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Natürliche Zuchtwahl

Die Wanduhr des Laboratoriums hat geschlagen, und der Chemiker zieht seinen schmutzigen Kittel aus, wäscht sich die Hände und geht zum Mittagessen.

In dem großen Saal wird es dämmerig, aber die Straßenlaterne wirft einen schwachen Lichtschein in das Laboratorium, wo die hohen Glasflaschen, die so viele feindliche, befreundete und indifferente Stoffe enthalten, auf ihren Fächern glänzen.

Die Geisterstunde ist da.

Das Gold, dieser König, Egoist und Junggeselle aus Grundsatz, der sein Blut nicht mit den Gemeinen vermischt, der Herrscher ist durch seine Schönheit, aber nicht durch seine Stärke, gibt sich der Liebe nur gelegentlich hin, und auch dann streckt es die Hand nur nach dem Stärksten, dem Chlor, aus.

Dieses, das Chlor, das große Entsetzen aller Verheirateten, das die verzweifelten Männer aus ihren Ehebetten jagt, ist eifersüchtig auf alles und alle, von gelbgrüner Gesichtsfarbe, und immer bereit, seine gesetzliche Gattin zu verlassen, um sich eine andere zu nehmen.

Das Eisen hingegen, ein alter Demokrat, ein getreuer Liebhaber des Sauerstoffes, einer armen Dirne, die immer zu den derbsten Liebkosungen bereit sein muß. Die Kohlensäure, ein Postpferd, das kommt und geht, sich nach rechts und links in zügellose Verbindungen einläßt, diese bricht, wieder anknüpft und dann wie ein Rauchwölkchen verschwindet.

Jetzt stiegen die Pfropfen aus den Gläsern, und der Liebeskrieg ist erklärt; der Kampf um das Weib beginnt, die Zuchtwahl geht nach den Gesetzen der Natur – ohne Pfropfen – vor sich.

Kohlensäure und Natron haben, verliebt wie die Turteltauben, in einer glücklichen Ehe gelebt, und jahrelang hatte nichts ihre Ruhe gestört.

Aber sie, das Natron, vielleicht von den gefährlichen Theorien betört, die gegenwärtig gang und gäbe sind, findet das Leben daheim allmählich langweilig und überdies altmodisch.

Sie war zwar bisher mit ihrem Manne gut ausgekommen, aber nun will sie sich nicht länger darein finden, ein Haremsleben zu führen; und so hatte sie sich in den Kopf gesetzt, einmal in die Welt hinauszukommen.

Der arme Ehemann, die Kohlensäure, der den schlummernden Löwen zu wecken fürchtete und eifersüchtig über seinem Glück wachte, wollte durchaus nicht zugeben, daß seine Wohnung für die Gattin mehr als für ihn ein Harem sei, da sie doch alle beide da eingeschlossen waren. Aber die Gattin verstand es, ihren Mann mit sich hinauszulocken, so daß sie gerade an diesem Abend ausgehen, um ein Bad zu nehmen.

»Du mußt zugeben, meine Liebe, daß das wie ein Selbstmord aussehen wird«, wendete der eifersüchtige Gatte ein. »Warum sollen wir uns den Gefahren dieser leichtfertigen Welt aussetzen, noch dazu in einem Bade? Alle Damen der Antike und der neueren Zeit sind im Bad überrascht worden: Susanna, Diana, Leda, Bathseba, und wie sie alle heißen.«

Aber die Gattin, das Natron, war auf ihrer Hut.

»Bist du eifersüchtig?« fragte sie.

»Ja, das bin ich, mein Engel, eifersüchtig auf den Teufel selbst.«

Alle Einwendungen der Kohlensäure waren fruchtlos.

Und so machten sie sich auf den Weg.

Unglückseligerweise hatte der Chemiker einen Destillierkolben offen stehen lassen, in dem sich eine Lösung Weinsäure befand.

Unser Ehepaar blieb arglos an dem Rande dieses Gefäßes stehen, dessen Inhalt so klar und unschuldig aussah.

»Hier haben wir, was wir brauchen!« rief das Natron.

Und eins, zwei, drei waren die beiden auch schon kopfüber in die Fluten hinuntergesprungen, wo die unbekannte Gefahr lauerte.

Die Weinsäure, die von dem nach Liebe schmachtenden Natron in die Seiten gekitzelt wurde, warf sich über dieses her und bedeckte es mit unzüchtigen Küssen.

Das Natron ließ der Sache ihren Lauf. Aber die Kohlensäure schreit in voller Wut:

»Nimm dich in acht, Verräter! Laß los, oder ich schlage dich kurz und klein! Ach, mein geliebtes Natron, komm her zu mir, du Schönste! Laß sie los, du verdammter Kerl! Ich liebe sie, hörst du, ich liebe sie!«

»Das glaube ich wohl, mein Herr«, antwortete die leichtfertige Weinsäure. »Ihr liebt sie, zweifellos, aber ich liebe sie noch viel mehr.«

Und die Kohlensäure, die ohne ihr eigenes Verschulden aus ihrem Eheparadies vertrieben worden ist, geht weinend fort und spritzt das Wasser, das durch die heftigen Umarmungen der beiden vor Liebe Glühenden in Wallung geraten ist, in Perlen um sich her.

»Das Starke ist des Schönen wert«, tröstet der Sieger den armen Ehegatten.

Der unglückliche abgedankte Ehemann hält sich fortgesetzt im Bereich des Kolbens auf, um den Augenblick abzuwarten, wo in der Gestalt eines noch Stärkeren ein Rächer auftauchen wird.

Es dauert auch nicht lange, bis er mitten in dem tollen Gelächter und dem Plätschern des Wassers die Ankunft des jungen Chlorwasserstoffes, des wilden, aufdringlichen Gesellen, der ein Schrecken aller verheirateten Männer und der Liebling der Frauen ist, wahrnimmt.

Dieser war schon einige Zeit von der Schönheit des hinreißenden Natrons begeistert gewesen, hatte aber noch keine Gelegenheit zu einer Erklärung gefunden. Als er jetzt am Rande des Kolbens steht, wechselt sein Gesicht die Farbe; er wird beim Anblick der Badenden totenblaß und schauert zusammen wie ein Fieberkranker.

»Hinweg mit dir!« ruft er. »Hinweg, du liederlicher Geselle! Du sättigst dich mit meiner Liebe, die ich mir für meinen Hochzeitstag rein erhalten habe.«

»Um so bedauerlicher für dich, daß ich von dem Recht der ersten Nacht Gebrauch gemacht habe.«

»Und du, o Natron, o, wenn du gewußt hättest, wie selbstlos meine Gefühle sind!«

»Ich kenne nur selbstsüchtige Gefühle«, erwiderte das realistische Natron.

»Ach so, dann kennst du mich eben nicht. Jetzt aber fort mit dir, du Bestie da, sonst werfe ich dich zu deinem Ehebett hinaus!«

Hierauf stürzt sich der Chlorwasserstoff mitten in den Kampf hinein und geht mit beiden Fäusten auf die Weinsäure los, die ohne einen Laut zu Boden sinkt.

Der Chlorwasserstoff aber behauptet das Feld und läßt sich nun als Ehemann nieder. Nach den ersten feurigen Umarmungen fühlt er sich ein wenig mitgenommen. Es ist, als hätte ihm das Natron seine ganze unbändige Kraft geraubt; er wird so fügsam, so neutralisiert, daß man ihn nicht wiedererkennt.

»Da sieht man die Kraft der wahren Liebe!« meint das Natron, das selbst weniger herb geworden ist.

Aber der alte Chlorwasserstoff fühlt sich andauernd mitgenommen. Er ist es zwar noch, aber eben doch ein anderer. Alle seine angeborenen Eigenschaften haben sich derartig mit denen der Gattin vermischt, daß er Mein und Dein nicht mehr unterscheiden kann.

»Zwei Körper und eine Seele!« deklamiert das Natron.

Jedoch der Chlorwasserstoff vermißt sein eigenes Ich, aber das Natron kann den Grund dafür nicht einsehen, und die eifersüchtige Weinsäure kann es nicht unterlassen, sich ins Fäustchen zu lachen, wenn sie den untergekriegten Egoisten betrachtet.

»Da siehst du, mein Junge, wie dir die Frau die Nägel beschneidet,« kicherte sie; »und du, Mägdlein, lernst, wie ein Gatte es versteht, die Flügel zu stutzen. Die Ehe ist doch eine weise Einrichtung: eine Schule sowohl für die Frauen als auch für die Männer.«

Am nächsten Tag, als der Chemiker den Destillierkolben vorzeigt, der das Chlornatrium enthält, erklärt er seinen Zuhörern den außergewöhnlichen Vorgang der chemischen Verbindung also:

»Meine Herren! Sie sehen hier zwei giftige Körper, Chlor und Natrium, die entgegengesetztesten, die es gibt. Sie suchen einander wie zwei Liebende, stoßen sich gegenseitig zurück, um sich schließlich zu einem einzigen Dasein zu vereinigen. Sie verlieren dann ihre giftigen Eigenschaften, und indem sie von jetzt an ihren schädlichen Egoismus ablegen, bilden sie ein einziges Wesen, wegen seiner wohltuenden Eigenschaften von allen Menschen gekannt und gesucht; und so hat man das Kochsalz, nachdem der Chlorwasserstoff seinen Wasserstoff verloren und das Natron seine Säure abgegeben hat. Wer behauptet, daß diese chemische Verbindung nicht der ehelichen Vereinigung gleicht, das hieße der Natur unrecht tun. Ja, so ist es, meine Herren!«


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