August Strindberg
Am Meer
August Strindberg

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Elftes Kapitel

Es hatte acht Tage geregnet nach dem ersten Versuch mit der Treibnetzfischerei, die kein anderes Ergebnis gezeitigt hatte als eine kleine Szene zwischen den beiden Verlobten. Der Inspektor, der sehr gut wußte, daß es da keine Fische gab, und der die Jungen absichtlich auf falsche Fährte gebracht hatte, war an den Strand hinabgegangen, um die Heimkehrenden zu empfangen, bei welcher Gelegenheit er von seiner durch das Nachtwachen völlig aufgeriebenen Braut Idiot gescholten worden war. Als sich die Bootsleute hierüber ein stilles Grinsen geleistet hatten, fürchtete der Assistent, daß ein Sturm heraufziehen könne, und legte sich mit einem kleinen Scherz ins Mittel. Beim Mittagessen hatte der Spott über die neue Fischereimethode größere Dimensionen angenommen, und der Inspektor hatte den Zerknirschten gespielt, so daß sich Herr Blom mehrmals verpflichtet fühlte, ihn auf eine höchst verletzende Weise in Schutz zu nehmen.

Später hatte das Regenwetter die Gesellschaft im Hause gehalten, was zu einem außerordentlich intimen Zusammenleben in dem Zimmer der Damen führte, wo der Assistent die Mode einführte, schwedische Dichterwerke vorzulesen. Der Inspektor hatte anfänglich zugehört, sich dann aber zurückgezogen, indem er erklärte, daß die schwedische Poesie für Konfirmanden und Damen geschrieben sei, und daß er warten wolle, bis ein Dichter käme, der für Männer schriebe. Dann war er durch allgemeine Abstimmung als unpoetisch erklärt, was ihn freute, da es ihn der Verpflichtung überhob, bei den Vorlesungen zugegen zu sein.

Das Regenwetter hatte auch die Arbeit an der Kapelle zum Stillstand gebracht, und die Arbeiter saßen müßig in den Häusern bei den Bewohnern der Insel und traktierten mit Branntwein, wo sie zum Kaffee geladen wurden.

Der Kolporteur, der die Leute nicht auf dem gewohnten Platz um sich versammeln konnte, ging in den ersten Tagen in den Küchen umher und wollte aus der Bibel vorlesen, wurde aber mit Gleichgültigkeit empfangen und geriet in Streit mit den Arbeitern, von denen die meisten Freigeister waren. Darauf hatte er sich in seine Kammer zurückgezogen, hatte sich krank gemeldet und einen Boten mit der Bitte um mehr Chinintropfen zu dem Inspektor gesandt, nachdem er seine Bitternflasche ausgetrunken hatte. Plötzlich war er dann verschwunden, man sagte, er sei mit einem Dampfer nach Stockholm gereist.

Eines Abends war er indessen nach der Insel zurückgekehrt, in Begleitung eines Mannes, den er seinen Bruder nannte, und der ein ganzes Boot voll verschiedener Waren mitbrachte – hauptsächlich Bier –, die unten am Strande in einem der Schuppen ausgepackt wurden, in dessen geöffneter Tür ein Brett auf zwei Heringstonnen als Ladentisch dienen mußte, nachdem der Gemeinderat die Erlaubnis erteilt hatte, ein Hökergeschäft zu eröffnen.

Im Laufe der letzten Tage hatte die Fischerbevölkerung von den weiter nach dem Lande zu gelegenen Schären angefangen, sich hier draußen zu sammeln. Und nun wurde ein Schuppen nach dem andern geöffnet, und ganze Familien quartierten sich dort ein. Die Hütten füllten sich allmählich mit Freunden und Verwandten, und überall auf der Schäre herrschte ein Leben, das in grellem Gegensatz zu der gewöhnlichen Einsamkeit stand.

Da die Schäre mit dazugehörigen Fischgründen einem Privatmann auf dem Festlande gehörte, bezahlte jedes Boot eine gewisse Abgabe, die von einem zu dem Zweck ausgesandten Verwalter eingefordert wurde. Mit diesem war der Inspektor gleich in Uneinigkeit geraten infolge seiner Agitation für die Treibnetzfischerei, die zur Folge haben würde, daß die Fischerei auf den Gründen und gleichzeitig damit auch die bisher entrichtete Abgabe aufhören würde. Aber auch diesen scheinbar ungünstigen Umstand hatte Borg zu seinem Vorteil auszunutzen gewußt, denn der Verwalter, der durch den Widerstand gegen das Neue veranlaßt wurde, mit Hilfe von Branntwein Propaganda für das Alte zu machen, würde infolgedessen den dunkeln Hintergrund bilden, von dem sich die Ergebnisse der Treibnetzfischerei noch glänzender abheben würden. Und Borg war jetzt seines Sieges völlig sicher, nachdem er zu allen Zeiten, bei Tage wie bei Nacht, Wasserproben genommen, den Draggen durch den Grund gezogen, mit der Aalgabel gestochen und die Tiefen mit seinem Wasserfernrohr untersucht hatte, um Kenntnis darüber zu erlangen, wo der Schwarm ging.

Alle diese Einzelheiten interessierten ihn indessen nur insofern, als sie dazu dienten, seine Energie zu künftigen Kämpfen in Atem zu halten, und ihm das Machtgefühl wiedergaben, ohne welches das Leben unerträglich für denjenigen wird, der im Besitz mehr als gewöhnlicher Kräfte ist, die, wenn sie nicht verwendet werden, leicht verloren gehen.

Und in dem Zeitraum, der seit der Ankunft des Assistenten verstrichen war, hatte die Arroganz, die ihm von seiten der Jungen erwiesen wurde, ihn nach und nach an die Rolle eines Untergeordneten gewöhnt, so daß er nahe daran war, sich dahineinzuleben, um so mehr, als er nicht selbst brechen wollte, es aber für notwendig hielt, den Bruch hervorzurufen, so daß er von ihr ausging. Zwischen den beiden Jungen herrschten nämlich Sympathie auf allen Gebieten, und er hatte gesehen, wie die reife Frau sofort dasselbe Niveau einnahm wie der unreife Mann, dessen nicht voll ausgetragene Gedanken und improvisierte Ansichten sie für den Gipfelpunkt der Weisheit hielt. Jeder Versuch von seiten Borgs, einer Dummheit entgegenzuarbeiten, strandete an des Paares Mangel an Fähigkeit, die Glieder in einer Vernunftschlußfolgerung zusammenzuhalten, denn sie dachten ausschließlich unter dem Einfluß des Triebes einander zu besitzen. Er wollte keinen Wettstreit in Akrobatenkünsten oder Lobpreisung des niedriger gestellten Geschlechts aufnehmen, denn es lag gerade in seinem Plan, ausgestochen zu werden und einer Verbindung, die seine ganze künftige Existenz bedrohte, ein vollständiges Ende zu machen. Und diese Biandrie, unter der er lebte, indem er, wenn er ein seltenes Mal mit seiner Braut allein war, nur den Reflex eines andern empfing, dessen Atem er auf ihren Lippen fühlte, dessen Kindereien er aus ihrem Munde widertönen hörte, dies alles hatte ihn schließlich mit Ekel für ein Verhältnis erfüllt, das an eine Ménage à trois erinnerte. Die Eingebildetheit des jungen Mannes kannte nun auch keine Grenzen; er war dem wilden Wahn verfallen, daß er über dem Inspektor stand, weil er auf gleichem Fuß mit Fräulein Maria stand, die sich wiederum die Miene gab, über dem Inspektor zu stehen. Zu diesem Ergebnis gelangte er nach der sehr richtigen Formel: wenn A größer ist als B, und C ebenso groß ist wie A, so ist C auch größer als B – ohne jedoch zuvor zu untersuchen, ob A auch in Wirklichkeit größer war als B.

Borg hatte nie geglaubt, daß er jemals das Geheimnis der Jugend so klar an den Tag gelegt finden würde, wie es ihm hier gleichsam auf einem Präsentierteller gereicht wurde; und wie erkannte er nicht sich selbst wieder aus zurückgelegten Stadien!

Wie hatte er nicht vor Hunger und Brunst geweint, Weltschmerz aus Mißgunst gegen die Älteren empfunden, die bereits erreicht hatten, was er erstrebte, eine drückende Mißgunst, durch die sein Mitempfinden mit allen Unterdrückten und Kleinen geweckt worden war! Diese Unfähigkeit, seine Kräfte zu beurteilen, die auf einem Vorgreifen an dem beruhte, was in einem ganzen langen Leben ausgerichtet werden sollte, wenn man sich das in einer einzigen Handlung konzentriert dachte! Alle diese Sentimentalität, die nur von unbefriedigten Trieben herrührte! Dieses Überschätzen der Frau, während noch die Kinderstubenerinnerungen an die Mutter in frischem Andenken waren! Diese schlaffen Halbgedanken des noch weichen Gehirns unter dem Druck von Blut- und Samengefäßen! Er erkannte sogar diese Ansätze zu gutem Verstand wieder, die unter der Form primitiver, tierischer List so oft für höhere Weisheit gehalten wurden, aber nichts weiter waren als die einfachen Versuche des Fuchses, schlau zu sein, und die daher eine so täuschende Ähnlichkeit mit der berühmten Weiberlist, mit der List der Geistlichen, mit dem Advokatenkniff hatten.

Der junge Mann hatte nämlich auch versucht, Gedankenlesungen an dem Inspektor vorzunehmen, und dadurch seine Vermutung verraten, daß sich dieser mit gefährlichen Geheimnissen trug, da er so verschieden von andern Menschen war. Aber er hatte sich so ungeschickt benommen, daß der Inspektor Klarheit über alles bekommen hatte, was man da unten bei den Damen über ihn sprach und dachte, und statt nur eine einzige Aufklärung zu geben, hatte er durch seine Antworten den jungen Mann in dem Maße mystifiziert, daß sich dieser den Kopf zerbrach, um ausfindig zu machen, ob der Nebenbuhler ein Dummkopf war oder eine dämonische Natur. Unter Dämonisch verstand er eine selbstbewußte Person, die unter dem Schein der größten Naivität mit Berechnung handelte, die stets auf ihrem Posten war, und die versuchte, die Geschicke der Menschen nach ihren Plänen zu lenken. Und da der Begriff Berechnung, der eine Tugend ist, immer einen schlechten Klang bei den Jungen gehabt hat, die nicht die Folgen einer Handlung berechnen können, so nahm sein Neid die Form der leidenschaftlichen Lust des Unterlegenen an, herabzuziehen und unter die Füße zu treten.

So stand das Verhältnis an dem großen Tage, wo die ganze wirtschaftliche Existenz der Schärenbewohner für den kommenden Winter entschieden werden sollte.

Der Augustabend ruhte bettwarm über der Schäre, deren Klippen und Steine noch, nachdem die Sonne untergegangen, so erhitzt waren, daß sich der Tau nicht darauf halten konnte. Das Meer breitete sich flach und lavendelgrau da draußen aus, wo der Vollmond kupferrot hervorbrach und gerade diesen Augenblick halb verdeckt wurde von einer Brigg, die aussah, als segele sie mitten auf des Trabanten mare serenitatis. Näher dem Strande zu sah man alle die ausgelegten Netzbaken in einer Reihe gleich Scharen von Seevögeln auf der Dünung schaukeln.

Und während die Leute das Anbrechen des Morgens erwarteten, um die Netze zu bedienen, hatten sie sich um kleine Feuer mit Kaffeekesseln und Branntweinflaschen am Strande gelagert. Im Packhaus oder Schuppen, wo der Höker Bier verkaufte, hatte der Laienprediger an der Seite des Bruders Platz genommen, um ihm bei dem starken Zuspruch zur Hand zu gehen; man sah ihn mit einer blauen Schürze um den Leib Bierflaschen aufziehen wie ein alter, geübter Schenkwirt.

Der Inspektor, der ausgegangen war, um Stromrichtung, Temperatur und Barometerstand zu beobachten, wanderte jetzt auf dem Sandstrand umher, um seine Gedanken auszuruhen. Hin und wieder stieß er auf ein Paar, das hier die Einsamkeit suchte. Die fast unbegreifliche Naivität, die sie an den Tag legten, veranlaßte ihn, von Ekel erfüllt, den Rücken zu wenden. Weiter draußen auf der Landzunge kletterte er auf die Klippe, um den gewohnten Sitzplatz einzunehmen, auf dem er zu ruhen pflegte. Es war dies ein von den Wellen vollständig glattgeschliffener Lehnstuhl, noch warm wie ein Ofen von der brennenden Sonne des Tages.

Er hatte dort eine Weile gesessen und sich von den Seufzern der Dünung einlullen lassen, als er den Sand unter ihm am Uferrande knirschen hörte. Es raschelte in dem sonnengedörrten Tang, und er sah den Assistenten und seine eigene Braut langsam dahergewandert kommen, sich gegenseitig mit den Armen umschlungen haltend. Sie blieben zwischen dem unsichtbaren Zuschauer und der von dem Mondlicht draußen auf der See gebildeten Straße stehen, so daß er ihre Gestalten sich so scharf abheben sah, als habe er sie zwischen dem Objektiv und dem Spiegel des Mikroskops. Und er sah mit dem von Antipathie geschärften Blick ihr Raubvogelgesicht sich gegen seinen großen Affenkopf mit den mächtigen Wangen lehnen, die keinem anderen als einem Trompeter von Nutzen sein konnten, und gegen den zugespitzten schmalen Schädel ohne Stirn. Er bemerkte jetzt die überflüssigen Fleischmassen an der Gestalt des Mannes, deren unedle Umrisse mit den zu breiten Hüften, so wie bei dem Farnesischen Herkules, an eine Frau erinnerten: ein männliches Ideal aus der Halbtierzeit, als die Faust noch über das Großhirn herrschte, das noch nicht völlig ausgewachsen war.

Er fühlte sich gekränkt, als habe er eine Verbindung mit einem Zentauren eingegangen, fühlte seine Seele verschwägert mit einem Niedergangstyp, am Beginn eines Verbrechens stehend, das, wenn es ausgeführt wurde, seine Nachkommenschaft für künftige Zeiten verfälschen konnte, und das ihn verleiten würde, sein Leben für das Kind eines andern zu opfern, an das er seine besten Gefühle verschwenden würde, und das später, wenn es erst mit ihm verwachsen war, ihn zwingen würde, seine Erniedrigung wie einen eisernen Bolzen am Bein mit sich zu schleppen, ohne sich befreien zu können. Die Eifersucht, »das schmutzige Laster«, was war sie wohl anders als die Furcht des frischen, starken Geschlechtsinstinktes, verhindert zu werden in der lobenswerten Eigenliebe: das Beste bei dem Individuum fortzupflanzen? Und wer anders ermangelte wohl dieser gesunden Leidenschaft als der sterile Familienzuhälter, der Gattinnenkuppler, der schwache Narr, der Cicisbeo, der Halbmann, der an platonische Liebe glaubte?

Er war eifersüchtig; als sich aber der erste Zorn über die Kränkung gelegt hatte, erwachte ein unwiderstehliches Verlangen, dies Weib zu besitzen, ohne es zu ehelichen. Der Streithandschuh war hingeworfen, die Wahlfreiheit proklamiert, und er empfand Lust, den Kampf aufzunehmen, das Band zu zerreißen und als Liebhaber aufzutreten. Wenn er gesiegt hatte, konnte er ruhig seinen Gang fortsetzen in dem Bewußtsein, daß er kein Stiefkind der Natur war, das im Liebeskampf unterlegen war. Hier war ja nicht mehr die Rede von einem redlichen Wettkampf mit ehrlichen Mitteln, sondern von einem tückischen Kampf zwischen Einbrechern. Der Herausfordernde hatte die gemeine Waffe, den Dietrich, gewählt, und der Kampf galt Diebstahl. Mit einer Frau als Preis des Kampfes schwanden alle Bedenken. Das Tier war bei ihm erwacht, und die wilden Instinkte, die sich hinter dem großen Namen der Liebe verkrochen, rasten wie entfesselte Naturmächte.

Er erhob sich unbemerkt von seiner Klippe und lenkte seine Schritte heimwärts, um, wie er es nannte, sein Schicksal zu ordnen.


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