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Schamhaftigkeit und Kälte

»Pfui, Mama!« rief das junge Schneehuhn, als es aus dem Tal auf die Berggipfel zurückkehrte. »Da drunten gibt es Vögel, die ihre Beine zeigen.«

»Eine schlechte Gesellschaft für junge Mädchen«, sagte die Mutter, indem sie sich mit dem Schnabel über die weißen Höschen strich, die bis zu ihren Krallen hinunterreichten. »Aber wer sind denn diese frechen Geschöpfe?« fragte sie.

»Das weiß ich wirklich nicht«, antwortete das Hühnchen.

Die Mutter wollte sich selbst hinunter begeben, um sich über diese Angelegenheit Klarheit zu verschaffen. Sie kroch durch das Heidekraut und die Krähenbeerensträucher und kam schließlich zu einem Birkengehölz. Da saß dicht zusammengekauert ein Volk Rebhühner, das sich aus den abgemähten Feldern des ebenen Landes dahin verirrt hatte.

Und siehe, bei allen waren die Fußgelenke nackt, so wie sie von dem Schöpfer geschaffen worden waren!

»Woher kommt ihr, ihr verderbten Geschöpfe?« rief die Schneehuhnmama.

»Ei, wir kommen aus dem Süden, wo es zu warm ist zum Beinkleidertragen«, antwortete ein Rebhuhn.

»So macht, daß ihr wieder nach dem Süden kommt, und zwar sofort! Wir wollen in unserem keuschen Lande nichts von euren südländischen Sitten wissen.«

»O, ihr seid mir schön keusch in euren Hosen!« fiel das Rebhuhn ein.

»Ja, ja, meine Gnädigste, wir haben das natürliche Schamgefühl noch nicht verloren.«

»Dummes Gerede!« entgegnete das Rebhuhn. »Ihr habt die Hosen nicht aus Schamgefühl angezogen, sondern nur wegen der Kälte.«

Und sämtliche Rebhühner fielen im Chor ein:

»Nein, nicht aus Schamgefühl, nur wegen der Kälte!«


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