August Strindberg
Am Meer
August Strindberg

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Drittes Kapitel

Der Wind war in der Nacht nach Nordost herumgegangen und hatte das Eis aus dem Alandsmeer in das Fahrwasser bei der Schäre hineingetrieben, als der Fischereiinspektor mit der Jolle hinausfuhr, um die vorbereitenden Untersuchungen bezüglich der Beschaffenheit des Meeresbodens, der Tiefe des Wassers, der Flora und Fauna des Meeres anzustellen.

Der Lotse, den er als Rudergast mitgenommen, hatte es bald satt, Aufklärungen mitzuteilen, als er sah, daß der Inspektor mit Hilfe von Seekarte, Lot und verschiedenen andern Instrumenten selbst Dinge herausfand, an die die Lotsen niemals gedacht hatten. Wo die Gründe lagen, wußten sie, und auf welchem Grund sie die Strömlingsnetze aussetzen sollten, ebenfalls. Aber damit gab sich der Inspektor nicht zufrieden, zog sein Schleppnetz über verschiedene Tiefen und fischte kleines Gewürm und Pflanzenschleim herauf, wovon der Strömling seiner Ansicht nach lebte; er lotete, nahm Proben von dem Lehm, Sand, Schlamm, von der Erde und dem Kies des Meerbodens hinauf, die er sortierte und numerierte und in kleine Gläser mit Aufschriften legte.

Und schließlich holte er ein großes Fernrohr heraus, das einem Sprachrohr glich, und lugte in das Wasser hinab. Das war nun etwas, was sich der Lotse niemals hatte träumen lassen, daß man das Fernrohr im Wasser gebrauchen könne, weswegen er bat, auch einmal das Auge an das Glas legen und einen Blick in das Verborgene tun zu dürfen.

Der Inspektor, der auf der einen Seite nicht Zauberer spielen wollte, aber auch nicht wünschte, durch übereilte Äußerungen zu große Hoffnungen in bezug auf das Ergebnis seiner Untersuchungen wachzurufen, beschränkte sich darauf, dem Wunsche des Lotsen zu willfahren und einige populäre Erklärungen über die lebenden Bilder hinzuzufügen, die sich vor ihm in der Tiefe aufrollten.

»Können Sie den Blasentang auf dem Grund sehen?« begann der Inspektor seine Vorlesung.

»Sehen Sie, daß er erst graugelb ist, daß er weiter unten leberbraun und schließlich am Boden rot wird? Dieser Farbenwechsel wird durch das abnehmende Licht hervorgebracht!«

Er entfernte sich einige Ruderschläge vom Grunde, beständig in Lee der Insel, um das Eis zu meiden.

»Was sehen Sie nun?« fragte er den auf dem Bauche liegenden Mann.

»Ach, Herrjemine! Ne, wer hätt' das gedacht, das sind Strömlinge! Und sie stehen so dicht, so dicht wie 'n Spiel Karten!«

»Können Sie jetzt sehen, daß der Strömling nicht immer auf seichtem Wasser geht, und verstehen Sie jetzt, daß man ihn draußen in der Tiefe wird fischen können? Und glauben Sie es jetzt, wenn ich sage, daß der Strömling niemals in den Gründen gefischt werden sollte, wo er nur hingeht, um seinen Rogen abzulegen, der dort besser von der Sonnenwärme getroffen werden kann als in dem tiefen Wasser?«

Der Inspektor ruderte weiter, bis er das Wasser blaugrün werden sah infolge der lehmigen Beschaffenheit des Bodens.

»Nun, was sehen Sie jetzt?« wiederholte er, auf den Riemen ruhend.

»Ich glaub, weiß Gott, da sind Schlangen auf dem Meeresboden! Das sind ja lauter Schlangenschwänze, die aus dem Schlamm 'rausgucken – und da sitzen die Köpfe.«

»Das sind Aale, mein Junge!« belehrte der Inspektor.

Der Lotse sah ein wenig ungläubig aus, denn noch nie hatte er von Aalen in der See reden hören; aber der Inspektor wollte seine besten Karten nicht zu früh ausspielen und auch seine Kräfte nicht mit langatmigen Erklärungen über ziemlich unklare Sachen vergeuden. Deswegen verließ er die Riemen, nahm wieder sein Fernrohr und lehnte sich über die Reling hinaus, um Beobachtungen zu machen.

Er schien mit ungewöhnlichem Eifer etwas zu suchen, nach etwas zu forschen, das dort in den und den Gründen gefunden werden sollte.

Auf die Weise ruderten sie ein paar Stunden umher. Zuweilen benutzte der Inspektor seinen Grundkratzer, zugleich mit dem Lot, und nach jeder Probe lehnte er sich mit dem Fernrohr vornüber. Seine bleichen Gesichtszüge wurden schlaff vor Anstrengung, und die Augen sanken tiefer in den Kopf hinein. Die Hand, die das Fernrohr hielt, zitterte, und der Arm fühlte sich steif an wie ein Zaunpfahl. Der kalte, feuchte Wind, der durch den Ölrock des Lotsen drang, schien der schmächtigen Gestalt, die nur mit einem halbzugeknöpften Sommerüberzieher bekleidet war, nichts anzuhaben. Seine Augen betauten sich infolge des Seewindes und der Anstrengung, scharf in das halb undurchdringliche Element hinabzusehen, in diese drei Vierteile der Erdoberfläche, von deren Leben das letzte Viertel im allgemeinen so wenig weiß und so viel errät.

Durch seinen Seekieker, den er nicht erfunden, aber teilweise nachgebildet hatte nach Beschreibungen von Brückenbauern und Arbeitern bei Unterwassersprengungen, sah er hinab in die niedere Welt, aus der sich die große Überseeschöpfung entwickelt hatte. Der Tangwald, der eben die Grenzen von unorganischem Leben zu organischem überschritten hatte, schwankte in der kalten Grundströmung und glich gekästem Eiweiß, das sich nach dem Wogen der See gebildet hatte und an die pflanzenartigen Bildungen des Wassers erinnerte, wenn es an der Fensterscheibe gefriert; breitete sich dort unten aus wie große Parks mit goldenem Laub, unter dem sich die Bewohner des Meeresbodens auf dem Bauche vorwärtsschleppten; suchte die Dunkelheit und die Kälte, um die Scham darüber zu verbergen, daß er nicht weitergelangt war auf der Wanderung der Sonne und dem Licht entgegen. Am tiefsten unten im Lehm ruht die Flunder, halb eingegraben in den Schlamm, träge, unbeweglich, ohne Erfindungsfähigkeit, eine Luftblase sich entwickeln zu lassen, um sich dadurch emporheben zu können, einen Glückszufall abwartend, der ihr die Beute gerade vor der Nase hinführen kann, aber ohne Trieb, das Glück zu suchen – dieser stumpfsinnige Fisch, der sich aus lauter Faulheit so gezerrt und gedreht hat, daß ihm die Augen schließlich auf der rechten Seite des Kopfes sitzen.

Der Tangkrebs hat vorne ein Paar Riemen ausgebracht, ist aber am Hinterteil überlastet und erinnert an die ersten Versuche, Boote zu bauen. Er zeigt zwischen dem Laubwerk des Tanges seinen architektonischen Steinkopf mit dem Knebelbart des Kroaten und hebt sich einen Augenblick vom Boden, um gleich darauf wieder in den Schleim hinabzusinken.

Der Seehase mit seinen sieben Rücken geht mit dem Kiel in die Höhe; er gleicht einer gewaltigen Nase, die nur nach Nahrung und Weibchen schnüffelt, und erhellt einen Augenblick das Wasser mit seinem rosenfarbenen Bauch, indem er da unten in der Dunkelheit eine schwache Morgenröte um sich verbreitet, begibt sich aber bald wieder zur Ruhe, seine Saugscheibe fest auf einem Stein, um den Verlauf der Millionen von Jahren abzuwarten, die den Nachzüglern auf der endlosen Bahn der Entwicklung Erlösung bringen sollen.

Der schreckliche Seeteufel, die verkörperte Wut, der den Ausdruck der Bissigkeit in dem bärtigen Gesicht trägt, und dessen Schwimmglieder zu Krallen geworden sind, mehr um seine Opfer zu peinigen als zum Angriff und zur Verteidigung, liegt genußsüchtig auf der Seite und streichelt zärtlich seinen Körper mit dem schleimigen Schwanz.

Aber höher oben, in dem helleren und wärmeren Wasser, geht der schöne, tiefsinnige Barsch, in der Ostsee vielleicht der eigentümlichste Fisch. Er ist wohlgebaut und gesetzt, aber noch ein wenig plump wie ein Fährboot, und hat die eigene blaugrüne Farbe der Ostsee und ihre nordische Gesinnung: ein klein wenig Philosoph und ein klein wenig Seeräuber, ein geselliger, oberflächlicher Einsiedler, der gern Tiefen aufsucht und sie zuweilen erreicht, oft aber träge und exzentrisch, kann stundenlang dastehen und die Steine am Strande anstarren, bis ihm etwas anderes einfällt und er dahinschießt wie ein Pfeil; er ist ein Tyrann gegen sein eignes Geschlecht, wird aber bald zahm, kehrt gern an denselben Ort zurück und bietet sieben Eingeweidewürmern Unterschlupf.

Und endlich der Adler des Meeres, der König der Ostseefische, der schlankgebaute, kuttergetakelte Hecht, der die Sonne liebt und, auf Grund seiner Stärke, die hellen Farben nicht zu scheuen braucht; der mit der Nase im Wasserspiegel steht und mit der Sonne in den Augen schläft, von der blühenden Wiese und dem Birkenwäldchen träumend, wohin er niemals kommen kann, von der blauen Kuppel, die sich über seiner nassen Welt wölbt, und wo er ersticken würde, obwohl die Vögel dort so leicht schwimmen mit ihren behaarten Brustfinnen.

Das Boot war zwischen die Eisschollen geraten, und über die Tangparks auf dem Grunde zogen die dunklen Schatten der Eisstücke wie leichte Wolken. Der Inspektor, der mehrere Stunden gesucht, aber nicht gefunden hatte, was er wollte, hob jetzt das Fernrohr aus dem Wasser heraus, trocknete es ab und legte es hin. Dann sank er auf die achterste Ducht nieder, hielt die Hand vor die Augen, als wolle er ihnen Ruhe vergönnen von allen Eindrücken, und schien einige Minuten in Schlaf gesunken zu sein; endlich gab er dem Lotsen ein Zeichen, weiterzurudern. Der Inspektor, der den ganzen Vormittag seine Aufmerksamkeit auf die Tiefe gerichtet hatte, schien erst jetzt Auge für das großartige Gemälde zu bekommen, das sich vor ihm auf der Meeresfläche entrollte. Vor dem Boot und eine Strecke weiter breitete sich die See ultramarin aus, bis das Treibeis kam und eine vollständig arktische Landschaft bildete. Inseln, Buchten und Sunde wurden wiedergegeben, wie auf einer Karte, und wo das Eis auf die Riffe hinaufgeschoben war, hatten sich Klippenfelsen gebildet, indem ein Eisblock den andern niedergedrückt hatte und der nachfolgende auf den vorhergehenden geklettert war. Auf den kleinen Werdern hatte sich das Eis ebenfalls zusammengepackt, Wölbungen gebaut, Grotten gebildet. Türme, Kirchenruinen, Kasematten, Bastionen errichtet, und das Zauberartige dieser Formationen lag darin, daß sie aussahen, als seien sie von einer mächtigen Menschenhand hervorgebracht; es waren nämlich nicht die gewöhnlichen, unbewußten, zufälligen Formen der Natur, sie erinnerten im Gegenteil an die menschliche Erfindsamkeit in entschwundenen historischen Perioden. Hier hatten sich die Blöcke aufgestapelt wie Zyklopenmauern und sich terrassenförmig geordnet wie der assyrisch-griechische Tempel; dort hatte die Welle durch fortgesetzte Schläge eine römische Tonnenwölbung ausgehauen, einen Rundbogen hervorgeätzt, der zu einem arabischen Hufeisenbogen geworden war, in dem Sonnenstrahlen und Wellenspritzer Tropfsteinformationen und Bienenzellen hervorgebracht hatten; hier hatte der Wellenschlag eine römische Wasserleitung ausgenagt, dort standen die Grundmauern zu einem Schloß aus dem Mittelalter mit Spuren von herabgestürzten Spitzbogen und Verzierungen jener Zeit.

Dieses Schwanken zwischen Gedankenverbindungen von arktischer Landschaft und historischer Architektur versetzte den Beschauer in einen eigentümlich träumenden Zustand, aus dem er durch das geräuschvolle Leben gerissen wurde, das die streichenden Scharen von Seevögeln auf den treibenden Eisinseln und auf dem klaren, blauen Wasser führten.

Die Eidervögel schwammen zu Hunderten umher und ruhten sich hier aus, während sie darauf warteten, daß oben in Norrland offenes Wasser werden würde; die unbedeutenden rostbraunen Weibchen lagen umringt von den prachtvollen Männchen, die hoch auf dem Wasser trieben, die schneeweißen Rücken gehoben, zu einem kurzen Flug, währenddessen sie ihre pechschwarze Brust zeigten. Die Lummen waren in geringerer Zahl gekommen und präsentierten ihre grauen Pelzbäuche und Schlangenhälse, sowie, wenn sie die Flügel ausbreiteten, die schachspielgetäfelten Flügelspiegel; hier sah man die Legionen der lebhaften Eisenten, in Schwarz und Weiß gekleidet, schwimmend, tauchend, flatternd; die kleinen Flüge von Seeschwalben und Seepapageien, das Streifkorps der schwermütigen, kohlschwarzen Samtenten, die grell abstechen von den glänzenderen Scharen der Sägetaucher mit Federbüschen im Nacken; und über diesem ganzen tauchenden, flatternden Vogelheer, das ein Amphibienleben führte, schwebten die Möwen, die die Luft zu ihrem Element erwählt hatten und das Wasser nur als Fischplatz und Badeort benutzten.

In diese emsige Arbeitswelt hineingesteckt, saß eine einsame Krähe halbverborgen auf der Schäre mit ihrer verdächtigen Farbe, ihren Diebesgebärden, ihrem Verbrechertyp, und war mit ihrem ganzen wasserscheuen, schmutzigen Äußern Gegenstand des Hasses der Strebsamen, wohlbekannt als Nestplünderer und Eiersauger.

Und von dieser ganzen beschwingten Welt, deren Kehlen die atmosphärische Luft über den Häuptern der Stummen dort unten im Wasser in Bewegung setzen konnten, vernahm man einen Zusammenklang von Lauten: von den ersten schwachen Versuchen des Reptils, durch Fauchen Zorn zu äußern, bis zu der Musik aus des Menschen harmonischem Tonwerkzeug. Hier zischte der Eidervogel wie eine Natter, wenn die Wildgans ihn in den Nacken beißen und unter Wasser hinabdrücken wollte, hier quakte der Sägetaucher wie ein Frosch, die Seeschwalben schrien, die Möwen kreischten mit Kinderstimmen, die Eidervögel knurrten wie Kater in der Ranzzeit, aber alle übertönend, am höchsten und schönsten, klang die wunderbare Musik der Eisvögel, denn Gesang war es noch nicht. Es war ein unreiner Dreiklang in Dur, der tönte wie das Horn eines Hirten, und wie die eine einfiel, stimmte sie mit den drei Tönen der andern in einem vollständigen Akkord zusammen, ein Kanon für Waldhorn ohne Anfang und Ende, Erinnerungen aus der Kindheit der Menschheit, aus den ersten Zeiten des Hirten und Jägers.

Nicht mit der Traumphantasie des Dichters, mit seinen dunklen und daher unruherweckenden Gefühlen und unklaren Empfindungen genoß der Beschauer das große Schauspiel; mit dem ruhigen Blick des Forschers, des wachen Denkers überschaute er den Zusammenhang in diesem scheinbaren Wirrwarr, und nur dank seiner Massensammlung von Gedächtnismaterial konnte er alle diese Dinge miteinander in Verbindung setzen. Und wenn er die Ursache zu dem unermeßlichen Eindruck suchte, die namentlich diese Natur auf ihn ausübte, und die Antwort fand, so fühlte er die ganze Freude, die der Entwickeltste in der Kette der Schöpfung erfahren muß, wenn der Schleier sich über dem Verborgenen hebt, die ganze Seligkeit, die die Geschöpfe begleitet hat auf der unendlichen Wanderung der Klarheit entgegen, und die vielleicht die Treibkraft gewesen ist vorwärts von Traum zu Wissen, – eine Seligkeit, die der eines supponierten, selbstbewußten Schöpfers gleichen muß, der gewußt hat, was er tat.

Diese Landschaft führte ihn zurück zur Urzeit, da die Erde unter Wasser stand und die höchsten Berggipfel sich über der Oberfläche zu erheben begannen; die Schären besaßen ja noch den Charakter der Urformation mit dem unverdeckten Grundgebirge.

Aber unten im Wasser, während sich gleichzeitig die Algen der Abkühlungsperiode schon eingefunden hatten, schwammen Fische der Primärzeit, und unter ihnen der älteste Sproß, der Hering, auf den Schären aber wuchsen noch Farrenkräuter und Bärlapp der Steinkohlenzeit. Weiter hinein, dem Festlande zu, zuerst auf den großen Werdern, konnte man den Föhren und den Reptilien der Sekundärzeit begegnen, und noch tiefer im Innern den Laubbäumen und Säugetieren der Tertiärzeit. Aber hier draußen in der Urformation schien die launenhafte Natur die Ablagerungszeiten übersprungen, die Seehunde und die Ottern in die Urzeit hineingeworfen zu haben und, wie zu dieser Morgenstunde, die Eiszeit gleich in die Quartärperiode hineingestopft zu haben, so wie fruchtbaren Boden auf das Urgebirge, und der Inspektor selbst saß da als Vertreter der historischen Zeit, unbeirrt durch das scheinbare Chaos, diese lebenden Bilder von der Schöpfung genießend, und den Genuß erhöhend, indem er sich im großen und ganzen als der Hervorragendste in ihrer Kette fühlte.

Das Geheimnis der Zauberkraft dieser Landschaft war, daß sie und nur sie eine historische Schöpfungsgeschichte mit Auslassungen und Verkürzungen wiedergab, mittels deren man in wenigen Stunden die Entwicklungsstadien der Erde durchmachen und zu seinem eigenen Selbst gelangen konnte, wo man sich mit einer Wiederholung von Empfindungen, die den Gedanken auf den Ursprung zurückführten, erfrischen, sich ausruhen durfte in entschwundenen Stadien, wo man die ermüdende Spannung erschlaffen lassen konnte, indem man höheren Graden auf der Kulturskala zustrebte, gleichsam zurückfallen konnte in einen gesunden Schlaf und sich eins fühlen mit der Natur. Solche Augenblicke benutzte er als Ersatz für die religiösen Genüsse, die nicht mehr für ihn existierten und in denen der Gedanke an den Himmel nur eine andere Form für den Trieb vorwärts und das Unsterblichkeitsgefühl eine verkleidete Äußerung der Ahnung von der Unvergänglichkeit der Materie ist.

Wie beruhigend war es nicht, sich heimisch zu fühlen hier auf der Erde, die ihm in den Jahren seiner Kindheit als ein Jammertal geschildert worden war, das man nur durchwandern mußte, um zu dem Unbekannten hinzugelangen; wie trostreich war es nicht, Kenntnis von dem erlangt zu haben, was früher unbekannt war, einen Einblick gewonnen zu haben in Gottes bisher geheime Ratschläge, sie durchschaut zu haben, diese Pläne Gottes, wie alles das genannt wurde, was für undurchdringlich gehalten wurde, weil man es bisher nicht hatte verstehen können. Jetzt war man zur Klarheit über den Ursprung und Zweck des Menschen gelangt, aber statt zu ermüden und sich dabei zu beruhigen, wie es die eine Kulturnation nach der andern getan hatte, wenn sie sich zunichte gedacht, faßte das jetzt lebende Geschlecht seinen Entschluß, es hatte sich damit abgefunden, das entwickeltste Tier zu sein, und versucht, auf vernünftige Weise die Gedanken an den Himmel hier unten zu verwirklichen, und daher war die Jetztzeit das größeste und beste von allen Zeitaltern und hatte die Menschen weitergebracht, als frühere Jahrhunderte es hatten tun können.

Nach dieser Andachtstunde mit den Gedanken an seinen Ursprung und seine Bestimmung ließ der Inspektor das Gedächtnis seine Entwicklungsgeschichte so weit rückwärts durchlaufen, wie er ihre Spur verfolgen konnte, um sich gleichsam zu seinem eigenen Selbst hindurchzutasten und um aus den zurückgelegten Stadien sein wahrscheinliches Schicksal herauslesen zu können.

Er sah seinen Vater, den verstorbenen Pioniermajor mit dem unbestimmten Typ aus dem Anfang des neunzehnten Jahrhunderts, einem Gemisch von Abfällen aus früheren Perioden, aufs Geratewohl aufgesammelt nach der großen Eruption am Ende des vorhergehenden Jahrhunderts. Ohne Glauben an etwas, weil er gesehen hatte, wie alles verging, alles wieder aufgenommen wurde, alle Staatsformen versucht, bei ihrem Erscheinen mit Jubel begrüßt, nach ein paar Jahren kassiert worden waren, um abermals als neue aufgestellt und wieder als Universalentdeckungen begrüßt zu werden, hatte er schließlich bei dem Bestehenden haltgemacht, als dem einzig Vernünftigen, sei es nun die Frucht eines leitenden Willens, was unwahrscheinlich war, oder ein glücklicher Zufall, was ziemlich sicher, aber gefährlich zu sagen war. Durch Universitätsstudien war der Vater in den Pantheismus der Junghegelianer hineingeraten, durch den die Sache auf die Spitze getrieben wurde, ein System, das das Individuum zu dem einzig Wirklichen machte, während Gott der Inbegriff des Persönlichen in der Menschheit wurde. Diese lebendige Vorstellung von der intimen Verbindung des Menschen mit der Natur, indem er selbst als das höchste Glied in der Weltentwicklungskette dastand, schuf ein Elitekorps von Persönlichkeiten, die im stillen die wiederholten Versuche der politischen Schwärmer verachteten, sich außerhalb der leitenden Naturgesetze zu stellen und zu versuchen, auf künstlichem Wege eine neue Weltordnung mit Hilfe philosophischer Systeme und Reichstagsbeschlüsse zusammenzuflicken. Unbemerkt gingen sie ihren eigenen stillen Weg, gleich unverwendbar für hoch und niedrig. Nach oben zu sahen sie Mittelmäßigkeiten durch natürliche Auswahl sich um den mittelmäßigen Monarchen scharen, nach unten zu stießen sie auf Unwissenheit, Leichtgläubigkeit, Verblendung, und mitten zwischen diesen beiden Extremen, bei der Bürgerklasse, begegneten sie so entschiedenen Handelsinteressen, daß sie, die selbst keine Geschäftsleute waren, nicht mit ihnen zusammenarbeiten konnten. Da sie tüchtige, kluge und verläßliche Männer waren, wurden sie zuweilen befördert, da sie sich aber keiner bestimmten Partei anzuschließen vermochten und keine Lust hatten, eine eigene, nutzlose Opposition zu errichten, da sie nicht zahlreich genug waren, um eine Herde zu bilden, und sie zugleich als ausgeprägte Individualisten keinem Leithammel folgen wollten, verhielten sie sich ziemlich stumm, trugen ihr Mißvergnügen unter Großkreuzen und Sternen verborgen, lächelten wie Auguren, wenn sie einander im Rat oder in der Ständeversammlung begegneten, und ließen die Welt ihren schiefen Gang gehen.

Der Vater gehörte einem freilich nicht uralten Adelsgeschlecht an, das durch bürgerliche Verdienste, unter andern durch Förderung des Bergbaues, nicht aber durch zweifelhaften kriegerischen Ruhm, errungen durch Hilfe von Naturereignissen oder Fehlgriffen des Feindes, mit einem adligen Wappen und einigen ziemlich mäßigen Privilegien belohnt worden war, wie zum Beispiel mit der Erlaubnis, Adelsuniform zu tragen und ohne Lohn an einem Viertelteil der schweren Regierungsarbeiten teilzunehmen. Er rechnete sich also zum Verdienstadel, und das Bewußtsein, von talentvollen Ahnen entsprungen zu sein, wirkte anspornend auf den zurzeit lebenden Vertreter der Familie. Das rechtmäßige, durch Begabung und Arbeit der Vorfahren erworbene Vermögen setzte ihn auch instand, sich in seinem Fach auszubilden. Er wurde ein hervorragender Topograph, nahm teil an dem Bau des Götakanals und an den ersten Eisenbahnanlagen. Dies Arbeiten mit einem ganzen Königreich, das er sich gewöhnte – auf der Landkarte – von oben herab zu beschauen, in einem Augenblick zu übersehen, brachte ihn allmählich dazu, die Dinge groß zu betrachten. Mit einem Lineal eröffnete er neue Verbindungswege, die den Charakter der ganzen Landschaft verändern, alte Städte vernichten, neue erschaffen, Warenpreise verändern und neue Erwerbsquellen heraufbeschwören würden. Die Karte sollte verändert, die alten Wasserwege vergessen und die schwarzen, geraden Linien, die die neuen Landwege bezeichneten, die herrschenden werden. Die Höhenzüge sollten ebenso fruchtbar werden wie die Täler, und der Kampf ums Recht auf die Flüsse sollte aufhören, die Grenzen zwischen Ländern und Reichen sollten nicht mehr gespürt werden.

Dieses Tummeln mit den Geschicken von Ländern und Bevölkerungen hatte ein starkes Gefühl von Macht im Gefolge, und der Vater konnte es nicht vermeiden, allmählich von der mit der Macht im Bunde stehenden Neigung, sich selbst zu überschätzen, ergriffen zu werden. Alles begann, sich ihm in der Vogelperspektive abzuspiegeln: die Länder wurden zu Landkarten, die Menschen zu Zinnsoldaten; wenn der Topograph im Laufe einiger Wochen Höhen nivellierte, die Jahrtausende nicht zu senken vermocht hatten, fühlte er etwas von der Macht des Schöpfers in sich; ließ er Tunnel sprengen, Sandmeiler in die See hinausschaffen oder Moore austrocknen, so entging er nicht dem Gefühl, die Neubildung der Erdkugel übernommen zu haben, indem er die durch Gesetze festgestellten geologischen Formationen umstürzte, und hierdurch wuchs sein Persönlichkeitgefühl unglaublich.

Hier hinzu kam noch seine Stellung als Offizier an der Spitze eines großen Korps von Untergebenen, die seine Mitteilungen nur in Form von Befehlen empfingen und die so als diensttuende Muskeln für sein wollendes, großes Gehirn betrachtet wurden.

Mit dem Mut und der Energie des Militärs, der Gründlichkeit des Gelehrten, der Besonnenheit des Denkers, der Ruhe des ökonomisch Unabhängigen und der Würde und Selbstachtung des redlichen Mannes gab er einen Typ ersten Ranges ab, in dem Schönheit und Klugheit einen Bund geschlossen hatten, aus dem eine würdige, harmonische Persönlichkeit hervorging.

In diesem Vater erhielt der Sohn, da die Mutter früh gestorben war, sowohl einen Lehrer als auch ein Vorbild. Um den Sohn vor den bittern Stunden der Enttäuschungen zu bewahren, und die ganze gewöhnliche Erziehungsmethode mißbilligend, die mit Märchenbüchern und schreckeinjagenden Erzählungen die Kinder zu Kindern statt zu Männern erzog, öffnete er sofort den Vorhang zu dem Tempel des Lebens und weihte den Jungen in seine Lehren ein. Er lehrte ihn die innere Verbindung zwischen dem Menschen und der übrigen Schöpfung, wie allerdings der Mensch am höchsten auf seinem Planeten stand, doch aber fortfuhr im Mittelpunkt zu stehen, bis zu einem gewissen Grade imstande, die Wirkungen der Naturkräfte zu begrenzen und doch von ihnen gelenkt, also ein vernünftiger Naturkultus, wenn unter Natur alles Existierende verstanden wird und mit Kultus eine Anerkennung, daß man von den herrschenden Naturgesetzen abhängig ist. Dadurch nahm er den Größenwahn des Christentums fort, die Furcht vor dem Unbekannten, vor dem Tode und vor Gott, und bildete einen klugen und auf seine Handlungen achtenden Mann, eine für seine Taten verantwortliche Persönlichkeit. Den Regulator für die niederen Triebe des Menschen fand er im Großhirn, dem Organ, das durch seine größere Vollkommenheit den Menschen von dem Tier unterscheidet. Die Urteilskraft, auf allseitiges Wissen begründet, sollte die niederen Triebe lenken und wenn nötig unterdrücken, um den Typ auf der Höhe zu erhalten. Ernährung und Fortpflanzung waren die niedrigsten Triebe, weil sie Menschen und Pflanzen gemein waren; die Gefühle, wie die niederen Gedankenrudimente der Tiere genannt wurden, mußten, da sie auf Blutgefäße, Rückenmark und andere von den niederen Organen beschränkt waren, bei einem Menschen des höheren Typs zweifellos dem Großhirn untergeordnet werden, und die Individuen, die ihre niederen Triebe nicht regeln konnten, sondern mit dem Rückenmark dachten, gehörten den niedrigsten Formen an. Deswegen warnte der Alte vor dem Glauben an jugendliche Begeisterung, die ebenso leicht zum Verbrechen wie zur Tugend führen konnte. Dies schloß jedoch nicht große, der menschlichen Gesellschaft nützliche Leidenschaften aus, die nichts mit den Gefühlen zu schaffen hatten, sondern mächtige Äußerungen des Willens zum Guten waren. Alles, was die Jugend leisten konnte, war vollständig wertlos, da es ihr in der Regel an Ursprünglichkeit gebrach und es nur die reinen Gedanken der älteren Vorgänger waren, die von der nachfolgenden Jugend aufgenommen wurden und die diese mit großen Gebärden als ihre eigenen herausgeben wollte. Originalität konnte nämlich nur entstehen, wenn das Gehirn reif war, so wie wirkliche Verpflanzung mit dazugehöriger Erziehung des Nachwuchses nur stattfinden konnte, wenn der Mann mannbar war und die Fähigkeit besaß, Mittel zu der Erziehung des Kindes zu beschaffen. Und ein sicheres Zeichen für die mangelhafte Urteilsfähigkeit des unreifen Gehirns war der ständige »Größenwahn«, in dem Jugend und Frauen lebten. Man pflegte zu sagen, die Jugend habe die Zeit vor sich, aber diese Behauptung war höchst hinfällig, da das Mannesalter ein geringeres Sterblichkeitsprozent aufwies als die Jugend, und die wenig witzige Antwort, daß, wenn die Jugend ein Fehler ist, dieser mit den Jahren vergehe, so stieß das nicht die Regel um, daß die Jugend ein Gebrechen ist, ein Mangel, folglich ein Fehler, dessen Vorhandensein eingeräumt wird durch die Äußerung, daß er vergehen könne, denn was nicht existierte, konnte natürlich auch nicht verschwinden. Alle Angriffe der Jugend auf das Bestehende waren hysterische Äußerungen von des Schwachen Mangel an Fähigkeit, Druck zu ertragen, und zeugten von ebensowenig Klugheit wie die der Wespe, die einem sichern Untergang entgegengeht, wenn sie den Menschen angreift. Als guten Beweis für der Jugend Mangel an Urteilskraft und die Folgen davon hob er das Buch Robinson Crusoe hervor, das mit der offenbaren Absicht geschrieben sei, den Naturzustand und das Einsiedlerleben herabzusetzen, und doch mehr als ein Jahrhundert lang von der Jugend mißverstanden worden war als Lobgesang auf das Leben der Wilden, das gerade in dem Buch als Strafe für den dummen Jungen hingestellt wird, der wie ein Wilder die Gaben der Kultur mißbraucht hatte. Und dieser kleine Zug zeigt wiederum die niedere ontologische Form, die der Jüngling vertrat. Sie offenbarte sich in seiner Sympathie für Indianer und andere in der Entwicklung Zurückgebliebene, so wie die Gefühle, die einmal abgeschlossen werden sollen gleich der Schilddrüse, die bei dem Menschen außer Gebrauch gekommen ist, aber trotzdem noch auf ihrem alten Platz sitzt.

Da der Sohn diese bitteren Wahrheiten nicht mit Vernunftgründen widerlegen konnte, sondern äußerte, daß seine Gefühle, ja seine heiligsten Gefühle sich gegen diese trockene Lehre empörten, erklärte der Vater ihn für eine Wespe, die noch nicht anders als nur mit dem Nervengewebe denke. Und er warnte ihn vor den Ausschweifungen der Phantasie oder den Schlußfolgerungen auf unzureichender Grundlage, aus Mangel an großem Material, nicht zu verwechseln mit wissenschaftlichem Schnellschluß, der aus scheinbar wenig Prämissen (die wenig scheinen, weil man die Bindeglieder vergißt) neue Ergebnisse ziehen könne, in denen zwei ältere Auffassungen gleichsam durch eine chemische Vereinigung ineinander aufgehen und einen neuen Gedanken bilden. Die Ontogenie hatte ja bewiesen, wie die Menschenfrucht alle Stadien von der Amöbe durch den Frosch zum Menschenaffen durchlebte; wie konnte da die Jugend bezweifeln, daß der Menschengeist beim Kinde die Entwicklung des Menschen durch das Tier und den Wilden durchmachen mußte, und weiter vorwärts, solange der Körper wuchs, und daß folglich der Mann viel höher stand als der Jüngling. Namentlich warnte er davor, die Reflexion durch den niedrigsten der Triebe, den Geschlechtstrieb, trüben zu lassen, der infolge seiner Stärke so lange die gesunde Vernunft verblendet hatte, daß aufgeklärte Männer noch unter dem Aberglauben litten, daß der Frauentyp ebenso hoch stehe wie der männliche, ja nach Ansicht einiger noch höher, obwohl die Frau nur eine intermediäre Form zwischen Mann und Kind sei, was hinreichend aus der Lehre von der Leibesfrucht hervorging, infolge deren der Mann in einem Stadium Frau war, die Frau dahingegen niemals Mann. Den Jungen vor der Übermacht der Geschlechtsimpulse zu warnen, war dasselbe wie einen Schatten auf die Frau zu werfen, und der Sohn begann denn auch bald, wie der Vater es nannte, Nervenschlüsse zu ziehen, die darauf hinausgingen, daß der Oberstleutnant Frauenhasser war. Und wie konnte er auch anders, wenn er beständig von dem Vater Erzählungen darüber hörte, wie bald der eine, bald der andere durch Frauenzimmergeschichten seine Zukunft ruiniert hatte, wie große Begabungen ihre Talente durch Zeugung vergeudet. Glück und Wirksamkeit einer Gattin geopfert hatten, die treulos war, und Kindern, die jung gestorben. Die Fortpflanzung war Sache der kleinen Geister, die großen sollten in ihren Werken fortleben usw.

Unter einer solchen Leitung wuchs der Sohn auf. Er war bei der Geburt ungewöhnlich klein und schmächtig, aber sehr wohlgebildet; er hatte feinentwickelte Sinne, eine schnelle und sichere Auffassung, einen scharfen Verstand und einen Adel in der Denkweise, der sich durch Nachsicht und Zugänglichkeit den Menschen gegenüber äußerte. Er verstand früh, seine Lebensweise zu ordnen, unterdrückte die Pflanzen- und Tiertriebe, und nachdem er ein großes Material von Beobachtungen und Wissen gesammelt hatte, begann er, es zu bearbeiten. Sein Gehirn zeigte sich bald im Besitz der Fruchtbarkeitsfähigkeit: mit Hilfe von etwas Bekanntem das Unbekannte zu finden, er suchte, aus allen Gedanken neue hervorbringen zu können, mit einem Wort: er war im Besitz von Originalität. Er war ein angehender Neolog und besaß die Fähigkeit, die Verbindung in dem Untergeordneten zu durchschauen, nicht nur die unsichtbare Kraft hinter den Erscheinungen zu entdecken, sondern auch die verborgenen Beweggründe zu den Handlungen der Leute. Deswegen wurde er von den Kameraden in der Schule mit mißtrauischen Blicken betrachtet, und die Lehrer spürten bei ihm eine stumme Kritik über das, was sie als unumstößliche Tatsache hinstellten.

Seine Ankunft auf der Universität traf zusammen mit den großen Volksbewegungen, die in Anlaß der bevorstehenden Reichsreform stattfanden. Borg sah sehr wohl das Hinfällige in einer Vierständevertretung ein, da der Staat aus mindestens zwanzig Ständen bestand mit verschiedenen Interessen und verschiedenen Fähigkeiten, so verwickelte Probleme wie das der Volksregierung beurteilen zu können. Er wollte andererseits nicht teilnehmen an einer Rückkehr zu der Organisation der Horde oder des Stammes, bei der alle gleichviel oder gleichwenig zu sagen hatten; er sah sofort ein, daß diese Vereinfachung des Regierungssystems, wo »die Menge es machen sollte«, keine den Forderungen der Zeit angepaßte Reform war, namentlich da er kurz zuvor das allgemeine Wahlrecht in Frankreich einen Kaiser und eine Scheinvertretung durch Advokaten, Kaufleute und Militärs hatte hervorbringen sehen, eine Vertretung, von der die Landleute, die Gelehrten und die Männer der Wissenschaft ausgeschlossen waren, und wo also nur drei vom Kaiser willkürlich gewählte Stände vertreten waren. Er hatte dahingegen ausgerechnet, das Beste müßte sein: eine entwickelte Ständevertretung mit verhältnismäßigem Vertretungsrecht, genau abgewogen nach den Klasseninteressen und mit Rücksichtnahmen auf die höchsten Interessen oder das höhere Anrecht der Klugen auf das Übergewicht, weil diese in größerem Maßstab den Fortschritt stützten als die weniger Begabten. Dies hatten ja schon die Verfasser des Kammersystems geahnt, als sie die Notwendigkeit einsahen, die Fragen im Ausschuß zu behandeln und die Entscheidung gewisser Sachen besonderen Ausschüssen, ja Kommissionen mit Fachleuten zu überlassen. Um nun die Volksversammlung vollständig zu machen, so daß alle Interessen wahrgenommen, alle Gesichtspunkte angewendet und alle Aufschlüsse über den Zustand des Reiches zugänglich gemacht wurden, sollte jede Volksklasse, von der höchsten bis zu der niedrigsten, Abgeordnete wählen, teils im Verhältnis ihrer Größe, teils im Verhältnis zu ihrer Bedeutung für das Wohl des ganzen Landes. Nachdem er den Hofetat gestrichen hatte, der mitsamt dem Monarchen dem Auswärtigen Amt unterstehen sollte, baute er einen beratenden, nicht aber gesetzgebenden Fachreichstag auf folgende Weise auf: Erste Klasse: Grundbesitzer, einschließlich der Pächter, Zinsbauern, Inspektoren, Verwalter usw. Zweite Klasse: Bergwerksbesitzer, Besitzer von anderen Werken sowie Fabrikanten und Arbeiter. Dritte Klasse: Handelsleute, Seeleute, Hotelwirte, Packträger, Frachtfuhrleute sowie Post-, Eisenbahn-, Telegraphen- und Lotsenpersonal. Vierte Klasse: Zivil- und Militärbeamte, Geistliche und Kirchendiener, Kellner und dergleichen. Fünfte Klasse: Gelehrte, Lehrer, Literaten und Künstler. Sechste Klasse: Ärzte, Apotheker, Angestellte des Armenwesens. Siebente Klasse: Hausbesitzer, Kapitalisten, Zinsheber.

Nach welchem Verhältnis von jeder Klasse gewählt werden sollte, war eine Frage, die nicht ohne weiteres gelöst werden konnte; in der Beziehung mußten tüchtige und in der Staatskunst erfahrene Männer sich vorwärtstasten, weswegen auch die Repräsentationsordnung nur vorläufig sein durfte. Über dieser beratenden Versammlung sollte ein aus staatswissenschaftlichen, ausschließlich zu diesem schwierigen Berufe ausgebildeten Fachleuten bestehender Rat stehen, so daß dies schwerste von allen Ämtern nicht wie bisher von Pfuschern oder selbstbestallten Amateuren ausgeübt wurde. Dem Amtsantritt der Staatsmänner sollte eine genaue Untersuchung ihres bisherigen Lebens, ihrer privaten, ökonomischen und sozialen Verhältnisse vorangehen. Dies sollte die Jugend zur Selbstzucht, zu einem aufmerksamen überwachen ihres Tuns und Lassens anspornen und einen Stamm ausgezeichneter Männer bilden, jedoch ohne daß auf der andern Seite ein sogenannter tadelloser Wandel oder negative Tugenden ohne Begabung wie bisher ein Nichtpfad zur Beförderung werden konnten. Dies sollte der neue Adel werden, der Nachfolger des alten Beamten-, Militär- und Hofadels, und dadurch, daß er sich selbst bildete durch eine natürliche Auswahl der Besten, gab er eine Garantie dafür, daß das Land auf die beste Weise regiert wurde. Der Reichstag wurde dadurch, daß er nur stimmen konnte, eine Meinung, nicht ein entscheidender Faktor, ein großes Untersuchungsmaterial, nicht aber ein Massenheer, das bestochen oder gezwungen wurde, Stimmengewalt zu üben.

Der junge Mann war jedoch schon zu klug, um diese Anschauungen auszusprechen, und in einer Zeit, wo Edelmann gleichbedeutend mit entartet, verlebt und überflüssig war und die Massen so blind vorwärtsstürmten, daß die Industriearbeiter ihren angehenden Klassenfreunden, den Bauern, hauptsächlich in die Hände arbeiteten, konnte ein kluger Mann nur lächeln und warten. Und er wartete, bis er es erlebte, daß die Vierständevertretung von der Einzelstandvertretung abgelöst und das Reich fortan nur durch die Bauern allein vertreten wurde. Dies historische Ereignis hatte indessen einen sehr großen Einfluß auf die Gedankenrichtung und die ganze Entwicklung des Jünglings gehabt. Er kam dadurch zu der Erkenntnis, in welch entsetzlicher Unordnung der Gedankenmechanismus sich bei der Mehrzahl befand, und als er das Ständeprotokoll las und die Argumente der einflußreichsten und glänzendsten Redner beachtete, sah er, wie das, was er die Ganglienargumentation nannte: das Hervorrufen von Blutgefäßkontraktionen und Herzenskongestionen, den größten Einfluß auf die öffentliche Meinung ausübte. Es schien ihm indessen, als handele es sich keineswegs um das Vaterland und den Fortschritt, sondern nur um den Triumph für den Antragsteller, wenn er seinen Willen durchsetzte mit Hilfe von Fehlschlüssen, den gröbsten Vergehen gegen die Logik, die unheimlichste Entstellung von Tatsachen. Bei diesen Beobachtungen ward bei ihm ein ernster Verdacht rege, daß alles nur einem Kampf um die Macht galt, um den Genuß, der darin bestand, die Gehirne anderer in Einklang zu bringen, seine Gedankensamen in anderer Hirnrinde hineinzusäen, wo sie parasitenhaft wachsen konnten wie Misteln, während sich der Mutterstamm stolz in den Gedanken hüllte, daß die Schmarotzerpflanzen dort oben im Gipfel doch nur Parasiten waren. Dies war die Unterlage für seinen Ehrgeiz, und um den zu befriedigen, verschaffte er sich Wissen und Erfahrung durch Studien, Reisen und Verkehr mit kenntnisreichen und angesehenen Männern. Und mitten in diesem stets beweglichen Chaos von widerstrebenden Kräften und Interessen suchte er bei sich selbst den Ankerplatz für sein Dasein, den Mittelpunkt des Kreises, den die Wirklichkeit um ihn schlug. Statt wie die schwachen Christen einen Stützpunkt außerhalb ihrer selbst in Gott zu fingieren, nahm er das in seinem eigenen Selbst tatsächlich Vorhandene und suchte seine Persönlichkeit zu einem vollständigen Typ eines Menschen auszubilden, dessen Wandel niemandes Recht kränken wollte, überzeugt davon, daß die Früchte eines wohlgepflegten Baumes andern nur zum Nutzen und zur Befriedigung gereichen würden. All das Verworrene, Verkehrte, das er in den Bestrebungen derer sah, die behaupteten, für andere zu leben, in Wirklichkeit aber nur von anderen lebten, von der Dankbarkeit anderer, der Ansicht anderer, der Anerkennung anderer, mied er und verfolgte den geraden Weg vorwärts, überzeugt, daß ein einziges großes und starkes Individuum unfreiwillig mehr nutzen würde als diese Massen von Gedankenlosen, deren Anzahl in umgekehrtem Verhältnis zu dem Nutzen stand, den sie schufen.

Dies vor Augen, erzwang er eine Norm für seine Lebensweise, die zu einem hohen Grade von Sittlichkeit führte, da er, statt die Abrechnung einem ungewissen Jenseits zu überlassen, seinen Wandel so führte, daß er nichts unentschieden ließ, nicht die Schuld auf einen unschuldig leidenden Christus hinüberwälzte, sondern im Bewußtsein seiner Selbstverantwortung nichts beging, was ihn dazu bringen konnte, das Bedürfnis nach einem Sündenbock zu empfinden.

Hierdurch lernte er, sich auf sich selbst zu verlassen, niemals Rat zu suchen, stets die wahrscheinlichen Folgen einer Handlung zu erwägen. Aber das hinderte nicht, daß er an Nervosität litt, so wie seine ganze Generation, die im Jahrhundert des Kampfes und der Elektrizität geboren und erzogen war, in dem die Lebenswirksamkeit erhöhte Hastigkeit erhielt. Und wie konnte sie anders, sie, die Millionen von alten Gehirnzellen, von aufgestapelten, veralteten Eindrücken zerstören mußte und die jeden Augenblick, wenn sie sich eine Ansicht bilden wollte, abgetane Grundsätze, die sich als Voraussetzungen vordrängen wollten, wegschrapen mußte. Es war eine ganz neue Ansiedlerarbeit, die diese Störungen im Nervensystem hervorrief, die man ausschließlich dem Alkoholismus und den sexuellen Ausschreitungen der Vorfahren hat zuschreiben wollen, deren krankhafte Kennzeichen aber die Äußerung einer erhöhten Lebenskraft waren, begleitet von einer außerordentlichen Empfindsamkeit, wie die des Krebses, wenn er die Schale wechselt, oder die des Vogels, wenn er mausert. Es war die Neubildung eines Geschlechts, oder wenigstens eines Sondermenschen, der den Alten krankhaft oder ungesund erschien, weil er in der Entwicklung begriffen war, etwas, was einzuräumen ihnen höchst widerwärtig war, da sie selber die Norm sein und gesund genannt werden wollten, obwohl sie sich im Auflösungsprozeß befanden.

Diese Nervenempfindsamkeit bei dem heranwachsenden Jüngling wurde erhöht durch Enthaltsamkeit in bezug auf Essen und Trinken und durch strenge Disziplinierung des Geschlechtslebens. Er fand es erniedrigend, sich mittels gärender Getränke in den zügellosen Zustand des Wahnsinnigen und des Wilden zu versetzen, und seine Seele war zu vornehm, um eine Augenblicksverbindung mit einer Prostituierten zu wollen. Aber damit im Gefolge stand auch die zunehmende Scharfheit der Sinne und eine Empfänglichkeit für unangenehme Eindrücke, die zuweilen Unlust hervorrief, wo andere mit wahren Sinnen Genuß gehabt haben würden.

So konnte er mehrere Stunden verstimmt sein, wenn sein Morgenkaffee nicht stark genug gewesen war; ein schlecht gemalter Billardball und ein schmutziges Queue veranlaßten ihn, das Lokal zu verlassen und ein anderes aufzusuchen; ein schlecht abgetrocknetes Glas erregte Ekel bei ihm, und er spürte den Geruch von Menschen an einer Zeitung, die ein anderer gelesen hatte; er konnte auf der Politur fremder Möbel Spuren von Menschenfett sehen und öffnete stets das Fenster, wenn ein Dienstmädchen im Zimmer gewesen war und reingemacht hatte. Aber wenn er auf Reisen war und die Not ihn dazu zwang, konnte er gleichsam alle Leitungen von dem Sinnenwerkzeug zur Auffassung schließen und sich gegen alle unangenehmen Gefühle hart machen.

Nachdem er auf der Universität seine Studien in Naturwissenschaft beendet hatte, diesem am wenigst demütigenden von allen Fächern, da die Anschauungen hier eine geringere Rolle spielten als das Einsammeln von Material, erhielt er eine Anstellung als Assistent an der Akademie der Wissenschaften.

Er hatte sich um diese Stellung bemüht, um an einem Ort alle Reiche der Natur gesammelt und geordnet überschauen zu können und, wenn möglich, sich dort von der großen Konsequenz zu überzeugen, falls sie existierte, oder von dem universellen Wirrwarr, das dort wahrscheinlich herrschte. Aber seine Absichten wurden bald entdeckt, namentlich da er nicht lange der Gefahr aus dem Wege gehen konnte, sich einen Vorschlag, die Vögel nach einem ganz andern System als dem gültigen umzuordnen, entlocken zu lassen. Die Vorgesetzten, die natürlich nicht dazu herabsinken wollten, Materialsammler für einen jungen Mann zu werden, und es ja nicht gerne sahen, daß sie mitsamt ihren Arbeiten veraltet wurden, faßten einen instinktiven Unwillen gegen den, der sie durchschaute. Die erste Gegenwehr gegen den Eindringling bestand darin, daß er bei Kleinarbeiten untergeordneten Ranges angestellt wurde, bei Arbeiten, die zugleich seinem Schönheitssinn widerlich waren. So mußte er sechs Monate lang den Spiritus in der Fischsammlung erneuern. Zuerst erbrach er sich infolge des ekelhaften Geruches, der ihm entgegenschlug, als er aber diese Unannehmlichkeit überwunden hatte, warf er sich mit einer wahren Wut auf das Studium der Fische, und da er schnell arbeitete, hatte er sich am Ende des Jahres gründlich vertraut gemacht mit dem großen Material, nachdem er den ganzen Winter hindurch in einer kalten, schmutzigen, halbdunkeln Küche gestanden, schlechten Spiritus eingeatmet, an den Händen gefroren und sich einen fast unheilbaren Blasenkatarrh zugezogen hatte.

Dann wurde er dabei angestellt, Etiketten für die Algen zu schreiben. Da er indessen an der Universität keinen Unterricht im Schönschreiben erhalten hatte und von der Natur mit einer schwachen, unsichern Hand ausgestattet war, wurden die Zettel kassiert, wodurch ein Schein von Untauglichkeit auf ihn geworfen wurde. Er konnte ja nicht einmal schreiben! Aber im Laufe von zwei Monaten, während welcher er Unterricht in einem Schreibkursus genommen und am Abend zu Hause saß und mit Schreibbuch und Vorschriften arbeitete, erwarb er sich eine schöne, leserliche Handschrift, und gleichzeitig erwarb er eine vollständigere Kenntnis der Algen, als er sie bisher besessen hatte. Die Vorgesetzten, die glaubten, daß er die untergeordnete Arbeit verschmähen würde, sahen bald, von welcher Art er war und wie er es verstand, alles zu seinem Vorteil zu wenden, indem er seine Kenntnisse erweiterte, während er geschmeidig den Schlägen auswich und die Regenschauer abschüttelte.

Aber seine größere Schreibfertigkeit ward ein Quell zu neuen Demütigungen, denn jetzt stellte man ihn dabei an, Dokumente und dienstliche Briefschaften abzuschreiben, indem man glaubte, daß er dadurch allmählich zu der elenden Rolle eines Abschreibers herabsinken werde. Er übernahm jedoch die Arbeit, ohne zu klagen, und während er dadurch fremde Sprachen lernte, hatte er Gelegenheit, einen Einblick in alle Geheimnisse der großen Männer zu tun, die sie in seiner Hand wertlos glaubten. So gelang es ihm, die wissenschaftlichen Streitereien jener Zeit im Briefwechsel behandelt zu sehen, er entdeckte die Wege zu den geheimen Zusammenkünften der gelehrten Gesellschaften, lernte die unterirdischen Gänge kennen, die zu Auszeichnungen führen, und die Gelegenheit, die Forschungen fruchtbringend zu machen. So war es unantastbar, und jedesmal, wenn man glaubte, ihn niedergeschlagen zu haben, erhob er sofort den Kopf wieder.

In seiner doppelten Eigenschaft als Edelmann und Selbstdenker kam er dazu, isoliert zu stehen. Sein Name klang nicht wissenschaftlich genug, und es wurde von denen, die sich Berzelius' zerlumpter Hosen erinnerten, als Mangel an Wissenschaftlichkeit betrachtet, daß er sich fein und modern kleidete; dazu kam noch, daß seine geduldige, scheinbare Unterwerfung als Unterlegenheit aufgefaßt wurde und daß man alle seine naturwissenschaftlichen Forschungen als poetische Ergüsse ansah. Da man bereute, ihn hinter die Kulissen hatte kommen zu lassen, und ihn wieder unschädlich machen wollte, kam man auf den Einfall, ihn bei einer neuen Arbeit anzustellen, die von jedem Neuling verschmäht worden war und deswegen der Probierstein oder Stein des Anstoßes genannt wurde. Es hatte sich nämlich auf dem Boden ein Haufen von Steinarten und Mineralien angesammelt, teils durch Schenkungen und Testamentierung, teils von Weltumseglungen und Expeditionen; und da die meisten damals, als die Geologie noch in den Windeln lag, als Dubletten beiseite gelegt waren, mußten sie jetzt, wo sich die Verhältnisse auf diesem Gebiet mit der Entwicklung der Wissenschaft verändert hatten, durchgesucht und geordnet werden. Sie hatten in einer Bodenkammer oben unter den Dachpfannen Platz gefunden und lagen in einem großen Haufen, vermischt mit Staub und Spinngeweben. Borg, der jetzt gebückt unter den glühenden Dachsteinen stehen und den Staub einatmen mußte, war nahe daran, das Gewehr in den Graben zu werfen, als er aber am Tage nach Beginn der Arbeit auf ein Mineral stieß, das, wie er vermutete, bisher nicht bekannt war, ging er eifrig an die Arbeit und begann zu sortieren. Hierbei gelangte er jedoch zu Ergebnissen, die seinen bereits schwachen Glauben an den Systembau erschütterten, und sah vorläufig ein, daß nicht die Steine von der Natur geordnet waren, sondern daß das Gehirn die Erscheinungen ordnete.

Alles konnte übrigens geordnet werden, wenn man sich nur eine Einteilungsgrundlage schaffte; daß die vernünftigste Grundlage hier nicht gefunden war, sah er bald ein, und da die Basis selbst nur eine unentschiedene Hypothese war, wie z. B. daß das Urgebirge durch Schmelzung von Feuer entstanden sein sollte, im Gegensatz zu den abgelagerten Bergarten, von denen man bestimmt annahm, daß sie vom Wasser abgesetzt waren, und da zugleich das Urgebirge in Schichten geteilt ist wie die jüngeren sedimentären Formationen, fand er das Ganze gemacht, zusammengemutmaßt, und das System auf dieser Mutmaßung begründet. Inzwischen hatte er das Stück Mineral, das er gefunden, analysiert, und da es sich herausstellte, daß es bisher unbekannt war, übergab er es dem Professor, der es an die Akademie in Berlin schickte, wo er das neue Mineral nach sich benennen ließ. Borg erhielt weder einen Dank noch eine Erwähnung, sondern nur einige spöttische Worte von seinem Vorgesetzten. Empört hierüber, sandte er das nächste Mineral unbekannter Art, das er fand, selbst an Lyell; seine Abhandlung wurde in der Geological Society vorgelesen, in welcher Gesellschaft er als Mitglied aufgenommen wurde. Kameraden und Vorgesetzte taten so, als seien sie in völliger Unkenntnis über seinen Erfolg, der seinen Professor gewissermaßen schikanierte, da er das unbekannte Mineral für eine Dublette gehalten hatte. Und nun wuchs der Unwille gegen ihn zu Haß an, um schließlich in Verfolgung überzugehen. Aber er wich aus, machte sich unsichtbar und arbeitete. Da diese zusammengescharrten Mineralien aus allen Ländern Europas geholt waren und Borg es verstand, jeder Entdeckung einen Anstrich von praktischem Nutzen für die Bergwissenschaft jedes einzelnen Landes zu geben, gelang es ihm, im Laufe von ein paar Jahren in die meisten der wissenschaftlichen Gesellschaften Europas aufgenommen zu werden. Außerdem war er Inhaber des italienischen Kronenordens, des französischen Instruction publique, des österreichischen Leopoldsordens und des russischen St. Annenordens zweiter Klasse. Aber nichts machte Eindruck auf seine Umgebung, deren Spott nur wuchs mit jeder Auszeichnung, die doch auf wirklichen Verdiensten beruhte. Da man die Tatsache nicht ableugnen konnte, suchte man ihren Wert zu verringern oder gab sich das Aussehen, ahnungslos in bezug auf das Geschehene zu sein, was jedoch nicht verhinderte, daß man seine Spuren zu eigener Jagd benutzte.

Als er schließlich nach sieben Jahren qualvollen Dienstes seinen Vater beerbte, der zu jener Zeit starb, und dann seinen Abschied nahm, um als Privatmann ins Ausland zu reisen, erzählte man, er habe seinen Beruf verfehlt und sei verabschiedet worden, es sei schade, sagte man, daß nichts aus ihm habe werden können. Deswegen verließ er mit einer grenzenlosen Verachtung vor den Menschen das Vaterland, um seine Studien in fremden Ländern fortzusetzen. Und rings umher in den Hotels und Pensionaten Europas traf er viele Arten von Menschen, leitete Verbindungen ein, die bald durch eine gezwungene Trennung abgebrochen wurden. Aber überall sah er, wie die Menschen der gleichen Periode die gleichen Ansichten über die gleichen Dinge äußerten, Mehrzahlansichten als ihre eigenen aufstellten, mit Phrasen auftraten statt mit Gedanken. Dabei entdeckte er, daß es nur die Gedanken einiger weniger hervorragender Geister waren, die von den Massen ausposaunt wurden. So fand er heraus, daß alle Geologen Agassiz' und Lyells Anschauungen von 1820 und 1840 äußerten; alle religiösen Freidenker plapperten Lenau und Strauß nach; alle rührigen Politiker lebten von Mill und Buckle, und alle, die über neuere Literatur sprachen, schlachteten Taine aus. Auf diese Weise waren nur einige wenige Hauptbatterien im Besitz von Stromerregern, die durch die Leitungen des Talents alle diese Glocken zum Läuten brachten. Von hier aus gelangte er bald auf das Gebiet der Psychologie, besuchte Spiritisten, Hypnotiseure, Gedankenleser, sah hinter diesen Schwindelbewegungen allerlei neue Entdeckungen, die sicher die tierische, gedankenlose Lebensweise der Menschheit veränderten, vielleicht beitragen konnten zu der Rechtleitung der Gedankenapparate und zur Belehrung darüber, daß das ganze Kampfleben, das über Anschauungen geführt wurde, nur ein Kampf um die Macht war, die Gehirne anderer in Bewegung zu setzen, den Haufen zu zwingen, so zu denken wie man selbst. So war er auch Zeuge von wissenschaftlichen Streitigkeiten gewesen, bei denen der Sieg der falschen Anschauung zugefallen war, nur weil der Sieger hinreichend Ansehen und Mehrheit besessen hatte. Er hatte politische und religiöse Fehden gesehen, die durch eine Gesetzgebung abgeschlossen waren, die aller gesunden Vernunft und Gerechtigkeit hohnlachte, indem sie autorisierte Irrtümer grundlegte, die dann von der nachfolgenden Generation als sonnenklare Wahrheiten geerbt wurden.

Nein, es handelte sich wohl nur darum, seinen Willen durchzusetzen, und die Triebkraft hinter dem Kampf um Anschauungen war das Interesse und die Leidenschaft. Das Interesse war nichts weiter als der Trieb, der Trieb nach Essen und Liebe, und um den zu befriedigen, war ein gewisses Quantum Macht erforderlich. Und was nicht Macht erstrebte, war ein schwaches Individuum, dessen Lebenswille verdünnt war, und deswegen hörte man stets den Schwachen auf das Recht pochen, auf das Recht der Schwachen, obwohl nur eine mathematische Gerechtigkeit existierte, eine arithmetische Wahrheit, zu deren Ausrechnung ein starker Gedankenapparat erforderlich war, der sich von den Verirrungen der Interessen und Leidenschaften zu befreien vermochte. Wenn er sein Inneres erforschte und sich mit einer großen Anzahl anderer verglich, fand er, daß er durch strenge Selbstzucht sein Urteil in hohem Grade emanzipiert hatte und daß er im Besitz eines besonders entwickelten Triebes war, die abstrakte Gerechtigkeit zu suchen, die Wahrheit, die in dem wirklichen Verhältnis, dem Kern der Sache besteht, weswegen er sich auch Wahrheitsfreund nannte in dem besten Sinne dieses Wortes, ohne daß er deswegen umherzugehen und alles zu sagen brauchte, was er dachte, oder, wenn die Notwendigkeit es gebot, eine zudringliche Frage nicht mit einer Unwahrheit beantworten konnte.

Um der Organisation des Menschentiers näher auf die Spur zu kommen, machte er besondere Studien über die Seelenfähigkeiten aller der niedrigeren Tiere und tastete sich durch dies Mittelglied weiter bis zu dem Menschen.

Darauf legte er eine Buchhalterei an über alle die Individuen, die er getroffen hatte, von Verwandten, Haushälterinnen und Dienstmädchen bis zu Schulkameraden, Studentenkameraden, Verkehrskreis und Vorgesetzten, kurz über jeden, der innerhalb seines Beobachtungskreisels gekommen war. Und dies Hauptbuch vervollkommnete er, indem er sich Personalien, Einsegnungsatteste, Erklärungen von den Bekannten der Betreffenden verschaffte, worauf er ihr Horoskop stellte und ihr Lebensproblem ausfindig zu machen suchte. Dies war ein unglaublich großes Arbeitsmaterial, und als er Ordnung in den Wirrwarr gebracht hatte, sah er, daß man die Menschen so wie die Tiere und Pflanzen in große Klassen, Abteilungen und Familien einteilen konnte, alles nach der Einteilungsgrundlage. Da er aber mehrere Einteilungssysteme benutzte, kam er der Wahrheit näher und erlangte eine reichhaltigere Beleuchtung seines Beobachtungsobjektes.

So machte er ein Schema über Menschen, in drei Unterabteilungen geteilt: die Bewußten, die Selbstbetrüger und die Unbewußten. Die Bewußten oder Eingeweihten standen am höchsten; sie hatten den Betrug durchschaut, glaubten an nichts und an niemand und wurden im allgemeinen Skeptiker genannt; sie wurden von den Selbstbetrügern gefürchtet und gehaßt, kannten einander sofort, wenn sie sich begegneten, und trennten sich gewöhnlich mit der Bezeichnung Schurke auf den Lippen und mit gegenseitigen Beschuldigungen schlechter Beweggründe. Zu den Selbstbetrügern rechnete er alle religiös Gläubigen, hypnotische Medien, Propheten, Parteiführer, Politiker, Wohltätigkeitsmenschen und den ganzen Schwarm von schwachen Ehrgeizigen, die sich den Anschein gaben, als lebten sie für andere. Zu den Unbewußten rechnete er Kinder, die meisten Verbrecher, die meisten Frauen und eine Unzahl Toren, die noch auf einem halb säugetierischen Standpunkt lebten, ohne Fähigkeit, das Subjekt von dem Objekt zu unterscheiden.

Nach einer anderen Einteilungsweise, der ontogenetischen, der Entwicklung vom Embryo zum erwachsenen Manne, brachte er Kinder, Jugendliche, Frauen und Männer in das System hinein.

Ferner suchte er immer bei Landsleuten nach ererbten Rassezeichen, trennte Nordschweden von Südschweden, konnte den Norweger in dem Wärmländer spüren und den Finnen bei einer Menge Norrländer, hielt ein wachsames Auge auf eingewanderte Deutsche, Wallonen, Semiten und Zigeuner, was ihm oft den Schlüssel zu manch einem Zug in einem unverständlichen Charakter verlieh.

Außerdem hatte er noch eine andere Einteilung der Charaktere nach den Hauptzügen derselben. So brachte er die Prasser, Trinker und die Geizhälse in der untersten Gruppe an, dann kamen die Sexualisten oder die Geschlechtsschwelger, während die Gefühlsmenschen und die Intellektuellen oder die Denkenden am höchsten standen.

Diese Wissenschaft entwickelte er in hohem Grade und erlangte nach Verlauf einiger Zeit die Fähigkeit, einen Menschen zu beurteilen. Und um die Richtigkeit seiner Beobachtungen zu kontrollieren, benutzte er sich selbst als psychologisches Präparat, brachte sich Wunden bei, stellte Experimente mit sich an, legte Fisteln und Kunstgeschwüre an, unterwarf sich unnatürlicher, oft widerlicher Kost, während er dabei genau den persönlichen Beobachtungsfehler im Auge behielt und es vermied, sich selbst und seinen Wandel als Norm für andere anzulegen.

Nachdem er schließlich seiner Reisen ins Ausland überdrüssig geworden war, und da sich sein Körper nach seinem richtigen Lebenskreis sehnte, kehrte er heim, um sich eine Betätigung zu suchen. Es war ihm gleichgültig, womit er sich beschäftigte; so bewarb er sich denn um die Anstellung als Fischereiinspektor, und da man nicht wünschte, ihn in allzu großer Nähe zu haben, wurde er als erster Beamter in den Stockholmer Schären angestellt.


Hier erwachte er von dem Rückblick auf sein Leben, durch den er sich neu zu gebären pflegte, indem er es in aller Eile abermals durchlebte und sich dadurch gleichsam zu seinem Standpunkt hindurchtastete, um, nachdem er seine Hilfsquellen berechnet hatte, sich klar zu werden über seinen Kurs vorwärts, sein wahrscheinliches Endziel und die Aussichten, seine Pläne durchzuführen.

Der Lotse, der währenddessen das Boot innerhalb der Schäre in Lee von den Eisschollen gerudert hatte und schon mit sich darüber im reinen war, daß der gelehrte Mann, der wie eine Bildsäule mit nach innen gewendetem, ausdruckslosem Blick dasaß, nicht ganz richtig sei, benutzte jetzt die Gelegenheit zu fragen, ob sie nach Hause fahren wollten, wozu der Inspektor nickend seine Zustimmung gab.

Noch einmal ließ er den Blick hinschweifen über das prachtvolle Schauspiel da draußen, wo die Eisstücke dahinjagten, zerrissen, zusammengepackt wurden, einander klemmten, sich übereinander auftürmten, auf die Kante gestellt wurden, ihre wagerechte Lage in Massen von Verschiebungen verwandelten, in Bergbildungen mit Höhen und Tälern. Es war ihm, als sähe er die Erde geboren werden, wie damals, als die erste erstarrte Kruste auf dem glühenden Meer durchbrochen wurde, vorwärts gepeitscht, auf die Kante gestellt, zu Urgebirgen, zu Schären und Werdern aufgetürmt wurde, die nur Packeis waren, mächtige Eisberge, nur aus einem andern Material als das Wasser. Und über dieser wiederholten Schöpfungsgeschichte zitterte das ungeteilte, weiße Licht des Eises neben dem urblauen der Luft und des Wassers, die erste Brechung der Finsternis, und hier schwebte der Gott der Schöpfungsgeschichte, der Licht von Finsternis schied, hervor wie ein lebendig gemachter Erklärungsgrund für den forschenden Gedanken des Beschauers. Und noch einmal klangen der beschwingten Reptilien erste Versuche von musikalisch geordneten Lauten über den Wasserkreis, diese Begrenzung seines eigenen Ichs, das der Mittelpunkt bleiben würde, welchen Platz er auch einnahm. – – –

Da trieb das Boot in den Hafen hinein, und aus den Schornsteinen rauchte es zum Mittagessen.


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