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Das Eigentumsrecht

Im Wald stand ein schöner Haselnußstrauch. Die Nüsse waren reif, als ein Eichhörnchen an einem strahlenden Augusttage dorthin kam.

»Dieser Haselnußstrauch gehört mir«, sagte es vor sich hin und hüpfte auf einen Zweig, um seine Zähne an den leckeren Früchten zu erproben.

»Fort von hier, du Dieb!« ertönte eine schwache Stimme aus dem Strauch.

»Wer da?« rief das Eichhörnchen und guckte bald hierhin, bald dorthin.

Endlich hatte es am Fuße des Strauches eine Haselmaus entdeckt.

»Willst du wohl deiner Wege gehen und meine Nüsse in Ruhe lassen!« wiederholte die Haselmaus.

»Deine Nüsse!« höhnte das Eichhörnchen und machte sich, was es nur konnte, über die Nüsse her, ohne sich irgendeinen Zwang aufzuerlegen.

»Hör auf, du Dieb da droben!«

»Mit welchem Rechte, wenn ich fragen darf, gehört dir denn dieser Strauch?«

»Kraft des jus primi venientis, des Rechts des Zuerstkommenden, wenn du so sagen willst.«

»Sehr gut, mein Herr, und ich eigne ihn mir kraft des jus primi occupantis, das heißt des ihn zuerst Besitzenden an. Gewalt geht vor Recht. Ich bin der Stärkere, also habe ich den Vorrang, siehst du?«

»Was hast du denn hier zu tun?« plapperte ein Nußhäher, den der Lärm herbeigelockt hatte. »Laß meine Nüsse in Ruhe, sonst sollst du sehen!«

»Entschuldigen Sie, mein Herr,« erwiderte das Eichhorn rasch, »aber ich habe diesen Strauch soeben hier entdeckt.«

»Daß du meinen Strauch entdeckt hast, will ich gerne glauben, aber kraft welchen Rechtes hast du dich seiner bemächtigt?«

»Ich habe ihn genommen kraft ...«

»Ja, du hast ihn ganz einfach genommen. Und jetzt komme ich und nehme ihn wieder.«

Im selben Augenblick, wo der Nußhäher auf das Eichhörnchen losstürzen will, fällt ein dichter Steinregen auf die Streitenden herunter, die schleunigst entfliehen.

»Diese Schelme!« schreien die Buben, die eben gekommen sind, Nüsse zu sammeln. »Jetzt bekommen sie nichts für ihre Mühe.«

Und die Jungen pflücken die Nüsse in ihre Mützen.

»Es geht recht lustig zu hinter den Büschen da«, brummte der Pächter, der jetzt auf dem Schauplatz erschien. »Erlaubt, ihr Herren Diebe, daß ich euch ordentlich den Marsch mache, damit ihr keine falschen Ansichten über das Eigentumsrecht des einzelnen bekommt!«

»Das sind schöne Ruten hier«, unterbrach ihn der Korporal, der mit seiner Patrouille dazugekommen war und jetzt sein Faschinenmesser zog. »Gerade das, was wir zu den Faschinen brauchen.«

»Halt!« wendete der Pächter ein.

»Sind Sie vielleicht der Eigentümer?« fragt der Korporal. »Nein, der sind Sie nicht! Halten Sie also den Mund!«

»Aber ich bin doch der Pächter!«

»Was geht das mich an? Sie selbst haben nicht das Recht, diesen Haselnußstrauch abzuschneiden, aber ich habe es.«

»Sollten die Gesetze über das Eigentumsrecht vielleicht aufgehoben sein?« fragte der Pächter.

»In diesem Falle schon, mein Lieber; solange die Waffen reden, schweigen die Gesetze, und wenn Sie mich zum Gutsbesitzer begleiten wollen, werde ich ihm den Requisitionsbefehl zeigen. Hier ist er.«

Sie gehen; aber kaum sind sie fort, so erscheint ein Eisenbahnvermesser an der Spitze einer Schar von Arbeitern.

Er stellt seine Wasserwage auf, berechnet, mißt ab, schreibt verschiedenes in ein Notizbuch und verteilt die Arbeiter.

»Haut zuerst einmal diesen Busch hier um!« sagt er.

Gesagt, getan.

»Mit welchem Recht erlauben Sie sich diesen Forstfrevel?« fragt der Gutsbesitzer, als er an dem Platz vorüberkommt.

»Kraft des Enteignungsgesetzes.«

»Gut, mein Herr! Bitte!«

Und mit dieser Erklärung zufrieden, geht der Gutsbesitzer von dannen.

»Das ist ein gesetzlicher Eingriff ins Eigentumsrecht des einzelnen«, sagt der Korporal.

»Mit dem Recht des zuletzt Gekommenen«, platzt der Pächter los.

»Nun müssen wir uns beeilen, die Nüsse zu enteignen«, murmeln die Jungen.

»Ich requiriere!« plappert der Nußhäher.

»Da soll mir noch einer kommen und sagen, es gebe ein Eigentumsrecht!« pfeift die Haselmaus.


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