Rudolph Stratz
Das freie Meer
Rudolph Stratz

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15

Schwere Windstöße heulten über die Nordsee. Es war kein Sturm, jetzt, zur Sommerszeit. Aber weißer Schaum auf grünen Wellen wanderte doch in endlosen Streifen über die weite, leere Fläche, von den britischen Kreideklippen nach den Sanddünen der Niederlande. Nur selten dunstete eine schwarze Rauchpinie schräg am Himmel oder blähten sich die weißen Leinentürme eines Seglers. Der Tod wohnte in den Tiefen. In diesen Tagen mehr denn je. In dem zur Zeit der Ebbe frei glitzernden Schlick und Modder der langen, niederen holländischen Küste lagen da und dort, wie neue gestrandete Seeungeheuer, die gewölbten, umgestülpten, abenteuerlich zur Seite gelegten Schiffsrümpfe, und andere trieben als menschenverlassene Geisterschiffe, wie fliegende Holländer, sinkend draußen auf See.

Die Wogen der Nordsee trugen ihren weißen Gischt maasaufwärts durch den Nieuwen Waterweg bis Rotterdam. Möwenschwärme empfingen sie da und überkreisten sie mit ihrem gellen, klagenden Geschrei. Am Kaiufer der Boompjes bogen sich die dünnen Ulmenreihen neben den Schiffsmasten unter dem Anprall der Windsbraut. Der Mynheer Cornelis Ter Meer hielt, während er den Kai entlangschritt, mit der Rechten den Hut auf dem angegrauten, bedächtigen und ernsten Kopf. In der anderen Hand trug er ein Bündel der Schriftstücke, ohne die in diesen Zeiten keiner nach England kam, Paß, Visum und Reiseerlaubnis des britischen Konsulats.

Der Krieg . . . immer der Krieg . . . überall der Krieg . . . im Grau des Himmels gegen die ferne See hin . . . im Wehen des Windes und der Worte an seinem Ohr . . . in den Blicken und Mienen alles dessen, was an Hafenvolk am Uferrand herumlungerte, um die Dampfkrane und die Haufen von Butterfässern daneben stand, auf dem Verdeck einherstieg, nachdenklich, die Hände in den Taschen, in das Wasser des Meeres spuckte. So weit der Yonkheer Ter Meer die Hafenmauer hinabsah, kräuselte sich kein Dampf aus den gelben und schwarzen Schiffsschloten. Es wurde nirgends recht gearbeitet. Die Seefahrt lag seit gestern still. Wenigstens für alles, was unter den Flaggen des britischen Weltbundes segelte.

Der Yonkheer Ter Meer prallte im Sturmwind beinahe an eine Gruppe Koopmans, holländische Kaufleute mit Schiffspapieren, Konnossementen, Warrantscheinen, Assekurantieurkunden unter den Armen.

»Die ›New-Hampshire‹! Vor zwei Jahren gebaut! Für eine halbe Million Pfund Waren an Bord . . .«

»Was ist mit der ›New-Hampshire‹?«

»Auf der Höhe von Westkapelle torpediert, Mynheer!«

Schwarze Tage auf See . . . Da lehnten wetterharte holländische Fischer, Neugierige aller Art um sie und das glitzernde schuppige Gewimmel in ihrer Barke, das sie aus den Bänken der Nordsee geholt. Sie kamen von draußen, aus dem Reich des Abenteuerlichen, der Gefahr, der großen weiten Wasserleere, in dem die beiden Mächte, Deutschland und England, unsichtbar auf Tod und Leben miteinander rangen. Sie waren so erregt, wie Seebären ihrer Art überhaupt sein konnten. Treibende Minen hatten sich in ihren kostbaren Netzen verfangen und große Löcher hineingerissen . . .

»Deutsche?«

Nein! Es schienen englische Minen gewesen zu sein, die sich von der Verankerung gelöst. Auch Leichen hatten sich statt Schellfischen in den Maschen gefangen. Der Orlog . . . der Orlog . . . Wann kam die Stunde, da der Friedenstempel im Haag nicht mehr ein blutiger Hohn auf die Menschheit war?

Ein Herr sagte es in der Menge. Cornelia Ter Meer drängte sich an ihm vorbei zu den Seeleuten. Sie hatten deutsche Unterseeboote genug draußen gesichtet. Das Wasser war voll von ihnen. Wenn die See rein war, sah man die auftauchenden Türme.

»Wie die Haifische!« sagte ein riesenhafter norwegischer Steuermann grimmig auf englisch. Er ging mit einem verstörten knebelbärtigen Reeder aus Bordeaux, der das rote Knöpfchen der Ehrenlegion in der Rockklappe trug und mechanisch alle paar Minuten auf die Uhr sah. Die »Rosemonde« war seit Tagen überfällig, auch andere Dampfer und Segler. Ihre Namen klangen da und dort am Kai. In allen möglichen Sprachen aller möglichen Laute. Englische Geheimagenten überall unauffällig dazwischen.

Der Yonkheer Ter Meer stand vor seinem Hotel an den Boompjes und trat ein. Drinnen, in dem Raum zur ebenen Erde, wo ein paar Japaner flüsternd mit einem Citymann verhandelten und ein Russe sich in der Ecke nervös eine Papyros drehte, zitterten die unsichtbaren Funksprüche, raunten von Mund zu Ohr, malten Ungeduld, Zorn, Ärger, Angst auf die Gesichtszüge der verschiedensten Menschen und Völker.

»Oh – diese elende Seepest!«

Der Yonkheer Ter Meer stieg die Treppe hinauf. Der Portier rief ihm nach:

Mevrouw Ter Meer ist eben angekommen! Sie wartet oben auf Mynheer.«

Die schmalen und feinen Züge Johanna Ter Meers waren noch von dem Seewind draußen gerötet, das aschblonde Haar in kleinen, unruhigen Ringeln um Stirn und Ohren zerzaust. Sie stand bei seinem Eintritt jäh auf. Er runzelte die hohe, kahle Stirn vor diesem Ungestüm.

»Da bin ich, Cornelis!«

»Dank, Jantje . . . oh, willst du niet gaan sitten?«

Sie schüttelte den Kopf und ging schwer atmend im Zimmer auf und ab. Sie hatte den Hut nicht abgelegt, nur den Schleier zurückgeschlagen, so als wolle sie jeden Augenblick bereit sein, wieder zu gehen.

»Warum ließest du mich kommen?«

»Um dir adieu zu sagen. Ik moet op Reis'.«

Er bückte sich und schob mechanisch einen kleinen Stoß Plätthemden in den offenen Schiffskoffer. Weiße Binden dazu. Der Frackanzug lag schon darin. Daneben stand schon die Zylinderschachtel. Sie sah es. Und wußte zugleich auch schon das Ziel der Reise: es wäre Cornelis Ter Meer niemals darauf angekommen, sich im grauen Frühjahrsanzug in die Große Oper in Paris zu setzen. Von Berlin und Wien ganz zu schweigen. Aber ebenso undenkbar wäre es ihm erschienen, London ohne die vorgeschriebene Abendtracht im Koffer zu betreten.

»Du willst nach England?«

»Ja.«

Sie folgte mit den Augen seinen Bewegungen. Eins, zwei, drei – ein halbes Dutzend Plätthemden. Das hieß: ein Aufenthalt von Montag bis zum Wochenende. Auf der ganzen Welt rechnete man so, und er sagte es auch, sich emporrichtend:

»Ich bleibe fünf Tage, Jantje.«

»Weshalb willst du hinüber?«

»Ich will niet. Ik moet!«

»Warum?«

»In Geschäften.«

»In was für Geschäften?«

»Frage nicht in diesem Ton!«

»Doch! Ich will Antwort!«

»Ik habe keine Verpflichtung, dir zu antworten.«

»Wenn je – dann jetzt!«

»Jantje . . .«

»Diese Stunde entscheidet zwischen uns!«

Sie standen sich entschlossen, wie zwei Kämpfer, in dem altmodischen Zimmer gegenüber. Eine Minute war es so still, daß man das Klirren der geschlossenen Fenster unter dem Anprall der Windstöße hörte. Dann sagte Cornelis Ter Meer, immer noch ruhig, aber mit dunkel gerötetem Gesicht:

»Ich bin ein Mann von Jahren. Ich bin ein Mann, der die Welt gesehen hat. Ich bin ein Mann, dem die Menschen nichts mehr vormachen. Ich habe meine Gründe für mein Handeln und Lassen.«

»Du weißt nicht, was du tust!«

»Das, was ich für weise halte. Nichts ist verderblicher, als in der Unruhe dieser Zeit in einer falschen Rechnung zu verbleiben . . .«

»Du sprichst wie ein Engländer!«

»Ich habe mit Engelschen gesprochen. Mir ist eine Last von der Seele gefallen. Alles ist ophelldert. Alles, was du gegen England auf dem Herzen hast, verbildest du dir ein . . .«

»Cornelis!«

»Lord Saint Asaphs ist seit gestern in wichtiger Sak hier. Er kam zuerst zu mir, Jantje . . .«

»Und du hast ihn angehört?«

»Er hörte mich an! Wir sprachen von dem Brief. Nichts konnte herzlicher sein als die Heiterkeit Seiner Lordschaft. Nichts freimütiger als die britische Offenheit, mit der er alles mit der Verwirrung deines Seelenzustandes erklärte . . .«

»Und du hast ihm geglaubt?«

»Auch du würdest ihm glauben, wenn du ihn sähest . . .! Er bittet darum.«

»Er soll es wagen! Dann wird er von mir Dinge hören, die noch nie ein Mensch auf der Welt ihm in seinem sündhaften und faulen und verbrecherischen Leben gesagt hat!«

»Still!«

Das war ein Ton, wie er bisher aus Cornelis Ter Meers Munde nicht erklungen war. Und ebenso hart drüben ihr Gesicht.

»Cornelis . . . reise nicht!«

»Ich reise!«

»Du wählst damit für immer zwischen mir und England!«

»Das tu ik niet.«

»Aber ich! Denn dann entscheidest du dich für den Mann, der mich selbst so kaltblütig ins Verderben stürzen wollte, wie er mein Vaterland verderben will . . .«

»Wenn man dich hört, Jantje . . .«

»Dich geht der Krieg nichts an. Nicht hüben und nicht drüben . . . Cornelis, komm zurück in den Haag! Zu mir und Jan!«

Der Yonkheer Ter Meer stand am Fenster. Unten schüttelte sich die dünne Ulmenreihe der Boompjes angstvoll im Sturm. Ein schwacher Qualm wehte zwischen ihren Ästen hin. Ein großes, schwarz gestrichenes Seeschiff begann da Dampf aufzumachen. Zwischen seinen Decks und dem Kai daneben war mehr Laufen und Schleppen über die Schiffsbrücken als auf den Nachbarfahrzeugen. Eine hundertköpfige Menschenmenge stand im Halbkreis, als erwartete sie etwas Besonderes.

»Heute abend fährt der ›Robin Hood‹ aus, Jantje!«

Unten ging der Kapitän, ein Mann mit einem finsteren und energischen Antlitz, auf Deck hin und her. Ein Haufen Schiffsoffiziere und Zivilisten um ihn. Alles unverkennbar britische Gesichter.

»Cornelis . . . das ist ein englisches Schiff!«

»Und geht mit der größten englischen Flagge am Mast, die der Captain finden konnte, in See. England beherrscht die See. Das soll er zeigen!«

»Das Schiff da unten ist zehnmal mehr gefährdet als ein niederländisches Schiff!«

»Lord Saint Asaphs und sein Gefolge schiffen sich auch heute abend auf dem ›Robin Hood‹ ein.«

»Sie fahren in ihr Verderben!«

»Seine Herrlichkeit lud mich ein, die Reise mit ihm zurückzulegen . . .«

»Großer Gott! Und deshalb setzest du dein Leben aufs Spiel?«

»Ich reise unter dem Schutz Groot-Britannies!«

Das klang wie ein Widerhall des Glaubens an England und seine Allmacht. Johanna Ter Meer trat vor ihren Mann:

»Ich habe schon viele Menschen gesehen, die von England verblendet waren. Ich war es selbst. Aber ich sah keinen so verblendet wie dich! Wenn du jetzt nach England fährst . . .«

»Ich fahre . . .«

». . . dann bist du von mir geschieden!«

»Nein!«

»Für immer! Ich kann nicht anders! Es ist mein heiligster Ernst . . .«

»Jantje . . .«

». . . und mein unerschütterlicher Wille! Nun tu, was du willst oder was du mußt. Du hast ja noch Zeit. Das Unglücksschiff geht ja erst am Abend!«

»Höre . . .«

»Nein. Jetzt kann man nicht mehr hören. Nur noch handeln. Ich gehe jetzt zu meiner Freundin hier, Juffrouw Kalff am Hogendorps-Plein. Eine Stunde ehe der Dampfer fährt, bin ich wieder am Hotel.«

»Und wenn du mich nicht mehr findest?«

»Dann treffe ich dich unten auf den Boompjes oder an Bord. Ich will nichts unversucht lassen bis zur letzten Stunde . . . bis zur letzten Minute . . . Nun wähle zwischen England und mir . . .«

Der Yonkheer Ter Meer saß, nachdem seine Frau ihn verlassen, lange Zeit in dumpfem Brüten, den Kopf in der Hand. Das Leiden des Entschlusses lag auf seinen Mienen. Sie zuckten zuweilen schmerzlich und angstvoll. Sonst rührte er sich nicht. Durch das Zimmer klang nichts als manchmal sein schweres Seufzen und das Rascheln der Mäuse hinter der altmodischen Tapete.

Endlich erhob er sich mühsam, schüttelte den verständigen und wohlwollenden angegrauten Kopf, als begriffe er eine Welt nicht, die sich gegen England auflehnte, nahm seinen Hut, stieg die Treppe hinunter, stand unschlüssig in der Vorhalle des Hotels, gleich einem Mann, der auf irgendein Zeichen, einen Wink des Schicksals wartet, um das zu tun, was er eigentlich schon zu tun entschlossen ist. Er fühlte nach seiner Brusttasche. Jawohl, da waren die Kabinenkarten und die Überfahrtspapiere. Er frug den Portier:

»Ist das Schiffskontor jetzt offen?«

»Jawohl, Mynheer. Soll ich etwas bestellen lassen?«

»Ich gehe lieber selber. Ich habe mich entschlossen, meinen Platz zurückzugeben und nicht zu fahren.«

»Ja, Mynheer, es ist auch besser.«

Als der Yonkheer Ter Meer auf den Boompjes in Sturm und Hafenluft hinaustrat, ging er rüstig trotz seiner immer etwas gebeugten Haltung dahin. Das schwere Opfer lag in Gedanken schon hinter ihm. Drüben flatterte am Mast des schwarzen, finsteren »Robin Hood« bereits der britische Union Jack. Aber er sah mit Absicht nicht mehr hin. Er dachte sich: dafür hab' ich Weib und Kind! Die Dämmerung dampfte schon mit ihrem ersten Grauen den silbergrauen Flimmer von Licht und Luft der Niederlande zwischen dem Himmel und dem Wasserspiegel der Maas und der vielen Kanäle. Aber es war noch reichlich Zeit, im Schiffskontor zu sagen, daß es besser sei, in Holland zu leben, als draußen seine Haut zu Markte zu tragen. Trotzdem schritt er rascher als sonst an den altertümlichen Häusern hin. Eine innere Unruhe trieb ihn, die Stimmung festzuhalten, in der er jetzt zu seiner eigenen Erlösung war: den Verzicht auf England. Wenigstens heute. Wenigstens nach außen . . .

Wie in jedem Hafen gab es auch in Rotterdam allerhand Gaffer, Leute, die immer Zeit hatten, eine Stunde lang mit offenem Mund und die Hände in den Hosentaschen irgendein merkwürdiges Schauspiel zu beobachten. So standen sie auch jetzt da im Gewimmel des Börsenplatzes um einen großen Frachtkarren, auf dem das Gepäck vornehmer Reisender vom Hotel nach dem Schiff geschafft werden sollte. Prachtvolle, messingbeschlagene und messingbebänderte englische Schrankkoffer, schmale Kabinenkoffer, Hutkoffer. Auf jedem in schwarzen Buchstaben: »The most Noble the Marquess of St. Asaphs.« Und damit kein Zweifel über die Bestimmung möglich sei, hingen auch schon an den Handhaben angeknüpfte Papptäfelchen: »Robin Hood, juni 18. 9½ p. m.« Ein paar Kammerdiener in schwarzem Zivil hantierten daran herum. Der Yonkheer Ter Meer sagte sich, daß es doch leichtsinnig sei, in solcher Weise die Aufmerksamkeit jedes beliebigen Vorübergehenden darauf zu stoßen, daß ein solcher Großer des Inselreiches zu bestimmter Stunde und mit bestimmtem Schiff durch das Sperrgebiet fahren wollte, und doch dünkte ihn diese Verachtung der Gefahr auch wieder so recht britisch und machte ihm das Herz warm und voll von der alten Bewunderung. Und nun sah er etwas, was noch ungewöhnlicher war. Der Markgraf Harald von St. Asaphs, auf dessen Wink hin die Sterblichen flogen, um ihm zu dienen, verschmähte es nicht, persönlich das Aufladen seines Reisegepäcks zu überwachen. Beinah herausfordernd riesig, trotz seiner dunklen Haare und Augen eine Verkörperung der hochgezüchteten Herrscherkaste der Angelsachsenrasse, stand er unter der Torwölbung des Hotels. Neugierige Blicke rings um ihn. Man wußte, wie er hieß, welche Fülle von Rang und Macht und Millionen um ihn, den Erben einer britischen Herzogswürde, schon war oder auf ihn wartete. Um so mehr fiel es auf, als plötzlich die steinerne Gelassenheit seiner bräunlichen Züge sich in den Sonnenschein eines herzlichen Lächelns verwandelte, mit dem er dem Yonkheer Ter Meer freimütig zuwinkte. Ja, er ging, mitten durch die Gruppen, auf ihn los und faßte ihn vertraulich unter dem Arm wie einen alten Freund.

»Rauher Tag heute!« sagte er frisch und aufgeräumt, als sei es tiefster Friede und das Wetter Alt-Englands ältester und erster Gesprächsstoff.

»In der Tat, Mylord!«

»Trotzdem hoffe ich, wir werden eine gute Überfahrt haben. Craven ist mit! Craven ist zur See der närrischste Bursche auf fünfzig Meilen im Umkreis . . .«

»Ich kenne den Humor Seiner Ehren . . .«

»Und Neish! Neish sitzt oben zwischen noch mehr Koffern, als eine Lady sich träumen ließe. Passen Sie auf, wie er an Bord erscheint. Er ist der bestangezogene Mann in England und Wales!«

Dabei war Lord Harald St. Asaphs selbst ein Vorbild für jeden Stutzer jenseits des Kanals. Alles auf der Straße schaute seiner lässig gehaltenen, hageren Athletengestalt nach, während er mit dem Yonkheer Ter Meer am Wasserspiegel des Blaak entlangging. Er lachte:

»Sir Bacharach ist schon jetzt seekrank! Er wird es immer, wenn er nur Teer und Maschinenöl riecht. An Bord sieht ihn kein Mann außer Bett. Macht nichts! Er tat hier gute Arbeit. Er hat seine schwarze Liste nützlich vermehrt.«

Der Yonkheer Ter Meer, der in seiner seltsamen plötzlichen Willenlosigkeit neben dem brünetten Lord einherschritt, zuckte unwillkürlich ein wenig zusammen.

»Oh – hat er das, Mylord?«

»Er hat wieder eine ganze Reihe Namen von Menschen und Firmen ermittelt, die noch Beziehungen zu Deutschland unterhalten. Nichts steht ihnen mehr frei als das. Alle Menschen sollen frei sein. Das ist der Sinn dieses Krieges. So steht es auch uns frei, uns nach dem Kriege dieser Leute so zu erinnern, wie wir es für weise halten.«

Und der Yonkheer Ter Meer wußte, was das hieß: Handelsboykott der Schuldigen rings um die Erdkugel. Kein Wechselkredit. Kein Laderaum. Kein Bankgiro. Kein Kauf in bar. Langsames Siechtum der Firma. Bankerott.

»Sie lassen auch manches Geld an englischen Plätzen arbeiten, mein teurer Mr. Ter Meer?«

»So ist es! Im Fernen Osten, Euer Herrlichkeit. In Südafrika. In Ägypten.«

Und es lief dem Yonkheer Ter Meer kalt über den Rücken: Zwei Drittel meines Vermögens liegen in dem großen englischen Stahlschrank verwahrt. Wenn seine Panzerflügel mir vor der Nase zuklappen, bin ich halbwegs ein ruinierter Mann . . .

»Sie tun recht, Yonkheer Ter Meer. Ruhiger kann ein Mann nicht schlafen, als wenn er überall Freunde auf der Welt weiß. Kommen Sie! Ich habe hier am Seefischmarkt den Fünfuhrtee.«

Während sie in das vornehme Restaurant eintraten, ging es Cornelis Ter Meer durch den Kopf: Wer den künftigen Herzog von Chichester zum Freund hat, der hat bei dem ganzen Angelsachsentum der Erde einen Stein im Brett. Dem steht die Welt offen, soweit sie englisch ist. Und wo endet hienieden England?

»Übrigens . . . wenn unser armer Baronet Bacharach drüben wieder in seinen Schuhen steht, wollte er mit Ihnen sprechen«, sagte der Marqueß von St. Asaphs innen im Raum und streckte, den Nacken rücklings über die Stuhllehne geworfen, die langen Beine unter den Marmortisch. »Er sagte, er wolle versuchen, Sie für sein Geschäft zu interessieren . . .«

Ein Unternehmen, an dem Sir Frederick Bacharach jemanden beteiligte, verhieß ein Vermögen. Cornelis Ter Meer schien die Luft schwül geworden. Er hörte sein Herz klopfen. Wieder Lord St. Asaphs' Stimme, nachlässig, zwischen den Zähnen:

»Sie verbringen das Wochenende auf Ogmore Castle? Der Herzog von Hareworth wird sehr froh sein, Ihre Bekanntschaft zu machen! Ihre asiatischen Anschauungen treffen sich. Auch ihm ist eine Natter lieber als ein Jap!«

In Yonkheer Ter Meer wallte die alte Sorge seines Lebens auf: Schutz Holländisch-Indiens vor dem benachbarten Inselvolk. Schutz war nur bei den Angelsachsen der Alten und Neuen Welt. Der Marqueß von St. Asaphs sagte: »Sie wissen, auch ich schätze, daß Großbritannien vor allem ein asiatischer Staat ist. Aber durch diesen Krieg wird auch Afrika ein britischer Erdteil. Australien ist es schon. Amerika gehört den Angelsachsen. Das ist die Welt!«

Ja – das war die Welt. In Cornelis Ter Meer arbeitete es schwer.

»Oh, lassen wir doch dies arme kleine Europa, Mr. Ter Meer. Wir wohnen darin, weil sein Klima unserer Gesundheit heilsam ist, so wie ein Cityman der besseren Luft wegen sein Landhaus vor der Stadt hat. Aber was ist es sonst nach diesem Krieg?«

»Wenn dieser Krieg einst gewonnen sein wird. Euer Lordschaft . . .«

»Er ist gewonnen!« Der Markgraf von Asaphs sagte es lauter und härter als bisher und wandte den dunklen Kopf, um seinem Nachbar voll ins Gesicht zu schauen. Unter dem schwarzen Schnurrbart lag ein brutaler, beinah grausamer Ausdruck um die starken Kiefer. Es war wie die erste Warnung einer Bulldogge.

»Sie wissen, lieber Herr, daß Konstantinopel nächste Woche fällt?« sagte er dann in dem alten Ton.

»Mein Gott . . .«

»Von den Höhen von Gallipoli blicken unsere Inder und Neuseeländer bis zum Goldenen Horn. Ich habe die besten, untrüglichsten Nachrichten.«

»Niemand kann bessere haben als Eure Lordschaft!«

»Ehe dieser Sommer neunzehnhundertfünfzehn zu Ende geht, fahren unsere Schiffe durch die Dardanellen, als wäre es die Themse. Die Welt da unten stürzt zusammen. Vorderasien mit.«

»Das eine zieht das andere nach sich . . .«

». . . und das alte, morsche Mitteleuropa folgt. Bis zum Herbst ist die Arbeit getan. Ich habe einen Überblick über die Kräfte der Erde, die wir organisierten. Sie sind unermeßlich!«

Der Yonkheer Ter Meer antwortete nicht. Er sah stumm und aufgeregt auf den britischen Großen, vor dem dank seiner Stellung und Geburt die Welt wie ein aufgeschlagenes Buch dalag . . .

»Dann gehen wir daran, den Globus nach den neuen Methoden, die sich in diesem Krieg durchsetzten, wieder zu ordnen. Wir Briten und unsere Freunde, Mr. Ter Meer!«

Das klang ebenso gleichgültig und selbstverständlich wie vorhin Lord Haralds Bemerkung über das Wetter und eben darum unerschütterlich sicher. Jeder Zweifel schien da nur ein Beweis für die Verblendung des Zweifelnden zu sein. Es stand da ein Wegweiser in der Welt, so lang und so groß wie der Marqueß von St. Asaphs selber. Ein Wegweiser mit zwei Armen. Der eine, der rechte, deutete in die Richtung auf Großbritannien . . .

»Sie scheinen etwas erregt, Mr. Ter Meer? Oh . . . fürchten Sie nichts! Die Überfahrt heute nacht wird ungestört sein. Ich und meine Freunde reisen ja auch mit.«

»Viele Neutrale benutzen deswegen auch den ›Robin Hood‹. Eine Reihe von Belgiern und Norwegern und Russen allein aus meinem Gasthof am Hafen.«

»Alle diese Gentlemen stehen unter Englands Schutz! Es ist kein Grund zur Unruhe, mein teurer Mr. Ter Meer.«

»Das ist es auch nicht. Die Worte Eurer Lordschaft sind es, die tiefen Eindruck auf mich machten!«

»Es sind einfache britische Worte. Ich bin ein Brite wie jeder andere! Briten sind außerstande, Dinge anders zu sagen, als sie sind.«

»Ich weiß, Marqueß Saint Asaphs!«

Sie standen vor dem Restaurant. Der Wind pfiff. Leise Regenschauer sprühten. An dem niederen Himmel flogen die Wolken.

»Nach welcher Richtung gehen Sie, Mr. Ter Meer?«

Vor Cornelis Ter Meer, nicht weit von hier, lag das Schiffskontor. Die Entscheidung seines Lebens drängte sich für ihn in diese Sekunde zusammen. Er wußte das. Er war jetzt ganz ruhig. Er drehte sich um und sagte:

»Ich begleite, wenn's beliebt, Eure Lordschaft nach dem Börsenplatz zurück . . .«

»Sehr wohl!«

». . . und gehe dann in mein Hotel, um die Überführung meines Gepäcks auf den ›Robin Hood‹ zu überwachen.«

»Sie tun recht daran. Das Gedränge wird groß.«

»Ich bin schon eine Stunde vor der Abfahrt auf Deck, Mylord.«

Um diese Zeit herrschte bereits das dumpfe Wirren und Brausen einer großen Menschenmenge um den »Robin Hood«. Die Nacht war dunkel. Das bläuliche elektrische Licht des Dampfers kämpfte mit ihrem Schwarz, in dem dessen eigene finstere Umrisse halb verschwammen. Vor seiner düsteren Bordwand standen die Leute die Boompjes hinauf in hundertköpfigen Mauern. Es war nicht das geschäftsmäßige hastige Treiben vor der Abfahrt wie sonst. Viel mehr Unruhe, Zwischenrufe, herausforderndes Lachen als Antwort von Deck, rauhe Witze von unten, aufgeregtes Gemurmel in einzelnen Gruppen . . . »De Orlog . . . de Orlog!« Angst, Spannung, Sorge, Hoffnung des Krieges fieberten über den vielen dunklen Köpfen in der kalten, sturmbewegten Nachtluft. Das Leuchten von Zeitungen in den Händen. Das Glimmen der Zigarren. Die Krane rasselten immer noch da oben mit langschwenkenden, mächtigen Armen und ruhten einen Augenblick, wenn sich die Ladung im Schiffsgrund aus den Ketten löste. In diesen Sekunden erklang plötzlich ein holländischer Ruf in der Menge, der Ruf einer einzelnen, lauten Männerstimme:

»Fahrt nicht mit dem ›Robin Hood‹!«

Johanna Ter Meer vernahm es. Alle um sie auf dem Kai. Die Köpfe wandten sich. Spähten. Da wieder, schon ferner hin, die Warnung:

»Fahrt nicht mit dem ›Robin Hood‹!«

»Wer ruft das?«

»Kann es nicht sagen, Mevrouw! Man hört es schon seit einer Stunde. Bald da, bald dort. Niemand weiß, wer es ist . . .«

»Da wollen Damen wieder von Bord!«

»Nein. Man redet ihnen zu.«

»Sie bleiben!«

Ein Lachen.

»Da kommen noch mehr Reisende!«

»Uit den Weg gaan, als het u belieft!«

Die Gepäckträger bahnten sich mit ihren Koffern einen Pfad durch die Menschenmauern. Johanna Ter Meer schlüpfte hinter ihnen in die sich gleich wieder schließende Gasse. Folgte ihnen über die Laufplanken. Stand auf dem Verdeck.

Um sie das Halbdunkel. Die Unruhe vor der Abfahrt. Fröstelnde Gestalten. Unbestimmte Umrisse. Abgerissene Worte in allen Sprachen. Nur nicht Deutsch. Gleich darauf stand ein Mensch von englischem Aussehen neben ihr. Er sagte auf englisch:

»Ihre Papiere, Madam! Es ist verboten, das Schiff ohne Ausweise zu betreten.«

»Ich will ja nicht mitfahren!«

»Einerlei!«

»Ich suche ja nur meinen Mann!«

Im selben Augenblick sah sie ihn. Er lehnte, in seinen Mantel gewickelt, ganz vorn am Heck des Dampfers. Er rührte sich nicht.

»Der holländische Gentleman?«

»Ja. Kennen Sie ihn?«

»Oh – er wurde häufig in Gesellschaft Seiner Herrlichkeit gesehen. Alles in Ordnung, Madam!«

Der britische Geheimagent war befriedigt. Aber er folgte ihr doch unauffällig, während sie auf ihren Mann zuschritt. Und trotz ihrer Erregung fühlte sie doch diese englische Überwachung hinter sich. Hinter jedem hier auf dem Schiff. Hinter jedem auf der ganzen Welt.

Cornelis Ter Meer hatte sie kommen sehen. Aber er war ihr nicht entgegengegangen. Er erwartete sie da, wo er stand. Sein Gesicht erschien ihr in dem matten bläulichen Weiß des elektrischen Lichtes verändert. Ein andächtiger Starrsinn legte seine Linien um das freundliche Wohlwollen der Mundwinkel. Es war nicht das eigensinnige Selbstbewußtsein, mit dem er sonst an seinen Meinungen und Entschlüssen festhielt. Es war wie eine Hingabe an etwas Höheres. Eine gläubige Ruhe. Vor deren unerschütterlichem Blick aus seinen grauen Augen wußte sie, noch ehe sie den Mund öffnete: es ist alles umsonst.

Und hinten, in achtungsvoller Entfernung, stand irgendwo Englands Polizei und wartete auf das Ende des Gespräches . . .

»Du fährst?«

»Ja.«

»Weißt du, was du tust?«

»Ja.«

»Und du tust es doch?«

»Ja.«

»Warum?«

»Weil ich an dich und Jan denke . . .«

»Weil du an uns denkst, verläßt du uns?«

»Weil ich an euch denke, fahre ich und sichere eure Zukunft da, wo die Zukunft der Welt liegt: in England!«

»Dann ist alles aus!«

»Nein. Dann ist alles gut. Unsere alte Welt, in der wir bisher lebten, bricht unter unseren Füßen zusammen. Jeder auf der Welt muß sich entscheiden, wohin er geht. Ich mache es wie die übrige Welt. Ich gehe zu England!«

»Dann gehe ich mit Jan nach Deutschland!«

»Ich will dich nicht hindern, wenn du deine Heimat noch einmal besuchst und von ihr Abschied nimmst, Jantje! Wenn die Dinge mir recht gegeben haben, kommst du zu mir zurück!«

»Niemals!«

»Fürchte nicht, Jantje, daß ich dich dann rauh empfange! Dazu habe ich dich viel zu lieb! Ich will dir dann ein Freund und Tröster sein nach dem Schweren und Furchtbaren, das du bis dahin erleben wirst . . .«

»Cornelis . . .«

»Wir sind nicht mehr Herren unseres Willens. Das Weltgeschick trägt uns jetzt alle und bringt uns zu der vorbestimmten Stelle. Darum wird auch unsere Trennung nur kurz sein und in neuem Glück enden. Bis dahin leb wohl, meine geliebte Jantje . . .«

»Cornelis . . . woher nimmst du diesen Glauben, für den du mich und deinen Sohn und dein eigenes Land – und vielleicht dein Leben opferst?«

Die Züge des Yonkheer Cornelis Ter Meer hatten etwas Feierliches. Er blickte wie in einer tiefen Andacht vor sich in die schwarze, unheimlich gurgelnde, pfeifende, dräuende Nacht.

»Ich glaube an England. Ich habe immer an England geglaubt. Der Glaube an England war der Leitstern meines Lebens von Jugend auf. Er hat mich immer gut geführt. Solange ich lebe, glaube ich an England . . .«

»Madam . . . die Schiffsglocke läutet!«

Der britische Geheimagent war voll Zurückhaltung nähergetreten und räusperte sich höflich.

»Was ich sage, Jantje, das sagen wie aus einem Mund zugleich mit mir Millionen von Menschen in allen Teilen der Welt, drei Viertel der Menschheit. England ist der Beschützer der Schwachen und Kleinen. England verläßt keinen, der sich ihm vertraut . . .«

»Madam . . . das Zeichen zur Abfahrt . . . Sie müssen von Bord!«

Eine Welle der Bewegung ging über das dunkle Deck. Ein Gedränge. Weinen, Lachen, Küssen, Abschiedsworte in allen Sprachen. Britische Geheimpolizisten plötzlich überall . . . »Goodbye! . . . Bon Voyage! . . . Do swidanje! . . . Sta bene! . . . Goede reis!« Tücherwinken. Schluchzen. Hoffnung. »Die Lords sind ja an Bord . . . dort steht ja ihr Gepäck. Den Lords läßt England nichts geschehen! Von der Dreimeilenzone ab fahren englische Zerstörer zum Schutz mit. Sie liegen seit Mittag draußen in See. Wasserflugzeuge fliegen uns bei Tagesanbruch von England entgegen. Niemand außer dem Kapitän weiß, nach welchem Hafen wir laufen. Oh – Gott wird helfen. Die Lords sind guter Dinge . . . sie lachen laut unten in ihren Kabinen . . . Denken Sie in London an die Ausfuhrerlaubnis, Sir! . . . Schreibt auch einmal von drüben den armen Eltern nach Brüssel auf dem bekannten Weg . . . Zwanzigtausend Fässer Butter . . . Ja, ich reise über das Eismeer weiter nach Petrograd! Telegrafiert gleich nach Gouda, wenn ihr drüben angekommen seid! Adieu . . . Adieu . . .« Die Stimmen am Ufer mußten sich schon verstärken. Eine freie Wasserfläche dehnte sich zwischen ihnen und dem Dampfer und vergrößerte sich schnell. Der düstere schwarze Schattenriß des »Robin Hood« lag draußen quer zur Ebbeströmung, trieb mit ihr ab, wirbelte sie mit den sich immer rascher drehenden Schraubenrädern zu Gischt, der weiß durch die dunkle Nacht leuchtete wie über ihm die roten und grünen Lichter, war nur noch eine undeutliche, draußen keuchende mächtige Masse, war in der Finsternis gegen die Nordsee hin verschwunden . . .

Die Gruppen auf den Boompjes verstummten, lösten sich langsam, gingen auseinander. Es wurde frei und still um Johanna Ter Meer. Sie stand einsam auf dem Kai. Starrte immer noch in das uferlose, wesenlose, unbestimmt brausende und rauschende, mächtige Nichts hinaus, das den »Robin Hood« in sich aufgenommen hatte, und kam langsam zu sich und schritt, immer noch wie im Traum, längs des Wassers in der Richtung nach dem Bahnhof.

Vier Gentlemen gingen da in einer Reihe. Alle vier sonderbarerweise mit Schiffsmützen auf dem Kopf, als seien sie Seereisende auf festem Land. Einer von ihnen, der in der Mitte, hatte die Kappe abgenommen und schlug sich damit befriedigt auf die Schenkel. Der Sturm zauste sein kurzes dunkles Haar über der riesigen, mehr als sechs Fuß langen Athletengestalt. Er war der Mittelpunkt. Die andern sprachen alle zu ihm.

»Ein guter Gedanke, Saint Asaphs!«

»Ich danke Ihnen auch für den trefflichen Rat, mein teurer Marqueß!«

»Nun mögen sie den blutigen Kasten torpedieren! Wir sind nicht darauf!«

Der Reverend Craven sprach das in bester Laune. Neben ihm meinte Mr. Neish:

»Saint Asaphs hat wahrlich recht: Im Krieg gilt jede List.«

Und der Baronet Bacharach versetzte:

»Nichts konnte besser glücken! Ich lege tausend Pfund gegen einen Farthing, daß niemand es bemerkt hat, wie wir im Augenblick der Abfahrt schnell auf der Stromseite vom Schiff in den Nachen stiegen und hundert Schritt weiter an Land gingen!«

»Sicher ist sicher!« sagte der Marqueß Harald von St. Asaphs, blieb stehen und zündete sich gelassen seine kurze Pfeife an. »Mögen uns die Deutschen nur an Bord des ›Robin Hood‹ vermuten!«

Der kleine Sir Bacharach zog fröstelnd den Mantel zusammen. Der Wind durchschauerte ihn. Er war nicht englisches Vollblut wie die abgehärteten Männer um ihn.

»Wenn sie jetzt nur nicht wirklich den ›Robin Hood‹ angreifen! Bei diesem Sturm und in dieser Nacht kommt kein Mensch an Bord mit dem Leben davon!«

»Oh – sprechen Sie doch nicht von den paar armseligen Ausländern«, versetzte Mr. Craven kurz, und sein Freund Harald St. Asaphs sagte:

»Eine um so ungestörtere Überfahrt haben wir dafür morgen. Oder ich selbst übermorgen. Ich habe morgen noch ein Ding für mich in Holland zu tun . . .«

Der Marqueß von St. Asaphs begleitete in der Frühe des nächsten Tages seine Freunde Craven und Neish im Auto die kurze Strecke maasabwärts bis zum Hoek van Holland und sah ihnen frisch lächelnd nach, während der Niederländer, mit dem sie reisten, seinen Kurs ebenso seewärts nach Dover nahm wie zu gleicher Zeit ein alter verwetterter norwegischer Dampfer, unauffällig den Baronet Bacharach an Bord bergend, von Vlissingen nach Queensborough. Dann kehrte der Markgraf zu dem gemieteten Kraftwagen zurück. Der holländische Lenker erzählte ihm aufgeregt irgend etwas, was er nicht verstand . . . er gab dem schon entlohnten Mann nochmals ein Trinkgeld, ließ ihn stehen und schlug, um seine Spur zu verwischen, wie der Hase vor den Hunden, einen Haken, indem er die Kleinbahn bestieg, die von hier nach dem Haag führte.

Als der Gentleman, der nicht weiter die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen wünschte, stand er mit hochgeschlagenem Rockkragen auf der Plattform des letzten Wagens. Der Zug rollte bimmelnd die Landstraße entlang, durch die Dörfer, über die Kanäle. Die Gegend war bis zu den Seedünen hin ein einziger großer Garten, in dem die Holländer Gemüse und unter langen Glasfensterflächen Tafelobst für London zogen. Er sah diese erstaunliche Fruchtbarkeit unter nordischem Himmel und wurde nachdenklich: Warum war dieses Land eigentlich nicht englisch?

Ein Mann, der neben ihm seine Zeitung las, sagte ihm plötzlich laut und erschrocken etwas auf holländisch. Der Lord überhörte es in eisigem Dünkel, so, als sei eine Fliege an seinem Ohr vorbeigesummt. Aus der weiten Ebene stieg der Turm der Groote Kerk über die Häuser und das viele Baumgrün des Haags empor. Der Zug hielt. Der Marqueß St. Asaphs verließ ihn. Zeitungsverkäufer umdrängten ihn und schrien ihm aufgeregt etwas in ihrer Landessprache zu. Er ging in seiner steinernen Ruhe und Länge durch sie hindurch wie durch Luft. Er wollte jetzt nichts hören. Der Völkerkrieg war ihm eigentlich augenblicklich nicht wichtiger als irgendein Boxermatch in Alt-England. Der Weltbrand nicht mehr als ein Kaminfeuer daheim. Er hatte Besseres im Kopf. In froher Laune schritt er durch die Stadt, im zuversichtlichen Bewußtsein, daß alles auf der Welt ihm gehöre. Ihm und seinem Volk. In einer kaltblütigen Überzeugung, daß die Achse der Erdkugel mitten durch die Gewölbe der Bank von England ging und daß man, wie überall hienieden, so auch dereinst im Himmel mit »Oh yes!« und »Oh no!« empfangen werden würde.

Er sah, während er aus dem Willemspark in die Javastraat trat, auf die Uhr und dachte sich: Nun ist der Yonkheer Ter Meer schon drüben und im Frühstückszug nach London. Der Gentleman muß ohne mich frühstücken. Nichts bedauerlicher als dies Mißverständnis, durch das ich die Abfahrt des Dampfers versäumte! Seine liebliche Frau ist jetzt noch daheim. Es ist wenig über zehn Uhr. Um diese Vormittagsstunde verläßt eine Lady kaum schon ihr Haus . . .

Drüben lag das Haus. Er ging darauf zu, an zwei vornehmen holländischen Herren vorbei, die, jeder mit einer Hand, ein Zeitungsblatt zwischen sich entfaltet hielten und darüber hinweg verstört zusammen sprachen. Er hätte die in großen Lettern fett gedruckte Überschrift zu lesen vermocht. Er vermied es. Es hätte etwas Unerfreuliches sein können! Derlei schob man sich aus dem Weg. Was man nicht wußte, das war nicht auf der Welt.

Das Gespräch der beiden niederländischen Provinzialkommissare verhallte hinter ihm. Die Straße vor ihm lag frei. Aber da kam von der anderen Seite ein Mann, schritt ihm entgegen, auch auf das Haus Ter Meer zu, das zwischen ihnen in der Mitte lag. Sie kamen einander langsam näher. Ihre Blicke trafen sich, ruhten unschlüssig ineinander wie zwei spielende Klingen, erkannten sich in einem jähen, wilden Zucken, während sie gleichmäßig ihren Weg fortsetzten, als führe sie das Schicksal mit unentrinnbarer Notwendigkeit widereinander. Das Antlitz des Marqueß von St. Asaphs enthüllte plötzlich, in seiner kalten Wut, seine letzten Wesenslinien, vor denen die Tünche des Gentleman, der Stuck des Lords in Brocken fielen: das Zähnezeigen eines sprungbereiten, gereizten Raubtiers. In dem Mann dort kam ihm Deutschland selbst auf zwei Beinen entgegen. Das Land, das er haßte wie kein anderes, und der Mann, den er in diesem Land am blutigsten haßte . . .

Sie ließen sich nicht aus den Augen, während sie wie zwei Kämpfer den Raum zwischen sich verkürzten. Gerade vor dem Hause Ter Meer trafen sie zusammen. Aber der Korvettenkapitän Lürsen hatte einen Schritt Vorsprung. Er benutzte ihn und stellte sich quer in die offene Gitterpforte des Vorgartens.

»Sie werden dies Haus jetzt nicht betreten!« sagte er ruhig.

»Ist es Ihr Haus?«

»Eine deutsche Frau ist darin! Und Sie werden dieser Frau nicht die Nachricht vom Tode ihres Mannes bringen – wenn sie sie nicht schon erhalten hat!«

Der Marqueß St. Asaphs hatte die Nerven eines Bullen. Aber jetzt zuckte er doch zusammen.

»Oder wissen Sie noch nicht, daß der ›Robin Hood‹ heute nacht in der Nordsee mit Mann und Maus gesunken ist?« sagte Erich Lürsen. »Niemand entkam in dem Sturm. Seit zwei Stunden ist ganz Holland davon voll . . .«

Immer noch schwieg der Lord St. Asaphs. Er dachte sich: Gut, daß ich es für nützlich hielt, nicht mit dem höllischen Kahn zu fahren!

»Ich sah es kommen und verschob deswegen gestern meine Abreise aus Holland. Und bin jetzt hier.«

Erich Lürsen zog mit einem raschen Griff die Gittertür an sich. Der andere faßte danach. Es war zu spät. Sie klirrte vor dem Lord St. Asaphs ins Schloß. Der drüben war ihm überlegen . . .

Sie standen sich Brust an Brust gegenüber wie zwei Krieger auf Tod und Leben. In dem grimmen Schweigen zwischen ihnen atmete der Haß zweier Völker, lebte der Krieg, der den Erdball in seinen Grundfesten erschütterte, der Krieg auf dem Festland, der Krieg in der Luft, der Krieg zur See und unter See, der Krieg der Kriege um das freie Meer . . .

Der Marqueß von St. Asaphs trat zurück.

»Hier ist nichts für mich zu tun. Ich wünschte nur, daß wir uns draußen einmal träfen!«

»Ich gab euch schon Gelegenheit genug, an mich zu kommen. Und werde es weiter tun. Wir alle! Wenn wieder Friede ist, dann gehört die See nicht mehr euch, sondern jedem ehrlichen Mann, der darauf segeln will!«

 


 


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