August Strindberg
Am Meer
August Strindberg

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Sechstes Kapitel

Der Inspektor hatte sich zwei Tage eingesperrt, um zu arbeiten, und als er am Morgen des dritten Tages ausging, um am Strande zu lustwandeln, begegnete er zufällig der Kammerrätin. Sie sah bekümmert aus und teilte Borg auf seine Frage nach dem Befinden der Tochter mit, daß diese unpäßlich sei.

»Das ist Mangel an Zerstreuung«, sagte er leicht hingeworfen.

»Freilich, aber was soll man hier in der Einsamkeit machen?« entgegnete die bekümmerte Mutter.

»Das gnädige Fräulein muß auf die See hinaus, muß fischen und segeln und sich gehörig herumtummeln«, verordnete er, ohne weiter über das nachzudenken, was er sagte.

»Ach ja, aber meine arme Maria kann doch nicht allein segeln.«

Da hierauf nur eins zu antworten war, sagte er:

»Wenn die Damen mit meiner Gesellschaft fürlieb nehmen wollen, so stehe ich gern zu Diensten.«

Die Mutter meinte, er sei zu gut, nahm aber das Anerbieten an. Sie wollte Maria gleich sagen, daß sie sich fertigmachen solle.

Der Inspektor ging an den Hafen hinab, um das Boot instand zu setzen, unterwegs begann er aber die Beine an sich zu ziehen, als gehe er einen Hügel hinab, wo das Gesetz der Schwerkraft seine Schritte mehr beschleunigte, als er es selber wollte. Es war ihm unangenehm, daß er so plötzlich von einer von außen her wirkenden Kraft in Bewegung gesetzt worden war, ehe er Zeit gewonnen hatte, die Sache zu erwägen, und er wollte trotz seiner Ohnmacht Widerstand leisten. Aber es war zu spät, und er ließ sich mit dem Strom treiben in dem Gefühl, daß er doch wohl imstande sein werde, das Steuer zu lenken und den Kurs zu bestimmen.

Er hatte den Klüwer auf der Jolle geheißt, das Ruder eingehängt und die Fangleine losgemacht, bereit abzusetzen, als das Fräulein und ihre Mutter an den Strand hinabkamen. Das junge Mädchen trug ein ultramarinfarbenes Kleid mit weißem Besatz und hatte eine schottische wollene Mütze auf dem Kopf, die ihr vorzüglich stand und ihr einen knabenhaften, kecken Ausdruck verlieh, ganz entgegengesetzt dem engelhaften, den sie vor ein paar Tagen gehabt hatte.

Nachdem der Inspektor sie begrüßt und nach ihrem Befinden gefragt hatte, erbot er sich, den Damen an Bord zu helfen. Das junge Mädchen nahm seine ausgestreckte Hand an und war mit einem leichten Sprung im Boot, worauf sie auf der Achterducht am Ruder untergebracht wurde; als dann aber die Hand nach der Mutter ausgestreckt wurde, erklärte diese, sie könne nicht mitkommen, da sie das Mittagessen kochen müsse. Der Inspektor, der hier wiederum überrascht war, empfand von neuem Lust, Widerstand zu leisten gegen diese sanfte Kraft, von der er gegen seinen Willen gelenkt wurde, jedoch hielt ihn die Furcht, unhöflich zu erscheinen, davon zurück, und nachdem er kurz und gut bedauert hatte, die angenehme Gesellschaft der Kammerrätin entbehren zu müssen, stieß er ab, befahl Fräulein Maria, das Ruder herumzulegen, steckte ihr die Großschot in die Hand und heißte das Segel.

»Aber ich kann ja nicht steuern,« schrie das Fräulein, »ich habe nie am Ruder gesessen!«

»Das ist keine Kunst! Tun Sie nur, was ich sage, dann werden Sie es sogleich lernen«, erwiderte der Inspektor und setzte sich vor das junge Mädchen, um ihr beim Manöverieren zu helfen.

Es wehte eine schwache Brise, und das Boot glitt bei dem Winde aus dem Hafen.

Der Inspektor hielt die Klüwerschot und unterwies anfangs die schöne Bootsführerin, griff hin und wieder um ihr Handgelenk und drückte die Ruderpinne gegen den Wind, bis sie herausgekommen waren. Fahrt bekommen hatten und den Kurs anlagen, mit dem sie, ohne zu kreuzen, geradeswegs nach den Schären hinauskommen konnten.

Die Verantwortung, die Anstrengung, das Gefühl, das Fahrzeug zu beherrschen, das das Leben zweier Menschen trug, erweckte schlummernde Kräfte in der zarten Frauengestalt, und ihr Blick, der aufmerksam der Stellung der Segel folgte, glühte von Mut und Selbstvertrauen, als sie sah, wie das Boot dem kleinsten Druck der Hand gehorchte. Machte sie einen Fehler, so verbesserte er ihn mit einem freundlichen Wort und flößte ihr Mut ein, als Steuermann fortzufahren, indem er ihre Aufmerksamkeit lobte, Schwierigkeiten aus dem Wege räumte und die ganze Sache als etwas ganz Selbstverständliches erklärte.

Sie strahlte vor Glück, begann von der Vergangenheit zu sprechen, von ihren vierunddreißig Jahren, wie sie geglaubt, den Lebensmut verloren zu haben, wie sie sich wieder jung fühlte, wie sie stets von einem Leben in Tätigkeit geträumt hatte, namentlich von einem männlichen Leben und davon, ihre Kräfte im Dienste der Menschheit, für andere opfern zu können. Sie wisse, daß sie als Frau ein Paria sei ...

Der Inspektor hörte dies alles an wie wohlbekannte Geheimnisse, als Ausdruck eines unsinnigen Bestrebens, das gleich zu machen, was die Natur absichtlich so ungleich wie möglich gemacht hat, um der Menschheit Arbeit zu ersparen; jetzt aber hierauf zu antworten, betrachtete er als unnütz, er hielt dahingegen fest an seiner Rolle als dankbarer Zuhörer, ließ sie ihre krankhaften Vorstellungen, die der frische Wind wegblies, erschöpfen. Und statt das Messer hervorzuholen und die verfilzten Garnfitzen durchzuschneiden, die ihre unklaren Gedanken ihm reichten, wollte er sich ganz einfach den Anschein geben, als sähe er sie nicht, wollte er sie beiseite schieben und die Eindrücke, die er absichtlich hervorrief, über die alte Unordnung wickeln, sie als Spule benutzen, die nur als Unterlage für neues, von seiner gefüllten Spindel gesponnenes Garn dienen sollte.

Er improvisierte in aller Eile einen Plan, wonach sie mit Hilfe des Anschauungsmaterials von lebenden Bildern, das die Schären boten, im Laufe weniger Stunden von Eindrücken erfüllt werden sollte, die scheinbar von außen kamen, und auf diese Weise wollte er das Netz seiner Seele unbemerkt über das ihre werfen und ihre Saiten in Einklang mit seinem Instrument stimmen. Durch eine Bewegung des Kopfes deutete er jetzt an, daß das Boot abfallen solle, und nachdem er die Schoten ein wenig aufgefiert hatte, hielt die Jolle vom Ufer ab und plätscherte dahin über die offene Meeresbucht. Der weite Horizont, das unendliche Lichtmeer, das sich ohne die geringste Unterbrechung ausbreitete, warfen Glanz auf das schöne Gesicht; die kleinen Züge wurden gleichsam vergrößert, halb sichtbare Falten wurden ausgelöscht, der ganze Ausdruck wurde befreit von jeder Spur von alltäglichen Sorgen, von kleinlichen Gedanken; und das Auge, das in einem Nu einen so beträchtlichen Teil des Weltkörpers überschauen konnte, schien groß zu sehen, so daß die kleine Person wuchs und ihre relative Macht fühlte. Wenn die langen Meereswellen das Boot in mächtigen Rhythmen hoben und senkten, sah er, wie das Entzücken sich mit einer leisen Andeutung von verstimmender Furcht vermischte.

Der Inspektor, der bemerkte, daß der großartige Anblick den beabsichtigten Eindruck nicht verfehlt hatte, beschloß jetzt, Text zu der schwachen Musik der Gefühlsdünungen hinzuzufügen, ihre neugeborenen Gedanken auf die große Bahn hinzulenken; er wollte die Schalen von dem schwellenden Samenkorn lösen, damit die Keime hervorkommen konnten.

»Es ist die Wirkung der weitgedehnten Fläche,« improvisierte er, »daß die Erde, die banale, die langweilige, sich wie ein Himmelskörper offenbart. Fühlt man sich nicht schon gleichsam des Himmels teilhaftig, wenn man den Gegensatz auflöst, den falschen Gegensatz zwischen Himmel und Erde, die ja eins sind, gleichwie ein Ganzes und Teile? Fühlen Sie nicht, wie Sie wachsen, wenn Sie den Wind überlisten und ihn zwingen, Sie nach rechts zu tragen, wenn er nach links will; merken Sie nicht, welche Großmacht in Ihnen wohnt, wenn Sie oben auf der Welle reiten, obwohl sie Sie mit einem Gewicht von tausend Pfund in die Tiefe hinabpressen will? Der, von dem man glaubt, daß er die Schwingen der Vögel geschaffen hat und fünfzigtausend Jahre gebrauchte, um einen Flieger zu einem Kriechtier zu machen, besaß weniger Geistesgegenwart als derjenige, der zum ersten Male Segeltuch an eine Stange befestigte und in einem Augenblick die Navigation erfand.

Ist es da so wunderbar, daß der Mensch Gott zu seinem Bilde erschaffen hat, von seinem eigenen Scharfsinn auf eine noch größere schließend?«

Das junge Mädchen, das aufmerksam seinem Erguß gelauscht hatte, betrachtete ununterbrochen sein Gesicht, als habe sie ihr eigenes einem Feuer zugewendet, um es zu wärmen; die ungewöhnlichen Worte schienen vollständig in ihre Seele niedergeschlagen zu sein und wie ein Gärungsstoff gewirkt zu haben. Betäubt, eingelullt von dem weichen, überredenden Tonfall empfing sie ohne Nachdenken die neuen Gesichtspunkte, die er ihr beibrachte bezüglich der früher für sie leblosen, einförmigen Landschaft, über den Ursprung und die Bedeutung des Lebens, und ohne einzusehen, daß ihre eigene religiöse Überzeugung begraben wurde, ehe sie noch aufgelöst war, nahm sie das Neue entgegen und stapelte es auf das Alte auf.

»Sie sprechen, wie ich noch nie jemand habe sprechen hören,« sagte sie träumend; »fahren Sie fort!«

Er schwieg und gab durch ein Zeichen dem Boot einen anderen Kurs.

Sie näherten sich der unheimlichen Vulkanbildung Svartbådans. Der glitzernd schwarze Dorit mit dem leichenbleichen Seezeichen, die sogenannte weiße Stute, nahm sich schreiend düster aus im Sonnenschein, der vergeblich bemüht war, das Schwarze und das Weiße zusammenzustimmen.

Über das Antlitz des Mädchens glitt ein Schatten, die Züge schrumpften zusammen, die Augenbrauen legten sich in Falten, als wollten sie sich senken und das bedrückende Bild verbergen. Eine merkbare Bewegung mit dem Steuer deutete an, daß sie von der Schäre abhalten wollte, aber er gab sogleich dem Boot seine frühere Richtung wieder, und mit der zusammengepreßten Kraft des Windes schoß die Jolle hinein in die Schlucht zwischen den schwarzen Klippen, wo die Wellen sie seufzend vorwärtssogen.

Es wurde still im Boot, und der Inspektor wollte nicht versuchen, die finsteren Erinnerungen zu erraten, die bei seiner Begleiterin wachgerufen wurden, sondern beschränkte sich darauf, auf das weißgebleichte Skelett eines Seevogels zu zeigen, das auf dem schwarzen Klippenabhang hingeworfen lag.

Und dann griff der Wind wieder in die Segel, füllte sie und zog das Fahrzeug auf das offene Wasser hinaus.

Sie kamen vorüber an Rönneholm mit seinem einzigen Baum und seinem Wiedehopf und näherten sich Svärdsholm, wo er sie zum erstenmal gesehen hatte. Hier landeten sie, und er führte sie den gleichen Weg, den er selbst an jenem Sonntagvormittag gekommen war, ließ sie dieselben Eindrücke fühlen, die er gehabt, führte sie in die Blumenwiese hinab und zeigte ihr zwischen den wilden Apfelbäumen die Stelle, wo er sie zum erstenmal erblickt hatte.

Sie schlug jetzt in Ausgelassenheit um, denn daß alle diese kleinen Beobachtungen sich in seinem Gedächtnis festgesetzt hatten, konnte ja bedeuten, daß sie es ihm angetan hatte. Sie lachte, als er erwähnte, wie er sie zuerst hatte husten hören, und bat ihn scherzend, auf dieselbe Stelle hinabzugehen und zu sprechen, dann wolle sie erraten, wer da sprach.

Er gehorchte, sprang den Abhang hinunter, stellte sich hinter die Mehlbeerbäume und ahmte das Brüllen eines Stieres nach.

»Aber nein! wie allerliebst er singen kann!« scherzte sie. »Das ist doch sicher ein Hottentottenschauspieler.« Der Inspektor, der Gefallen an Kindlichkeit fand und seit vielen Jahren nicht mit Kindern gespielt hatte, verharrte in der Rolle, und indem er auf die grüne Ebene vortrat, die Kehrseite des Rockes nach außen gewendet und den Kneifer auf dem einen Ohr, führte er einen improvisierten Kriegstanz aus, begleitet von einem Gesang, den er im Zoologischen Garten in Paris bei den Hottentotten gehört hatte.

Das Fräulein schien erstaunt und erfreut zugleich.

»Wissen Sie was?« sagte sie, »so gefallen Sie mir besser, denn jetzt zeigen Sie, daß Sie doch die philosophische Miene einen Augenblick ablegen und ein richtiger Mensch sein können.«

»Ist denn der Hottentott in Ihren Augen mehr Mensch als der Philosoph?« fragte der Inspektor, bereute aber sofort, daß er sie zum Nachdenken erweckt hatte, brach einen Zweig von dem Baum ab und wand einen Kranz, den er ihr reichte, die ein wenig verstimmt geworden war, als es ihr klar wurde, daß sie eine Erzdummheit gesagt und sich verraten hatte.

»Jetzt sollen Sie das Opfertier bekränzen, Fräulein Maria!« sagte der Inspektor. »Ich wollte, ich wäre hundert statt eines und dürfte als Hekatombe für Sie zur Schlachtbank gehen.«

Er sank auf die Knie und empfing den Kranz von der besänftigten Schönheit, worauf er an den Strand hinablief und sie hinter ihm drein.

Unten am Ufersaum blieben sie stehen.

»Wollen wir ›Butterbrot werfen‹?« schlug er vor.

»Gern«, erwiderte sie und suchte nach einem flachen Stein.

Und dann ließen sie die Steine über das Wasser hintanzen, bis sie warm wurden.

»Wollen wir baden?« rief sie plötzlich aus, als habe sie lange über einem Gedanken gebrütet, der unwiderstehlich bestrebt gewesen war, hervorzubrechen.

Der Inspektor wußte nicht, was das bedeuten sollte, ob es ein Scherz sei, oder ob der Vorschlag ernsthaft gemeint war, mit einem gewissen Vorbehalt, zum Beispiel mit der stillschweigenden Voraussetzung, daß man einen Teil der Kleider anbehielt oder daß einer von ihnen beiden sich entfernte.

»Baden Sie nur, dann gehe ich so lange fort«, antwortete er endlich.

»Baden Sie denn nicht?«

»Nein, ich habe keinen Badeanzug hier,« erwiderte der Inspektor, »und außerdem bade ich niemals kalt.«

»Hahaha!« lachte das Mädchen, ein kaltes, unangenehmes höhnisches Lachen, das aus dem Kehlkopf kam.

»Sie fürchten sich wohl vor kaltem Wasser?« höhnte sie, »und können vielleicht nicht schwimmen?«

»Das kalte Wasser ist zu rauh für meine feinen Nerven. Aber wenn Sie ein kaltes Bad nehmen wollen, so gehe ich nach der nördlichen Spitze und nehme ein warmes.«

Fräulein Maria hatte bereits die Schuhe abgestreift und sagte mit einem Blick voller Verachtung und verletzter Eitelkeit:

»Von da aus können Sie mich wohl nicht sehen?«

»Nein, wenn Sie nicht zu weit hinausschwimmen«, entgegnete der Inspektor und entfernte sich.

Als er an den nördlichen Abhang der Insel gekommen war, suchte er sich eine Kluft aus, die durch eine Felswand von fast fünfzig Fuß Höhe gegen den Nordwind geschützt war. Der schwarze Hornblendengneis war von dem Wellenschlag poliert wie Achat und wand sich in schwachen, weichen Biegungen, die Muskeln des menschlichen Körpers glichen und sich wie ein Kissen unter den nackten Fuß schoben. Kein Windhauch drang hier herein, und die Sonne hatte sechs Stunden lang auf die dunkle Klippe gebrannt und eine erwärmte Luft hervorgebracht, deren Temperatur mehrere Grad höher war als die des Körpers, so daß die Steine fast unter den Füßen brannten. Er war unten am Boot gewesen und hatte eine Axt geholt, mit der er jetzt das trockenste Heidekraut und Riedgras abhieb, mittels dessen er ein flammendes Feuer auf der Klippe entzündete, während er sich entkleidete. Nachdem das Feuer ausgebrannt war, säuberte er die Feuerstätte wie einen Backofen, goß mit der Schöpfkelle das kristallklare Seewasser auf die erhitzten Steine und ließ den Dampf seinen nackten Körper umhüllen. Dann setzte er sich in einen der Lehnstühle, die das Meer in die Klippe ausgehauen hatte, deckte sich mit seiner Decke zu, kroch, die geschlossenen Knie unter dem Kinn, zusammen und schien in Schlaf versunken zu sein. Aber er schlief nicht, er benutzte diese Methode nur, um, wie er es nannte, »sich aufzuziehen«, indem er einige Augenblicke das Gehirn ruhen und seine Elastizität wiedergewinnen ließ. Denn der Verkehr mit den unklaren Gedanken anderer strengte ihn an; sein Gedankenmechanismus litt bei der Berührung mit dem anderer, so daß er unruhig, unzuverlässig wurde wie die Kompaßnadel, wenn sie in die Nähe von Eisen kommt. Und jedesmal, wenn er klar über etwas nachdenken oder einen Entschluß fassen wollte, brachte er seine Seele mit Hilfe eines warmen Bades in harmonische Betäubung, wiegte das Bewußtsein in einen Halbschlummer, indem er an nichts dachte. Während dieses Prozesses schien all das eingesammelte Beobachtungsmaterial zu schmelzen, und die Legierung quoll hervor, wenn er das Feuer unter dem Tiegel wieder löschte und sich zum Bewußtsein erweckte.

Nachdem er eine Weile gesessen und sich von der Sonne hatte durchwärmen lassen, erhob er sich plötzlich und stand da wie wach nach einer durchschlafenen Nacht. Seine Gedanken arbeiteten wieder, und er sah so glücklich aus, als habe er ein Problem gelöst.

Sie ist vierunddreißig Jahre, dachte er. Dies hatte ich unter dem Eindruck ihrer jugendlichen Schönheit vergessen. Hier ist der Grund zu diesem Chaos von zurückgelegten Stadien, diesen Überbleibseln von Rollen, die sie nach und nach im Leben gespielt hat, diese wechselnden Reflexe von Männern, die sie zu gewinnen und nach denen sie sich zu biegen versucht hat. Und jetzt kürzlich hat sie sicher in irgendeiner Liebesgeschichte Bankrott gespielt. Er, der alle diese zerrissenen Lappen von einer Seele zusammengehalten hatte, war seiner Wege gegangen, der Sack war geplatzt, und nun lag das alles da wie der Haufe eines Lumpensammlers.

Sie hatte Probenläppchen von Pfarrhausromantik aus dem Jahre 1850 mit Menschenerrettungsvorstellungen aus dem Anfang des Jahrhunderts vorgezeigt, Glaubenseifer aus den Zeitströmungen der »Taubenstimme« und des »Pietisten«, Zynismus aus der George Sand- und der Androgynperiode. Er war zu klug, um seine Zeit damit zu vergeuden, den Boden zu suchen in diesem Sieb, durch das so vielerlei Arten hindurchgegangen waren, ein Rätsel zu lösen, das nicht vorhanden war. Hier war nichts weiter zu machen, als aus dem Knochenhaufen das herauszusuchen, was zu der Zusammensetzung eines neuen Skeletts paßte, dem er dann hinterher lebendes Fleisch ansetzen, seinen Geist einblasen wollte. Aber dies durfte sie nicht merken, denn dann gestattete sie es nicht. Sie sollte nie entdecken, wie sie von ihm empfing, das würde nur Haß und Widerstand erwecken. Er wollte unter der Erde wachsen wie die Baumwurzel, auf die sie gepfropft werden und vor der Welt sichtbar emporsprossen und die Blüte tragen sollte, die die Leute bewundern würden. Jetzt hörte er die Möwen schreien und schloß daraus, daß sie hinausgeschwommen war. Deswegen kleidete er sich schnell an, und nachdem er seine Sachen zusammengetragen hatte, holte er unten aus dem Boot das mitgebrachte Frühstück, das er auf dem Moos unter einer niedrigen, pinienartigen Föhre aufdeckte.

Es waren nur einige wenige Gerichte, aber alles war kostbar und auserwählt und auf den Überresten einer Porzellansammlung angerichtet, die anzulegen er einmal begonnen hatte. Die Butter strahlte eigelb in einer Schlangensteinkruke mit Schraubendeckel und stand mit Eis in einem Stück Henry II Fayence. Die Keks lagen auf einer durchbrochenen Schüssel aus Mariaberg und die Sardellen auf einer Untertasse von blaugewürfeltem Nevers. Die Angst vor der überall in die Kunst, die Industrie und das tägliche Leben eindringenden Banalität hatte den Besitzer in das moderne Suchen nach dem Ungewöhnlichen hinausgezwungen; die schreckliche Trivialität der Jetztzeit und der Haß gegen das Originale hatten ihn, wie so viele andere, in das Raffinierte hinausgejagt, um die Persönlichkeit davor zu bewahren, in dem großen Rollsteinstrom flach geschliffen zu werden. Seine fein entwickelten Sinne suchten nicht die gewöhnliche Schönheit in Form und Farbe, die so leicht altert, er wollte in dem, was ihn umgab, Geschichte sehen, Weltereignisse. So erweckte diese Scherbe von Henry II Fayence mit ihrem schneeweißen Pfeifenton mit Rot, Schwarz und Gold gesprenkelt Erinnerungen an die schöne Loirelandschaft mit den Renaissanceschlössern, und diese Goldornamente in Buchbinderstil erinnerten an die Burgfrau Helène de Genlis und ihren Bibliothekar, der zusammen mit einem Töpfer einen Stil schuf, einen ganz persönlichen, der jedoch nicht umhin konnte, sein Kolorit aus dem Zeitalter der Ritterzeit zu empfangen, wo man Schönheit im Leben ehrte, und wo das Handwerk selbst sich Wissenschaft und Kunst unterordnete, das Vorteilhafte einer Rangordnung des Geistes einsehend.

Als er fertig war und sein Werk besah, war es, als habe er ein Stück Kultur in diese halb arktische Einöde hinaufgetragen: Sardellen aus der Bretagne, Kastanien aus Andalusien, Kaviar von der Wolga, Käse aus den Gruyèrealpen, Wurst aus Thüringen, Keks aus England und Apfelsinen aus Kleinasien. Dazu kam eine korbumflochtene Flasche Chiantiwein aus Toskana, der aus Fußgläsern mit Frederik des Ersten Namenszug in Gold getrunken werden sollte; das alles bildete ein buntes Durcheinander, ohne nach Sammler oder Museum zu schmecken; kleine Farbenklekse hier und da hineingeworfen, Blumen als Souvenirs zwischen den Blättern eines Reisehandbuches gepreßt, nicht aber in einem Herbarium.

Jetzt hörte er die Stimme des Fräuleins von dem Badeplatz her »Hallo« rufen. Er antwortete, und kurz darauf trat sie aus dem Gebüsch hervor, aufrecht, frisch, strahlend von Gesundheit und Lebenslust. Als sie das ausgetafelte Frühstück erblickte, lüftete sie die Mütze und verbeugte sich scherzend, gegen ihren Willen aber imponiert von dem Vornehmen in der Anrichtung.

»Sie sind ein Zauberer,« sagte sie, »gestatten Sie mir, Ihnen mein Kompliment zu machen!«

»Nicht für so wenig«, erwiderte der Inspektor.

»Ja, Sie deuten damit an, daß Sie noch mehr können, aber die Natur zu beherrschen, wovon Sie vorhin sprachen, das werden Sie schon nachlassen«, wandte sie in dem überlegenen, mütterlichen Ton ein.

»Mein gnädiges Fräulein, ich drückte mich nicht so kategorisch aus; ich erinnerte nur daran, daß wir teils gelernt haben, die Naturkräfte zu überwinden, denen wir selbst zum Teil gehorchen müssen – beachten Sie wohl das kleine zum Teil –, und daß es in unserer Macht liegt, sowohl den Charakter einer Landschaft als auch das ganze Seelenleben ihrer Einwohner zu verändern.«

»Wohlan! Zaubern Sie dann aus dieser langweiligen Granitgegend eine italienische Landschaft mit Marmorvillen und Pinien hervor.«

»Ich bin freilich kein Taschenspieler, aber wenn Sie mich herausfordern, so verspreche ich Ihnen, zu Ihrem Geburtstag in drei Wochen dieses frische Stück Natur, dessengleichen Sie vergebens in Europa suchen werden, in eine waldlose, versengte Blumenkohllandschaft nach Ihrem Geschmack verwandelt zu haben.«

»Topp! Die Wette gilt! Also in drei Wochen; und wenn ich verliere...?«

»So gewinne ich was?«

»Das werden wir zu der Zeit sehen!«

»Meinetwegen! Wollen Sie aber so lange mein Amt verwalten?«

»Ihr Amt? Was ist das? Auf dem Sofa liegen und Zigaretten rauchen?«

»Ja, wenn Sie, so wie ich, mein Amt vom Sofa aus verwalten können, dann – sehr gern. Aber das können Sie nicht, und nun sollen Sie hören, weshalb nicht, und was die Absicht mit meinem Aufenthalt hier auf der Schäre ist. Nehmen Sie erst ein Glas Wein zur Wurst!« Er schenkte von dem dunkelroten Chiantiwein in ein Glas und reichte es dem Fräulein, das es in einem Zuge leerte.

»Sie wissen,« begann er, »daß meine offizielle Aufgabe im Fischerdorf darin besteht, die Bevölkerung fischen zu lehren.«

»Das ist wirklich reizend! Sie, der Sie sich rühmen, nie eine Angelstange in der Hand gehabt zu haben!«

»Unterbrechen Sie mich nicht, ich soll sie auch nicht lehren, mit einer Stange zu fischen. Sehen Sie, die Sache ist die, daß diese Nachzügler, die wie alles Gesindel konservativ sind...«

»Was für eine Sprache ist das!« unterbrach ihn das Fräulein von neuem.

»Reine Sprache! Aus lauter Dummheit und Konservatismus sind diese Ureinwohner auf bestem Wege, ihre Stellung als fischfressende Säugetiere zu untergraben, und deswegen muß der Staat sie unter Vormundschaft stellen. Der Strömling – der die wichtigste Nahrungsquelle dieser Autoktonen bildet, droht zu entschwinden. Dies betrifft freilich auf keine Weise mich, denn ob einige Hundert Fischfresser mehr oder weniger eine überflüssige Völkerhorde vermehren oder vermindern, ist für das große Ganze völlig gleichgültig. Aber jetzt sollen sie leben, weil der Staat es wünscht, und deswegen soll ich sie daran hindern, so viel zu fischen, wie sie es jetzt tun, d.h. zum Lebensunterhalt. Erkennen Sie diese Logik an?«

»Das ist unmenschlich, aber Sie sind ja auch eine Henkernatur.«

»Ich habe deswegen auch auf eigene Hand, ohne weder einen Vasaorden noch einen Dank zu verlangen, eine neue Erwerbsquelle gefunden, die die alte ersetzen soll; denn selbst wenn der Strömling hier eine Reihe von Jahren zusammenströmen sollte, so wird dieser Ernährungszweig dennoch von einem Konkurrenten bedroht, der sich nach hundertjähriger Ruhe noch fürchterlicher erhoben hat denn je zuvor. Haben Sie gehört, daß sich der Hering zum Herbst wieder bei Bohuslén zeigen wird?«

»Nein, ich hatte lange keinen Brief von ihm!«

»So – aber das tut er nun trotzdem. Deswegen müssen wir mit dem Strömling aufhalten und statt dessen Lachs fischen.«

»Lachs? In der Tiefe des Meeres!«

»Ja! Der muß da sein, obwohl ich ihn noch nicht gesehen habe! Sie sollen ihn finden!«

»Aber wenn er nun nicht da ist?«

»Ich sage Ihnen ja, daß er da ist! Sie sollen nur die ersten fangen, dann ist die Lachsfischerei eröffnet.«

»Aber woher wissen Sie denn, daß wirklich Lachs da ist, wenn Sie ihn nicht gesehen haben?« wandte das Fräulein ein.

»Aus einer Menge Untersuchungen, die zu weitläufig sind, um unterhaltungsweise erörtert zu werden, und die teils draußen auf See vorgenommen sind...«

»Einmal!«

»Ich arbeite ebenso schnell wie zwanzig andere, dank meiner ungewöhnlichen Intelligenz – teils auf meinem Sofa, hauptsächlich aber in den Büchern. Kurz: wollen Sie dabei behilflich sein, die Bevölkerung zu verderben, zuerst mit Lachs und hinterher mit dem Missionshaus, das Sie vergessen zu haben scheinen?«

»Sie sind ein Dämon, ein Teufel«, rief das Fräulein mitten zwischen Scherz und Ernst aus.

Der Inspektor, der nur in einer augenblicklichen Laune zu dem Skeptischen übergegangen war, nun aber fand, daß es dasjenige war, was am meisten Eindruck machte, hielt es für das beste, in der Rolle zu verbleiben.

»Sie glauben sicher nicht an Gott?« fragte das Fräulein mit einer Miene, als wolle sie ihn für ewig verabscheuen, wenn er das einräumte.

»Nein, das tue ich nicht.«

»Und Sie wollen Ansgarius spielen und das Christentum auf der Schäre einführen?«

»Und den Lachs! Ja, ich will ein dämonischer Ansgarius sein. Aber wollen Sie nun nicht doch die Lachsschnüre auslegen und von den Revisoren des Reichstags gesegnet werden?«

»Ja, ich will für diese Bevölkerung arbeiten, an die ich glaube; ich will meine schwachen Kräfte für die Unterdrückten opfern und werde Ihnen beweisen, daß Sie ein blasierter, verlebter Mensch sind, ein Spötter... Nein, das sind Sie doch nicht, Sie geben sich das Aussehen, schlimmer zu sein, als Sie sind, denn in Wirklichkeit sind Sie ein gutes Kind, das habe ich Sonntag gesehen...«

Sie sagte dies von dem guten Kinde scheinbar, weil sie sicher darauf rechnete, daß er auf den Köder anbeißen und sich als Kind, gleichgültig ob gut oder schlecht, unter sie stellen würde. Aber er hatte nun schon Geschmack an dem Dämon gewonnen, als dem Überlegeneren, Interessanteren, und hielt deswegen an der dankbareren Aufgabe fest. Freilich wußte er aus Erfahrung, daß die leichteste Art, wie man sich bei einer Frau einschmeicheln kann, ist, sie Mutter spielen zu lassen mit all der daraus folgenden Freiheit zu Vertraulichkeit. Das war aber ein so abgedroschenes Spiel und konnte leicht zu einer unausrottbaren Prahlerei von ihrer Seite führen. Dann viel lieber ihr die Erlöserrolle überlassen, in der nichts absolut Übergeordnetes lag, sondern nur der Gottesmutter vermittelnde Stellung zwischen zwei gleichstarken Mächten.

Aber der Übergang war nicht so leicht zu finden, und in einem Anfall von Überdruß bei dieser ganzen Komödie, die doch notwendig war, wenn er sein Ziel erreichen sollte, und das wollte er, tat er so, als müsse er hingehen und nachsehen, ob das Boot richtig vertäut war, da jetzt der Wind auffrischte.

Als er an den Strand hinabgekommen war, atmete er tief auf wie nach einer Überanstrengung. Er knöpfte die Weste auf, als habe er eine eiserne Jacke getragen, kühlte seinen Kopf und warf einen sehnsuchtsvollen Blick auf das freie Meer. Jetzt würde er viel dafür gegeben haben, allein zu sein, um den Staub abschütteln zu können, der bei der Berührung mit einem niedreren Geist auf seine Seele gefallen war. Er haßte sie in diesem Augenblick, wollte sie los sein, wieder er selbst sein, aber es war zu spät! Das Spinngewebe hatte sich in seinem Gesicht festgesetzt, seidenweich, schleimig, unsichtbar, und war nicht wieder wegzukriegen. Und gleichzeitig – als er sich umwandte und sie sitzen und eine Kastanie mit langen Fingern und scharfen Zähnen schälen sah, wodurch sie an einen Mandrill erinnerte, den er in einer Menagerie gesehen hatte – erfaßte ihn ein unendliches Mitleid, ein Hauch des Weltschmerzes, den der Glücklichere empfindet, wenn er einen Unglücklichen sieht; dann dachte er an ihre Freude, ihn als Hottentotten zu sehen, ergrimmte abermals, tat sich aber Zwang an und näherte sich ihr mit der Selbstbeherrschung eines Weltmanns, indem er sie daran erinnerte, daß sie jetzt nach Hause segeln müßten, da der Wind angefangen habe aufzufrischen. Sie hatte indessen den müden, geistesabwesenden Zug bemerkt, der noch nicht aus seinem Gesicht verschwunden war, und entgegnete mit einer Schärfe, die seine Gefühle für den Augenblick völlig abkühlte:

»Sie sind der Gesellschaft überdrüssig geworden! Lassen Sie uns aufbrechen!«

Als er jedoch nicht mit einer Höflichkeit antwortete, fuhr sie bewegt fort, ob wirklich oder erkünstelt, war schwer zu entscheiden:

»Verzeihen Sie mir, ich bin schlecht! Aber so bin ich geworden, und ich bin undankbar! So, nun wissen Sie es!«

Sie trocknete die Augen und begann mit der geübten Hand einer Hausfrau, die Teller und Schüsseln zusammenzusammeln.

Und jetzt, wo sie sich über Reste und beschmutzte Teller beugte, die Serviette wie eine Schürze um die Taille geknüpft, und das Porzellan an den Strand hinabtrug, um es abzuspülen, eilte er herzu, um sie von der Last zu befreien, getrieben von einem unwiderstehlichen Wunsch, sie nicht in Gestalt einer Dienerin sehen zu müssen. Er fühlte sich unangenehm berührt, sich von ihr aufwarten zu lassen, die er hoch über sich erheben wollte, während sie gleichzeitig zu ihm aufsehen sollte als zu dem, der ihr die Macht über sich gegeben hatte.

Während des Scheinkampfes, der entstand, wer der Diener des andern sein sollte, ließ sie das Porzellan fallen. Es entfuhr ihr ein Schrei, aber nachdem sie das Zerbrochene gemustert hatte, klärte sich ihr Gesicht auf.

»Welch Glück, daß es lauter alte Sachen waren! Gott, wie ich mich erschrocken habe!«

Er erstickte seinen kleinlichen Verdruß über den Verlust, indem er sich sogleich auf ihre Seite stellte als diejenige, die das Unglück betroffen; und froh, einen so lärmenden Abschluß für die widerstrebenden Stimmungen bekommen zu haben, die ihn zerrissen, ließ er die Scherben wie vorhin die flachen Steine über das Wasser tanzen und rundete die zugespitzte Lage ab mit einem scherzenden:

»Jetzt brauchen wir nicht abzuwaschen, Fräulein Maria!«

Worauf er die Hand ausstreckte, um sie in das Boot hinüberzuführen, das schon unter dem Plätschern der aufkommenden See dalag und in die Fangleine einruckte.


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