälzung der bis ins kleinste fertig gestellten und geplanten Zukunft des jungen Paares mit sich brachte, hatte sie ja doch keinen Teil, wie sie auch bei deren Aufbau nicht beteiligt gewesen. Ein entfernter Vetter Illners hatte dessen Erbschaft angetreten. Er war äusserst zuvorkommend, zeigte ein fast verwandtschaftliches Interesse und war, – wie die Professorin zu Fanny sagte – fast noch ein lieberer Mensch als der arme Paul.

»Der arme Paul« bildete ein ewiges Gesprächsthema zwischen den weiblichen Familiengliedern. Er wurde noch mehr vergöttert als bei Lebzeiten. Eva hatte nie verstanden, was sie an ihm gehabt – sie weinte ihm ja keine Träne nach! Ueberhaupt war sie viel zu wenig zärtlich zu ihm gewesen, zu dem armen Paul. – Niemand sprach es direkt aus, aber aus allem klang so ein Grundgedanke, als ob der arme Paul nicht gestorben wäre, das Unglück nicht geschehen, wenn Eva eine zärtlichere Braut gewesen. Und leise wuchs in allen eine Missstimmung auf gegen die unschuldige Ursache ihrer zerstörten Hoffnungen und Wünsche. –

Eva selbst hätte, auch wenn sie eine Ahnung von all dem gehabt, keine Hand gerührt, sich zu wehren. Sie machte sich selbst unaufhörlich die grössten Vorwürfe. Hatte sie nicht intensiv seinen Tod gewünscht? War sie da nicht indirekt schuld? Sie entsann sich eines jeden Gedankens; jedes Gefühl, das sie an dem Unglücksabend beherrschte, als sie sich keinen Rat und keine Hilfe wusste vor ihm und den kommenden Tagen, durchlebte sie wieder und wieder in quälender Rückerinnerung. Sie wusste ganz genau, sie hatte dagegen angekämpft so sehr sie gekonnt. Sie sagte es sich oft, sie hatte keine Schuld, sie konnte doch den Gedanken nicht gebieten, die ihr durch das aufgeregte Hirn zogen, sie hatte sie niedergezwungen mit aller Kraft. – Trotz alledem blieb doch ein Rest, ein Rest der Schuld, über den sie sich nicht hinwegtäuschen konnte. Dass es eben möglich gewesen war, dass ihr solche Gedanken kamen, dass sie ihre Natur verleugnet hatte, sich nicht treu geblieben war – das, das war es, das war ihre Schuld. Die Sünde wider den Geist – erst unbewusst, dann klar erkannt, als sie mit Hans zusammengewesen war, – die Sünde gegen ihr eigenstes innerliches Ich und Wesen, das sich an jenem Abend so bitter gerächt, sich aufgelehnt hatte in der höchsten Not gegen jede Vergewaltigung, sein ewiges Recht geltend gemacht hatte, so dass ihr daraus eine finster drohende Schuld erwachsen war, die sie mit allen Vernunftgründen nicht bannen konnte.

Sie wusste ganz genau, die Pferde hätten auch gescheut, das Unglück wäre genau so geschehen, wenn sie die glücklichste Braut gewesen und ihn voller Ungeduld erwartet hätte. Niemand konnte sie richten, ihr irgend eine Schuld im Ernst zumessen. Nur sie selbst konnte sich richten – und sie sprach sich schuldig.

Sie war vom Wege abgewichen, vom rechten Wege. Aus Feigheit? Nein, nicht bloss aus Feigheit. Aus falschverstandenem Gefühl, aus übermässiger kindlicher Liebe und Dankbarkeit, aus Gefühlsduselei, die nicht ihrem Ich entsprang, aus anerzogenen Grundsätzen, eingeengt durch Pflichten und Gesetze, dem Druck der Verhältnisse folgend. Gezerrt und gestossen, gezwungen nach der einen Richtung, in eine Form gepresst, die sich ihrer Natur nicht anschmiegte, die wund und blutig rieb. Wie Schuppen fiel es ihr von den Augen ... ihr ganzes Menschtum hatten sie ihr verkümmern wollen, ihr Ich, ihre freie Entwicklung, in der allein Glück für sie lag. Mochte das bei vielen gehen, bei ihr ging es nicht, sie hatte gesehen, was dabei herauskam.

*

Eva lag im Esszimmer auf dem Sofa; sie war wieder den ganzen Tag auf. Sie fühlte sich um vieles leichter, seit sie über ihre Gedanken klarer geworden, seit sie gewissermassen zu einem Entschlusse gekommen. Nur eine leise Neugier plagte sie:

»Du, Lotte ...«

Sie waren beide allein. Die Angeredete blickte von ihrer Arbeit in die Höhe:

»Nun, Eva?«

»Höre mal, Lotte, ich bin schuld daran!«

»An was denn, Kind, was meinst du denn?«

»Ich habe ihm den Tod gewünscht.«

»Ihm? Wem denn? – Blech! – Du hast wohl Fieber?« Lotte trat zu ihr und legte ihr prüfend die kühle Hand auf die Stirn. Unwillig bog sich Eva zurück.

»Nein, höre mal zu, – Lotte, ach Lotte! Es war am Polterabend, weisst du, wie du runtergingst und ich allein war. Da ... da ... kam ein solches Grauen über mich ... vor ... ihm und da dachte ich: wenn er doch bloss tot wäre, wenn er nie ... nie käme ...«

Lotte lächelte leicht, halb überlegen in ihrer Frauenwürde, halb mitleidig verstehend.

»Ach so – na ja, das ist nicht so schlimm. Allerdings ist es Sünde,« – verbesserte sie sich rasch. – »Jemand den Tod wünschen. Pfui, Eva, das hätte ich dir auch nie zugetraut. Aber in dem Falle ... ich verstehe schon deine Regung, – du bist nicht die einzige, die so was gefühlt hat – –«

Jetzt erst verstand sie Eva. »Nein, Lotte, nicht so, so war es nicht!«

»Doch Kind!« Lotte wurde energisch. Das Gespräch war nicht nach ihrem Geschmack, sie wollte es so bald als möglich beenden. »Bitte nur den lieben Gott, das wird er dir schon verzeihen. – Und wenn es dich dann noch beunruhigt. Ich wollte am 1. Advent zum heiligen Abendmahl gehen, da schliesse dich mir an, – das wird dir sicher helfen. So was bringt man am besten mit seinem Gott ins reine, der lässt sich nicht umsonst suchen, er nimmt alle unsere Schuld auf sich, und wird dir Frieden geben.«

Sie war sehr zufrieden mit ihrer Antwort und beugte sich nun freundlich zu Eva herab, strich ihr das Haar aus der Stirn und küsste sie.

»Aber nein, Lotte, so, so bequem ...«

»Was?« Lottes Stimme klang auf einmal scharf.

»Ach nichts, nichts ...« stammelte Eva. Sie hatte Angst zu sagen, was sie meinte. Aber es war doch zu bequem solches Christentum. Alle Selbstverantwortlichkeit hörte auf. Wenn man eine Schuld als solche empfand, – und im Empfinden lag doch die Reue, – einfach die Hände gefaltet, um Verzeihung gebeten und die Sache war fortgelöscht, als wäre sie nie gewesen. Nein, das war ihr zu wenig. Lieber wollte sie das Gefühl ihrer Schuld mit sich tragen, bis sie selbst sie gesühnt hatte, bis sie selbst zu dem Bewusstsein gekommen war: Du hast sie getilgt.

Wie das geschehen sollte, wusste sie freilich selbst noch nicht.

Wie gut es die Ihren doch hatten, wie schnell fertig sie waren, selbstsicher und unbeirrt. Für alle und jede Lage fanden sie Hilfe und einen Ausweg, eine Richtschnur an einem Spruch, Gottes Geboten und Worten, an dem was man tut, und dem, was man nicht tut. Ihr Leben war von alters her bestimmt, klassifiziert und mit Wegweisern versehen, alles einfach und klar. Aber sie konnte hierin nicht mit ihnen gehen, sie konnte nicht. Sie fühlte, dass die innerliche Kluft, die sich zwischen ihrem eigentlichen Leben und dem der Ihrigen breitete, wuchs und grösser wurde. Die letzten Wochen hatten sie das klar erkennen lassen, hatten sie selbst gereift und weiter und weiter geführt auf einem Wege, der sich immer mehr von dem der anderen entfernte, sie immer einsamer machte.

Aber bald gewöhnte sie sich an die Einsamkeit. Ein stolzes Kraftgefühl durchdrang sie oft, wie eine Ahnung von künftiger Höhenluft. Sie fühlte, ihre Kraft lag in eben dieser Einsamkeit, wuchs und stärkte sich in ihr. Sie durchwanderte Wüsten, weite Einöden und hörte nur die Fragen und Antworten, das Ringen ihrer Seele. Wie körperlos lag sie da, nur die Gedanken schienen in ihr zu arbeiten, rastlos, ohne ihr Zutun. Menschen, Situationen und Handlungen fielen ihr ein, die ihr früher unerklärlich gewesen, zu denen sie nun den Schlüssel in Händen hatte. Und immer mehr kam es über sie als unaufhaltsamer Wunsch, das Verlangen allein und frei zu sein, allein und frei, – frei, ihren Weg gehen, ihr Leben zu leben, ihr ureigenstes Wesen zu hören und nur nach ihm zu handeln.

Aber würde sie den Mut haben? Sie, sie ganz allein?

An Hans Seite wäre es ihr ein Leichtes gewesen, das wusste sie, denn er war sie und sie war er, nur war er weiter auf dem Wege und würde ihr deshalb rasch und sicher helfen können. Aber erst wollte sie es allein versuchen. Jede, auch seine Hilfe schien ihr ein Bekennen ihrer eigenen Schwäche, ein Zeichen von Feigheit, eine halbe Sache nur. Ganz und voll aber wollte sie sein, aus eigener Kraft, festwurzeln ohne fremde Hilfe und Stütze.

*

Inzwischen hatte Eva doch äusserlich wieder am Familienleben teilnehmen müssen. Sie sah zwar noch sehr elend aus, tiefe blaue Schatten zogen sich um die Augen und die schwarzen Kleider liessen sie noch schlanker und blasser erscheinen. Sie nahm noch allerlei ein, wurde auch geschont, Mittagsruhe musste sie streng innehalten und morgens lange schlafen. Aber sie durfte sich nicht mehr drücken, wenn Besuche kamen, musste im Familienkreise mit handarbeiten und vorlesen, Besorgungen machen und öfters zu Lotte gehen, damit die Kinder sie erheiterten.

Ab und zu kam wieder der Wagen aus Niederwiesa, hielt wie früher vor dem Häuschen und ebenso wie früher sass sein Besitzer, der Erbe des »armen Paul«, mit am Familientisch und beteiligte sich am Gespräch. Erst waren es geschäftliche Erörterungen, die ihn herführten, dann, als Eva wieder im Kreise der Familie lebte, kam er auch ohnedies: »Nur im Vorbeifahren, um sich nach dem Befinden der Damen zu erkundigen.« Er verteilte seine Aufmerksamkeiten und Liebenswürdigkeiten ganz gleich unter allen Anwesenden, richtete das Wort eher an Fanny als an Eva, die auch lebhaft auf alles einging, aber Eva merkte mit ihren geschärften Augen wohl, dass die Mama und Lotte oft Blicke heimlichen Einverständnisses wechselten und sich über ihren Kopf hin wie bestätigend zunickten.

Eines Tages, die ersten Schneeflocken rieselten schon zur Erde, war die ganze Familie bei Lotte zu Mittag eingeladen. Man stand eben vom Tische auf. Es war Sonntag, ein »dienstfreier Tag«, wie der Pastor scherzend bemerkte, an dem er sich nun auch »ausnahmsweise einmal« eine kleine Mittagsruhe gönnen wolle. Er nahm seinen Schwiegervater, den er immer etwas väterlich von oben her behandelte, unter den Arm, wünschte den Damen eine gesegnete Mahlzeit, und ging mit ihm in sein Zimmer.

»Sowie der Kaffee fertig ist, in einer Stunde etwa, rufst du mich, Lotte! Und dass die Kinder ruhig sind. Das Mädchen könnte solange mit ihnen spazieren gehen,« rief er noch zurück. –

Fanny und Eva konnten ein Lächeln nicht unterdrücken. Mit mehr oder weniger Variationen wiederholte sich stets diese selbe Szene, wenn sie bei Lotte zu Gaste waren.

Lotte erhob sich rasch: »Ja, du hast recht, lieber Ernst, ich werde solange in der Küche alles besorgen.« Und entschuldigend wendete sie sich zur Mutter zurück: »Weisst du, er hatte gerade die letzten Tage soviel Arbeit, da braucht er unbedingt Ruhe. Er opfert sich ja förmlich auf in seinem Amt.«

»Ja, aber das Aufwaschen? Muss denn das Mädchen nicht ihren Sonntag haben? Die Kinder sind doch so ruhig.«

»Weisst du, Muttchen, schon der Gedanke, dass sie da sind und ihn stören könnten, ist ihm zuviel, ich kenne das. Er hat so zarte Nerven. Und ich besorge alles so schnell, mir ist die Bewegung ganz gut. Entschuldige mich bitte für einige Zeit.«

Eva bot sich zur Hilfe an und beide gingen in die Küche. Es war übermässig warm in dem kleinen Raum. Der Dunst der Speisen vermischte sich mit dem des eben noch rasch gemahlenen Kaffees, das Spülwasser dampfte in den Fässern, dazu ein undefinierbarer Geruch, wie er in Räumen herrscht, wo sich Dienstboten lange aufhalten. Eva hörte dem Geplauder der Schwester zu, die sich hier ganz in ihrem Element zu fühlen schien. Lotte wusch auf und sie nahm das gereinigte Geschirr aus dem Wasser und trocknete es sorgsam ab.

Einige Zeit verging so in wechselseitiger Arbeit. Plötzlich flimmerte es Eva vor den Augen, ein beklemmender Druck stieg ihr vom Magen den Hals herauf, ein Gefühl des Ekels und Widerwillens, das sie nicht zu bezwingen vermochte. Zitternd stellte sie die Schüssel, die sie eben polierte, auf den Tisch und liess sich schwer auf den daneben stehenden Holzstuhl fallen.

»Nanu, was ist dir denn, dir wird wohl schlecht?«

»Es ist nichts, der Geruch hier, die Hitze ...«

»Na, weisst du, du bist aber gar zu gefährlich, nun schon gar der Geruch! Als ob's hier in der Küche schlecht röche,« – entrüstete sich Lotte. »Und die Hitze ist auch nicht weit her. Du müsstest dich wirklich zusammennehmen. Wie du gleich aussiehst, Braunbier und Spucke ist nichts dagegen.«

Sie öffnete das Fenster und hielt Eva ein Glas Wein an den Mund. Gehorsam wollte diese trinken, aber beim besten Willen brachte sie keinen Schluck hinunter. Lotte ärgerte sich nun:

»Gott, stellst du dich an mit deinen Nerven. Weiter ist's ja nichts. – Ich weiss noch, ehe Hanna ankam, ging's mir ähnlich, na und das war doch noch was und hatte seinen guten Grund. Aber sogar da habe ich mich zusammen genommen und mir nichts merken lassen. – Na, ich dächte, du, der doch gar nichts Wichtiges fehlt, du könntest dann vollends ...«

Sie hatte sich wieder über ihre Fässer gebeugt und sah nicht, dass Eva bei ihren Worten wie unter einem Schlag zusammenzuckte. Sie konnte noch kein Wort herausbringen, aber unwillkürlich nahm sie mit Aufbietung aller Kraft ihre Arbeit wieder vor und trocknete von neuem das Geschirr ab, was Lotte mit einem: »Siehst du, wie recht ich hatte, dass du dich bloss gehen lässt!« konstatierte.

Den ganzen Nachmittag war Eva heiter und gesprächig wie selten. Sie scherzte mit den Kindern, neckte sich mit dem Schwager und zeigte Interesse an allem, ihre Wangen waren leicht gefärbt und ihre Augen glänzten. »Nur ja nichts merken lassen,« war ihr einziger Gedanke.

Bei den tadelnden Worten der Schwester war ihr ein eisiger Schreck durch die Glieder gefahren, ihr Herzschlag stockte. Einen Moment war alles Nacht um sie, es sauste vor den Ohren. Und dann, wie ein Blitzstrahl im Augenblick alles rundum wundersam erhellt, kam ihr das Wissen. Das war es! Daher dies unerklärliche Gefühl oft, dieser Zustand, den sie sich nicht zu deuten vermochte, über den sie sich gewundert, und der sie beunruhigt hatte.

Es gab für sie keinen Zweifel, mit einem Male wusste sie alles, in einer Sekunde war sie erwacht, war sehend geworden. Scharf und logisch dachte sie über alles nach, folgerte und zog den Schluss mit ruhiger Konsequenz. Nicht einen Moment wies sie den Gedanken, der ihr gekommen war, zurück, nicht einen Moment schloss sie die Augen davor, suchte sie vor ihm auszuweichen, sich vor ihm zu verstecken in feiger Scheu. Ruhig, als beträfe es eine Fremde, dachte sie nach. –

Nun wusste sie, sie würde den Mut finden ihren Weg zu gehen, würde und musste ihn gehen, sie, sie ganz allein, um ihrer selbst und um des Kindes willen. – Es regte sich nicht eine Spur von Scham in ihr, auch keine Freude, keine Angst, nichts, nichts. Nur das Gefühl ihrer Pflicht stand unerschütterlich in ihr fest. Und eine leichte Regung, fast wie Dank war in ihr. Dank dafür, dass sie nun musste, dass ein kommendes Etwas sie zwang, sich schon jetzt frei zu machen, um sich und ihm ein Leben zu gründen. Es gab ihr den Mut zu handeln, den Mut des Entschlusses.

Mit der grössten Ruhe und Umsicht ging sie zu Werke. Tapfer zwang sie jedes aufsteigende Gefühl der Angst und Bitterkeit nieder. Sie wusste, sie durfte keinen Augenblick schwach werden, musste stark sein, dass niemand etwas merkte.

Sowie sie einmal unbeobachtet und allein war, schrieb sie einen kurzen Brief an Mieze. Es waren nur ein paar Worte, in denen sie sie auf das flehentlichste bat, man möchte sie sofort unter irgend einem Vorwand nach Berlin kommen lassen. »Bitte, bitte, wenn du mich nur je ein kleines bisschen lieb gehabt hast! Es hängt mehr davon ab, als du ahnen kannst, alles, mein ganzes Leben!«

Gleich am folgenden Tage kam eine Depesche, in der Dr. Wolf dringend um Evas Kommen bat, Mieze und der Junge seien unwohl, das Mädchen im Krankenhaus.

Das Schriftstück entfesselte eine lebhafte Debatte.

»Dazu sind wir also wieder mal gut!« meinte Fanny höhnisch.

»Gewiss bekommt der Kleine Zähnchen, er ist nun in dem Alter. Ihr wäret da immer vorher lange unruhig, besonders du, Fanny.« In glückliches Erinnern verloren, hielt die Professorin im Stricken inne. »Mit dem Mutterglück kommt die Mieze nun wieder ins rechte Gleis. Sie hatte sich nur verirrt durch diese neuen Ideen alle. Im Grunde war sie immer gut und hielt auf die Familie. Nach und nach sieht sie nun ein, was sie an uns hat, wir dürfen sie nicht zurückweisen.«

Der Professor faltete die Depesche wieder sorgfältig zusammen: »Unsinn, Eva ist zu elend noch. Die weite Reise, – das Kind ganz allein ... Fanny hast du Lust?«

»Ich?! – Nein, danke.« Es lag soviel ehrliche Entrüstung in dem Ausruf, dass niemand wieder eine solche Zumutung zu stellen wagte. Die Fanny hatte doch eben Charakter!

»Papa, ich würde so gern fahren – ich bin ganz frisch wieder. Die paar Stunden Bahnfahrt, das tut doch nichts.«

»Nein, nein, Kind. Zu den fremden Leuten noch dazu. Wir kennen ja diesen Dr. Wolf gar nicht. – Wer bürgt mir für seine Gesinnung? Er ist Schriftsteller, dazu auch so ein Neuerer. Und du mit deinem empfänglichen Gemüt und der Neigung zu allem möglichen romantischen Zeug. Du bist noch viel zu jung.«

Eva lächelte bitter: »Aber, Papa, wenn ich nun – eigentlich – ich – Eigentlich wäre ich doch schon verheiratet, – da muss ich doch nicht so ganz jung und dumm sein. Dabei hattet Ihr doch gar keine Bedenken.«

Jetzt mischte sich die Mutter hinein: »Aber, Kind, das ist auch ganz was anderes. Wie kannst du das beides nur in einem Atem nennen. Das verstehst du nicht!«

Ja, das verstand sie nicht. – Mutlos überlegte sie, welche Argumente sie noch ins Treffen führen könnte. Da kam ihr Hilfe von einer Seite, wo sie es nicht erwartet hatte. Fanny erhob sich resolut.

»Ich weiss nicht, wenn Eva Lust hat, da lasst sie doch. Die Zerstreuung wird ihr gut tun und die Luftveränderung. Hier piepst sie doch ewig rum und wird nichts rechtes. Und die Reise! Mein Gott, ein Wickelkind ist sie doch nicht mehr!«

Im stillen dachte sie: Und ich bin sie los und die Besuche aus Niederwiesa gelten dann mir. Wenn sie nicht neben mir steht, an der eben alle unbegreiflicherweise einen Narren gefressen haben, dann werde ich schon fertig mit ihm ... Sie sah sich bereits an Evas Stelle auf dem Gute, und sie, sie erfüllte dann alle die Hoffnungen, die jetzt so kläglich gescheitert waren. Aber dazu musste Eva fort.

Geschickt machte sie es allen begreiflich, dass Eva ihren Willen haben müsste, und sprach auch mit dem Arzt, der nichts dagegen vorbrachte. Er war im stillen froh, die Patientin vom Halse zu haben, mit der es seinem ganzen Wissen zum Trotz so wenig vorwärts ging. Denn sie gefiel ihm eigentlich jetzt gar nicht; er merkte wohl, dass die Anregung, die Lebhaftigkeit, die alle täuschte, eine mehr künstliche war. Er konnte sich das ganze nicht erklären und war froh, wenn er den »Fall« nicht mehr zu behandeln brauchte.

So war es also beschlossene Sache, Eva fuhr nach Berlin.

Sie war wie ausgetauscht seitdem, tätig wie noch nie. Sie setzte es durch, den grössten Reisekorb vom Boden nehmen zu dürfen, alles packte sie selbst ein, und die Mutter, die dazu kam, um das nötige auszuwählen, was das Kind mitnehmen sollte, sah mit Staunen, wie Eva fast all ihr Hab und Gut darin unterbrachte.

»Als ob du nach Sibirien gingst!« scherzte sie. Aber sie war so froh, dass die alte Apathie nun ganz geschwunden schien, und liess Eva deshalb gewähren. Man konnte ja nicht wissen, was für Bekannte Wolfs hatten und wen sie in Berlin sah und kennen lernte. Das Kind war ja bildhübsch. – Eigentlich war es unrecht, und sie liess es sich auch nie merken, aber sie betrachtete Eva ganz erstaunt von der Seite. Wo sie es nur her hatte! Die anderen beiden waren ja auch nicht hässlich. Aber das Aparte, – dieser feingeschnittene Kopf, und dazu die klassische Ruhe, die über ihr lag, – so etwas Geheimnisvolles, das sie früher immer geärgert und das sie nie auszurotten vermocht hatte. Ja, ganz merkwürdig war sie ihr, und eigentlich ganz fremd, wie sie sich seufzend sagte. Aber es würde schon werden, wenn sie erst einmal verheiratet war und Kinder hatte, dann gab sich das, – darauf hoffte sie immer, da kam ihrer Meinung nach erst alles ins rechte Gleichgewicht. Wenn es doch erst so weit wäre. Sie seufzte:

»Ich lasse dich sehr ungern fahren, Kind. Gerade nach Berlin! Zu meiner Zeit war es überhaupt nicht Sitte, dass ein junges Mädchen so weit verreiste, – noch dazu allein! Nimm dich nur recht in acht, gehe nie allein aus. Hörst du?«

Eva legte eben einen Stoss Wäsche in den Korb. Sie presste die Lippen fest aufeinander. All die Besorgnisse der Mutter kamen ihr so kindlich vor und rührten sie zugleich, dass ihr die Tränen heiss in die Augen stiegen und sie gewaltsam schlucken musste, sie zurückzudrängen. Aber nur nicht weinen jetzt, nur nicht weich werden!

Sie sah verstohlen zur Mutter hinüber, die auf dem niedrigen Puff neben dem schmalen Bette sass und die Bänder ihrer grossen Leinenschürze glatt strich. Die runzligen alten Hände fuhren unaufhörlich in leiser ängstlicher Unruhe an den Rändern des Bandes hin, eine Bewegung, die in ihrer Unbehilflichkeit deutlicher als alle Worte die Sorge um ihr Kind zeigten. –

Wenn sie den Kopf in den Schoss der alten Frau legte, ihr alles beichtete? Wie sehnte sie sich danach, die lieben Hände auf ihrem Haar zu fühlen, ihr leises Streicheln, wie süss und weich musste das sein. Ach, alles von sich abwälzen können, alles in ein anderes Herz ausschütten dürfen! Die Mutter musste ja ihr Kind verstehen. Wer stand ihr denn näher auf der Welt, als die, die ihr das Leben gegeben, von der sie ein Teil war? Sie war ja ihr Kind trotz allem und allem!

Mit einem raschen Ruck warf Eva alles hin und eilte hinüber, kniete neben der alten Frau nieder und schlang ihre beiden Arme um die kleine gebrechliche Gestalt:

»Mama, sag mal, könntest du mich noch lieb haben, wenn ich etwas ... etwas ... sehr, sehr Schlechtes getan hätte? Etwas, das du für sehr schlecht und verdorben halten müsstest, wenn du nicht die näheren Umstände kenntest?«

»Ach, Dummchen, wer wird denn so was reden!«

»Nein, Mama, im Ernst, antworte mir.«

»Nun, Kind, was könntest du denn so Schlimmes tun oder getan haben! Reicht dein Taschengeld nicht, und hast du irgendwo noch was zu bezahlen? Na, da sag es nur ruhig, so böse ist das ja nicht. Und wenn es dir leid tut ...«

»Nein ... nein ... Mama, so nicht. Ich meine faktisch etwas, was allgemein für sehr, sehr schlecht und böse gilt, was alle verurteilen und verdammen. Würdest du dann zu mir halten, würdest du mich verstehen, mich zu verstehen suchen? Würdest du mir glauben, dass es das einzig richtige für mich war, dass ich nicht anders handeln konnte, dass es von meinem Standpunkt aus nicht schlecht war, im Gegenteil ...«

»Ach, das ist ja alles Unsinn. Dein Standpunkt! Höre einer das Kind. Als ob du einen ganz extra für dich hättest, ha, ha! – So ein Guck-in-die-Welt! Aber höre, Eva, du bist so exzentrisch und ein bisschen überspannt, – merke dir mal das eine: Gut und Böse steht felsenfest, da gibt es nichts dran zu deuteln und zu rütteln, keine Ausnahmen, Sünde bleibt Sünde unter allen Umständen. Nur wie tief die Reue geht, das macht den Unterschied.«

»Ja ... aber – aber ich bereue es gar nicht, ich – ich sagte ja, ich musste so handeln, es war für mein Gefühl das einzig richtige.«

»Du bereust nicht? Nein so was! Erst musst du doch was getan haben. So ein junges Ding wie du bist, man braucht dich ja bloss anzusehen! Was dir nicht in den Kopf kommt! Du bist doch noch überspannter als ich dachte. Ja, das viele Lesen! Wenn du wiederkommst, mein Kind, – ganz frisch, hoffe ich zu Gott – dann müssen wir auch vollends damit aufgeräumt haben, mit all den dummen Gedanken. Dann werde ich dich ordentlich in der Wirtschaft beschäftigen, du kannst auch brennen und schnitzen lernen oder so was ... Das wird sich schon alles geben. Du bist noch gar zu unfertig für dein Alter.«

Eva starrte ganz verständnislos zu ihr hinauf. Sie hatte die Arme sinken lassen, schlaff hingen sie zu beiden Seiten ihres Körpers herab.

»Nun mach nicht so dumme Augen, steh lieber auf. Du bist gewiss ganz staubig vom Knieen, die schwarzen Sachen nehmen das so leicht an!« Sie half Eva in die Höhe, die mechanisch alles mit sich geschehen liess. »Siehst du wohl, ganz grau und fleckig. Noch dazu das gute Kleid, das du morgen zur Reise anziehen sollst.«

Und rasch nahm sie die Bürste aus dem kleinen Körbchen von der Wand und strich eifrig und sorgsam über den Stoff hin, bis kein Stäubchen mehr zu sehen war.

Dann gab sie noch einige praktische Ratschläge, faltete die Kleider zusammen und legte sie auf einen Stuhl. Dabei fanden sich hier und da noch Kleinigkeiten auszubessern, ein Paar Stiefel musste unbedingt noch einmal gewichst werden, eine seidene Bluse aufgeplättet, und mit all dem beladen entfernte sie sich in glücklicher Geschäftigkeit.

Ein unendliches Weh durchschüttelte Eva, eine Bitterkeit ohne gleichen. Sie fühlte sich so missverstanden, so zurückgewiesen. Das war also auch eine Fabel, das von dem Mutterherzen! Wie rein äusserlich waren doch die Bande, die sie hier hielten. Eins nach dem anderen löste sich ohne ihr Zutun. Aber dass es so schmerzen konnte, das hätte sie nie gedacht.

All das, was sie von Kindheit auf als Höchstes, Heiligstes hatte feiern hören in Wort und Lied, in der Nähe besehen war es nichts, nichts, leer und hohl. Ein künstlich geschaffener Zusammenhalt war das ganze viel gepriesene glückliche Familienleben. Willenlos wurde man hineingeboren, für Trank, Speise und Kleidung in der Kindheit war man rettungslos zu lebenslänglicher Dankbarkeit verdammt, musste sich blindlings fügen, sich beugen. Auf Lebenszeit schleppte man die nicht endende Fessel mit sich, die eiserne Kette des ewigen Müssens, die wund und blutig rieb und alles Leben bannte. Eingeengt von allen Seiten, in künstliche Formen gezwängt, alle frischen selbständigen Triebe ängstlich verschnitten, dem ersten, besten Mann, der »in die Familie passte«, hingeworfen, – unfrei durch und durch.

Sie legte die Handflächen fest zusammen und presste sie gegeneinander, wie um sich wieder zu besinnen, um sich einen Halt zu geben, sich in dem Chaos der Gedanken zurechtzufinden.

»Morgen!« flüsterte sie leise, »morgen werde ich frei. Einsam und stark.«

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