Rudolph Stratz
Das freie Meer
Rudolph Stratz

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7

Der Nebel brütete über London. Die unendliche Häusermasse lag wie eine versunkene Stadt auf dem Grund eines Meeres von zähem, gelbem, feuchtbitterem Brodem, in dem Menschengewühl und Wagenburgen schattenhaft wie graue Dunstspiegelungen durcheinanderwogten und die Lichtkreise der Laternen umsonst um die zwölfte Mittagsstunde gegen die bleiflüssige Luft kämpften. Es war, als hätten sich all die ungeheuerlichen Lügen, die in Fleet Street in den Londoner Zeitungsburgen tagtäglich ausgebrütet wurden, zu stinkenden Schwaden über den rußigen Dächern und verräucherten Straßen zusammengeballt, als zöge hier aus Oxford Street ein giftiger Nebel über die betäubte Welt. Unser Krieg ist die Lüge. Durch unsere Lüge ist der Krieg! . . .

Mr. Neish fuhr durch die verdunkelte, von unbestimmten Umrissen, wirren Tönen erfüllte Luft, rollte über das Gewimmel der Themsebrücke, über die in grauen, ungeheuren Wolkenbänken die Finsternis vom Meer heraufstrich, erreichte den Wellington-Bahnhof, hielt neben dem Zug nach Portsmouth und hatte gerade noch Zeit, mit einem Schritt vom Trittbrett seines Autos das Innere des Frühstückswagens zu gewinnen, als der sich schon in Bewegung setzte.

Über ham and eggs und steak sah er sich gegenüber den hageren jungen Reverend Craven. Die beiden, der Zeitungs- und der Gottesmann, nickten sich zu.

»Auch nach Portsmouth?«

»Oh – ich muß dabei sein!«

»Wenn wir nicht zu spät kommen!«

»Es scheint mir Nebel auch auf See. Captain Quick wird nur langsam mit seinem ›Acheron‹ laufen können.«

»Er wäre rascher gleich von Norwegen nach Schottland gefahren.«

»Aber England soll dies Schauspiel haben. So nahe von London wie möglich.«

»Guter alter Quick!«

»Er ist sehr gedrückt, der Ärmste!« Mr. Neish lachte spitzbübisch und lautlos über seinen Krümeln von grünschwarzem Stilton. »Niemand kann schmerzlicher als er das Mißverständnis bedauern, daß er aus Versehen im Mondschein die Dreimeilenzone überschritt und die ›Heidelberg‹ überfiel.«

Auch Reverend Cravens kirchliches Antlitz zuckte von stiller Heiterkeit.

»Haben wir uns schon amtlich wegen unseres Navigationsfehlers entschuldigt?«

»Ich glaube, es ging so ein Lappen ab!«

Plötzlich war es um sie hell geworden. Der Zug sauste, wie aus einem Tunnel, aus der Londoner Nebelnacht ins Freie. Lieblich, als gäbe es nicht Krieg und Kriegsgeschrei auf der Welt, lag, ein lachender Garten Alt-Englands, die Landschaft Surrey mit ihren grünen Wiesen, ihren parkartigen Baumgruppen, ihren Rennbahnen und Spielplätzen, Schlössern und Ruhesitzen unter blauem Himmel im Sonnenschein. Mr. Neish benutzte das klare Tageslicht. Er zog eine seiner Zeitungen aus der Tasche. Sie war noch druckfeucht und roch förmlich nach Londoner Nebel und Lüge, als er sie dem athletischen Kirchenmann reichte.

»Heute abend wird das Ding ausgegeben! Es steckt ein gutes Teil Geschwindigkeit darin. Mr. Neish rieb sich befriedigt die Hände. »Ein Kunststück, das uns auch Northcliffe und Pulitzer nicht nachmachen! Unser Zeichner war bei dem nächtlichen Überfall auf die ›Heidelberg‹ zugegen. Er stand frei auf Deck. Er ist jetzt noch taub von dem Donner unserer Breitseiten.«

»Gefährlich für ihn!«

»Nicht so sehr. Die ›Heidelberg‹ ahnte ja nichts Arges. Ankerte in der neutralen Zone. Ein Teil der Mannschaft war, um Lebensmittel zu holen, an Land gegangen. Der Rest lag in den Hängematten, bis auf die Wachen. Wir haben sie gut geweckt . . . haha!«

»Man erkennt es!« sprach der Clergyman, sinnend das erste Bild betrachtend. Man sah die »Heidelberg« vor Anker, manövrierunfähig, einer plötzlichen Donnerwolke gegenüber. Sah auf dem nächsten schon den Granatenhagel, der über den kleinen Kreuzer hineinfegte und rings haushohe Springbrunnen aus dem stillen Fjordspiegel steigen ließ, sah auf dem dritten Bild, wie sich die Masten des Schiffs senkten und das Heck die Tiefe suchte.

»Zwei Minuten dauerte es nur, Craven. Diese höllischen Piraten feuerten trotzdem noch, was sie konnten! Aber da, auf diesem Bild, tauchen ihre Geschützrohre schon ins Wasser. Jeder weitere Widerstand unmöglich. Da verlassen die Deutschen auf Befehl des Kommandanten das sinkende Schiff und rudern ans Land!«

»Wir haben keinen gefangen?«

»Niemanden, außer ihn selbst. Bemerken Sie hier an dem zerschossenen Ankerspill die undeutliche Gestalt eines Matrosen mit erhobenem Arm? Es war ein verwundeter Artillerist, den man vergessen hatte. Kapitän Lürsen hörte, als er als letzter in das letzte Boot stieg, die Hilferufe des Mannes. Hier sehen Sie, wie er selbst noch einmal hinaufentert, um ihn zu holen . . .«

»Ein zäher Mann! Er klettert wie eine Katze. Oh – da läßt er den Verwundeten glücklich am Seil herunter! Eine Hölle von Treffern um ihn her. Schade! Es ist, wie ich sehe, schon das letzte Bild.«

»Leider. Denn im nächsten Augenblick, ehe dieser Captain Lürsen noch selbst wieder dem geretteten Matrosen in das Boot folgen konnte, legte sich die ›Heidelberg‹ über und sank . . .«

»Und er . . .?«

»Er kam aus dem Strudel hoch, aber halb betäubt. So zogen ihn unsere Leute in ein Boot und brachten ihn an Bord des ›Acheron‹.«

»Es wäre besser, Deutsche im Wasser zu erschießen!« sagte der Reverend nachdenklich.

»Sicherlich, wenn niemand dabei ist! Hier aber sahen die Norweger vom Lande zu. Und zudem: auf die öffentliche Meinung wirkt seine Ankunft in England beruhigend. Deswegen erfolgt sie ja auch auf St. Asaphs' Rat hier in Portsmouth mit solchem Pomp. Lloyds Unterschreiber sind in bester Laune. Ich habe gleich, als ich es erfuhr, Schiffahrtsaktien gekauft.«

»Oh – ich auch!« sagte der junge Geistliche.

»Hier hinten haben wir Captain Lürsens Bild. Eine Aufnahme von Bord des ›Acheron‹.«

»Er sieht verwegen aus, wie er dasteht und mit den Offizieren plaudert . . . Er lacht ja, dieser Seeräuber!«

»Freunde schreiben mir, er sei in bester Laune.«

»Oh . . .«

»Man könne mit ihm verkehren wie mit einem britischen Gentleman! . . . Nur sein Ehrenwort, nicht zu fliehen, will er nicht geben.«

Die beiden betrachteten mit dem Interesse des Sportsmanns Erich Lürsens bartlose, zäh-energische Züge. Er stand auf dem Bild gleichmütig inmitten eines Haufens britischer Seeoffiziere. Es schien, daß er sich mit ihnen ganz gut über die wilde Jagd zwischen Gibraltar und dem Polarkreis unterhielt. Es kam in nachdenklicher Anerkennung durch Reverend Cravens Zähne:

»Er könnte Engländer sein!«

Als der Zug an der Hafenstation von Portsmouth hielt, sahen ihre geübten Augen noch nirgends in der grauen Luft des inneren Wasserspiegels und der Meerenge draußen die Umrisse eines Panzers vom »Acheron«-Typ.

»Der ›Acheron‹ ist erst bei den Needles gesichtet«, sagte der Admiral Sir James Warrington. Er stand, klein, stämmig, kupferbraunen Gesichts, eine Bulldogge zur See, in voller Uniform zwischen anderen hohen Offizieren der Königlichen Marine. Die Werften wimmelten von neugierigen Arbeitern und Matrosen. Vom Victoria-Pier in Portsmouth ab und die Parade hinunter standen die Menschen wie die Mauern. Ihre dünnen schwarzen Linien zogen sich in der dicken grauen Luft zum Nelson-Obelisken nach South-Sea und längs der Esplanade hinab bis zu vereinzelten Spähern am Seeschloß. Sie scharten sich in dunklen Klumpen gegenüber in Gosport, blaue Gestalten lugten von den Mauern von Blackhouse Fort und vom Deck der alten »Victory«, des Nelsonschen Flaggschiffs, das, dreifach weiß gebordet, im Hafen von vergangenen Tagen träumte.

Die Stunden vergingen. Es dämmerte schon leise über dem größten Kriegshafen Englands. Graue Abendnebel strichen von der See. Da wuchs etwas in ihrem Schatten, als sei ein Ungetüm der Urzeit aufgetaucht, glitt langsam, fast gespenstisch, im fahlen Zwielicht heran, wurde zu einem riesigen, sechsmal gebuckelten schwimmenden Bügeleisen, aus dem fünf Paar Riesenschnecken ihre Fühlhörner streckten, dampfte lautlos vorbei, schwang sich oben an den Königlichen Docks um den Anker, lag still . . .

Der Eintritt in dieses Reich der Werften war für die Außenwelt geschlossen. Man mußte schon ein Seemann sein, um, wie Sir James Warrington, ohne weiteres da hindurch zu gelangen, in eine der Dienstbarkassen zu steigen und über das Fallreep auf das niedere Deck des »Acheron« zu klettern. Das war kahl wie eine Tenne, aber unter den Feuerschlünden der Türme voll von Dreispitzen, goldgebordeten Mützen, blauen Mänteln und goldenen Tressen der britischen Marineoffiziere, die den gefangenen Kommandanten des deutschen Kreuzers sehen wollten.

Auch der Admiral gestand das dem Captain Wippingham, dem er oben im Pfeifen des Windes die Hand schüttelte. Er rollte seine Augen, daß das Weiße darin leuchtete. Er warf den kupferroten Bulldoggenkopf in den Nacken.

»Ehe ich mich nicht selbst davon überzeugt habe, wird mir keiner einreden, daß das ein Mann von Fleisch und Blut ist, der mit dieser satanischen Schamlosigkeit sein Spiel mit uns trieb! Ich bin ein alter Mann, aber ich schäme mich noch jetzt für England . . .«

»Kein Grund, Sir James. England hat ihn jetzt verhaftet.« Der Captain Wippingham war ein feierlicher und länglicher alter Brite – ein Gestell aus Holz und Leder, innen, wie mit Häcksel, mit Ehrbarkeit gefüllt.

»Auf wieviel Yards habt ihr das Feuer eröffnet?«

»Ich war nicht dabei, Sir James. Ich komme wie Sie vom Lande. Ich reise in einer halben Stunde wieder nach Dover zurück.«

»Über London?«

»Nicht nötig! Es geht ein großer Marinetransportzug über Redhill.«

»Gute Eisenbahnfahrt!« sprach der Admiral grimmig. »Wir alten Seeleute sind heutzutage keinen Farthing mehr wert! Unsere großen Kähne liegen hinter Drahtmaschen, der Teufel darf sagen wo! Unsere jungen Burschen auf ihren Zerstörern draußen lachen uns aus. Ich nehme an, daß dieser Deutsche auch noch ein junger Mann ist. Ich werde jetzt achterdecks gehen und ihn sehen.«

Unten, vor der Kapitänskajüte, hielten zwei Posten Wacht. Der Vorraum innen war voll von britischem buntem Tuch: Hafen- und Landoffiziere, die da neugierig warteten. Der Admiral fragte:

»Wo ist der Gefangene?«

»Drinnen beim Kommandanten. Er verabschiedet sich eben von den Schiffsoffizieren. Sie sagen, er sei ein umgänglicher alter Bursche. Man hört sie ja drinnen mit ihm lachen.«

»Ich höre es mit Widerwillen!« sagte der Admiral Sir James Warrington. Er schob mißbilligend den Unterkiefer vor, während er die Tür öffnete und, kraft seines Ranges, in das Allerheiligste des Kapitäns Quick eintrat. Ein Dutzend Offiziere, alle vom »Acheron«, standen in dem großen Zimmer. Durch den Lärm von den Deckplanken über ihnen hörte man ihre Heiterkeit. Der Mann in ihrer Mitte, der eine etwas andere Marineuniform als sie trug, hatte irgend etwas Komisches gesagt. Er selbst lachte mit, während er, die Hände in den Taschen der Bordjacke, ungezwungen an der Wand lehnte und dem Admiral so freundlich zunickte, daß jener mit unheilverkündendem Augenrollen auf ihn zutrat.

»Guter Laune, Sir – scheint es?«

»Oh – ich kann nicht klagen!«

»Sie hatten eine gute Überfahrt aus Norwegen, Sir?«

»Die Gentlemen hier taten ihr Bestes. Es ist wahrhaft selten, daß der Fuchs mit den Jägern nach Hause reitet!«

Die Briten umher lachten wieder zu dem Vergleich aus Alt-Englands Lieblingssport . . . Der Admiral sah, daß dieser Deutsche sich auf der Heimreise so ihrem englischen Gesichtskreis und ihrer englischen Art angepaßt hatte, daß sie ihn fast als ihresgleichen betrachteten. Dabei sprach er doch Englisch mit unverkennbarer deutscher Betonung und machte auch fortwährend kleine Fehler im Satzbau.

»Ich bin den Gentlemen zu warmem Dank verbunden«, sagte der Kapitän Lürsen mit nüchternem Ernst. »Ich werde ihn, sowie ich wieder in Deutschland bin, noch schriftlich wiederholen!«

»Oh – oh . . .«

»In Deutschland, Sir?«

»Gewiß! . . . Ich möchte mich gerade dieses Mal nicht zu lange in England aufhalten!«

»Das erzählt der Captain alle Tage, Sir James!«

»Würden Sie einem alten Mann eine neugierige Frage gestatten, Sir?«

»Ich bin Euer Exzellenz gehorsamer Diener!«

»Es mag deutsche Gewohnheit sein, in so ernsten Lagen, wie Sie sich befinden, belustigt mit den Augen zu zwinkern . . . ich möchte mich nur bescheiden erkundigen, warum dieser humoristische Ausdruck gerade mir gilt!«

»Es ist ja nur die Überraschung des Wiedersehens, Sir James.«

»Sie kennen mich?«

»Ich war dem Schicksal für diese Ehre dankbar, Sir James.«

»Wo?«

»Nun: in Cadiz!«

»Wann?«

»Mein Gott, diesen Winter!« sagte Erich Lürsen harmlos und fast verwundert. »Als ich mir dort nachts ein paar Orangen für die ›Heidelberg‹ holte!«

»In jener Teufelsnacht?«

»Ich fand das Wetter angenehm.«

»Da waren Sie an Land?«

»Ich saß Ihnen gegenüber, Sir.«

»Herr . . . es ist unmöglich!«

»Unmöglich ist nichts. Auch nicht im Café Inglès am Konstitutionsplatz in Cadiz!«

»Es stimmt!«

»Wir unterhielten uns. Sie gaben mir noch wertvolle Winke über die Hafenausfahrt . . .«

»Herr . . . nein!«

». . . und über die Stellung der britischen Schiffe draußen . . .«

»Niemals würde ich einem Neutralen derlei erzählt haben! Denn ich nehme an, daß Sie nicht noch die Dreistigkeit haben werden, zu sagen, daß Sie mir in deutscher Uniform gegenübergesessen hätten?«

»O nein, in englischer!«

»Was?«

»Ich finde, man bewegt sich in ihr freier . . .«

»Herr . . .«

»Ich sehe mit Betrübnis, daß der kleine Vorfall Sie noch in der Erinnerung erregt. Erwähnen wir ihn nicht weiter!«

»Herr! Es geht um meine Ehre und Reputation! Gott sei Dank, all diese Gentlemen hier sind in der Lage, festzustellen, daß Sie gegen die Wahrheit wüten wie Ihre Landsleute drüben gegen die Kathedralen!«

»Wir achten beides, Sir James!«

»Ich will nicht klüger sein als mein Volk, aber niemals würde auch der vertrauensvollste Brite Sie auch nur einen Augenblick für seinen Landsmann halten. Durch jedes Wort klingt ja Ihre rauhe deutsche Betonung! In jedem Satz verstoßen Sie gegen die Gesetze unserer Sprache – so wie Ihre Landsleute draußen gegen die Gesetze des Völkerrechts. Nicht eine Minute, und Sie sind erkannt!«

»Ich wette um das Gegenteil, Sir James!«

»Das nenne ich kindisch gesprochen, Sir. Wen hier wollen Sie denn täuschen? Jeder im Kreise weiß nur zu gut, wer Sie sind.«

»Die Gentlemen draußen, deren Stimmen man aus dem Vorraum hört, haben mich nie gesehen. Ich verpflichte mich, unter sie zu treten und mich mit ihnen beliebig lange zu unterhalten, ohne daß sie mich erkennen . . .«

». . . nicht einmal an Ihrem fremdartigen Rock?«

»Nein! Das allerdings nicht! Hallo – old Jack!«

In der Ecke der Kajüte stand ein Bursche mit Mütze und Mantel seines am Tisch sitzenden und mit dem Übernahmeprotokoll beschäftigten Herrn. Der Offizier von der Hafenbehörde war so über seine Arbeit gebeugt, daß er gar nicht beachtete, wie Erich Lürsen sich den dunkelblauen Mantel um die Schultern warf und die goldbetreßte Mütze aufsetzte.

»Eine Wette, Sir James, daß mich die Gentlemen im Vorraum für ein Mitglied der Royal Navy halten?«

»Oh, nein . . . Das geht zu weit!«

»Laßt ihn doch!«

»Er ist ein toller Bursche. So voll Schnurren war er schon unterwegs auf See!«

»Wollen wir beide wetten, Tolliday?«

»Zwei auf, Ritchie!«

Die angelsächsische Sport- und Wettlust war wach.

»Welch ein blutiger Witz, wenn sie ihn da draußen auslachen!«

»Es kann ja nichts passieren!«

»Es steht ja die Wache vor der Tür auf dem Gang!«

Sir James Warrington räusperte sich erbittert mit puterrotem Kopf.

»Nichts wäre mir erwünschter, als dies Gelächter draußen zu hören«, sagte er. »Es wäre meine glorreichste Rechtfertigung gegen den schmählichen Verdacht, als ob ich, ich, ein Brite, ihn hätte in Cadiz für meinen Landsmann halten können!«

Oben auf Deck war ein Poltern auf den Planken, das seine letzten Worte verschlang . . . es schien, daß Matrosen ein Faß rollten. Man konnte in dieser Minute nicht hören, was hinter der halbangelehnten Tür gesprochen wurde, durch die Erich Lürsen in den Vorraum getreten war. Dann verlor sich der Lärm über der Kabine.

»Jetzt wird es still!«

Nebenan war wirklich alles ruhig.

»Warum spricht er denn so leise?«

»Man hört überhaupt keine Stimme!«

»Er wagt nicht den Mund aufzumachen, weil er weiß, daß ihn seine deutsche Aussprache sofort verrät!«

»Dann holt ihn lieber wieder herein!«

»Aber die Wetten?«

»Verloren!«

»Nein, totes Rennen!«

»Oh – ich verlange den Spruch eines Unparteiischen!«

In dem Stimmengewirr hatte der Leutnant Tolliday die Tür geöffnet. Sein Mund stand plötzlich ebenso weit auf wie sie. Seine wasserblauen Augen schauten verglast aus dem sommersprossigen Gesicht.

»Er ist nicht da!«

»Und die Gentlemen im Vorraum machen gleichmütige Gesichter!«

»Seid ihr Briten? . . . Wozu, bei Gottes Barmherzigkeit, steht ihr denn da?«

»Wir hoffen, den Deutschen zu sehen.«

»Ich möchte ihn knipsen, wenn er hier durchgeführt wird.«

»Ich war auf einem der versenkten Schiffe. Ich würde gern ein Wort mit ihm sprechen, wenn er hier hereinkommt . . .«

»Aber er kam ja eben zu euch herein!«

»Wer?«

»Er leibhaftig . . .«

»Wahrlich nicht, Sir. Niemand kam durch als jetzt eben ein britischer Offizier.«

»Das war er ja!«

»Unmöglich, Gentlemen! Er trug Mantel und Mütze der Königlichen Marine!«

»Haha, meinen Mantel . . . meine Mütze!«

»Und was tat er, beschwöre ich euch?«

»Nichts. Er schien im Dienst. Er ging rasch zwischen uns durch, aus dieser Tür herein und durch jene hinaus . . .«

»Und die Wache draußen . . . he . . . habt ihr geschlafen?«

»Auf Posten nichts Neues!«

»Nichts Neues! Haha . . . und der Deutsche, der eben herauskam . . .?«

»Da war kein Deutscher . . . Nur ein britischer Offizier. Wir erwiesen ihm die vorgeschriebene Ehrenbezeigung, Euer Exzellenz!«

»Haltet den armen alten Warrington! Er kriegt einen Lachkrampf vor Wut!«

»Und der Offizier?«

»Er stieg schnell auf Deck, Sir.«

»Die Burschen können nichts dafür!«

»Wir selbst sind die . . .«

»Oh . . . sprechen Sie es nicht aus, was wir sind!«

»Er kann ja noch nicht von Bord sein!«

»Auf Deck! Auf Deck!«

»Da – der Warrant-Offizier weiß Bescheid!«

»Wo ist der Captain, der eben heraufstieg?«

»Sprang gerade noch in die Dampfbarkasse, Sir, ehe sie vom Fallreep freikam!« meldete der Deckoffizier.

»Und die Barkasse?«

»Hielt Kurs auf den Pier von South-Jetty, Sir. Fuhr schnell, Sir . . . Ist jetzt wohl schon an Land, Sir!«

Um die niedere Bordwand des Panzers glucksten die kleinen Hafenwellen. Die Nacht dehnte sich um ihn so schwarz, wie er selber war, hüllte Wasser und Werften, Schiffe und Festungswerke in ein gleichmäßiges Dunkel, in dem nur vereinzelte schwache Lichtpunkte glimmten. Lange weiße Lichtbahnen der Scheinwerfer fegten unablässig und aufgeregt am Nachthimmel hin. Es schien, als suchten sie schon da oben in den Lüften nach dem Korvettenkapitän Erich Lürsen.

»Zu denken, daß wir ihn noch eigens nach England gebracht haben . . . Er stiftet das größte Unheil an, wenn er hier auch nur eine Stunde frei umhergeht!«

»Wir müssen ihn fassen!«

»Wie sah er aus, Gentlemen?«

»Glattrasiert, mittelgroß, blond, mit blauen Augen . . .«

Stumme gegenseitige Blicke, während das Motorboot rasend durch die Wellen schoß. Man konnte ebensogut ein bestimmtes Sandkorn suchen als hier einen glattrasierten, blauäugigen, blonden, mittelgroßen Gentleman in britischer Marineuniform unter tausend seinesgleichen und Hunderten von Landoffizieren dieses englischen Potsdam.

»Vor allem jetzt an die Bahnhöfe . . .«

»An die Hafenstation!«

»Sicher ist er dort. Es sind ja nur ein paar hundert Ellen bis dahin.«

Das Stationsgebäude für den Verkehr nach der Insel Wight war dunkel. Die Halle leer. Ein Beamter stand in ihr und rief höflich: »Der Gentleman von der Königlichen Marine kam gerade noch zurecht. Er lief neben dem Zug her und schwang sich hinein!«

»Wohin fährt der Zug?«

»Schnellzug nach London.«

»Wo hält er?«

»Nirgends.«

»Wo kann man ihn frühestens anhalten?«

Der Bahnhofsvorstand riß die Augen auf. Dann stürmte er, als er den Sachverhalt erfahren, in das Telegrafenzimmer. Der Apparat hämmerte wie ein Maschinengewehr. Nach zwei Minuten kam er zurück.

»Knallerbsen und Lichtzeichen zwischen Winchester und Worthy, Gentlemen! Zug kommt in ein paar Minuten dort zum Stehen.«

»Wie weit von hier?«

»Keine fünfzehn Meilen . . .«

»Wir müssen nach!«

Der Rennwagen der Admiralität mit den bewaffneten Matrosen auf dem Trittbrett schoß durch das Dunkel heran. Zugleich erschien der Bahnbeamte von neuem. Er schwang triumphierend einen Telegrafenstreifen.

»Rückmeldung: Alles in Ordnung, Gentlemen! Zug gestellt. Mann verhaftet. Schlief. Tat erstaunt . . .«

»Ja – ja – wir kennen ihn . . .«

». . . sitzt unter Bewachung in Worthy-Junction und trinkt einen Whisky.«

»Mög' er sich die Hölle in den Hals trinken!«

»Oh – seien wir froh, daß wir ihn wiederhaben!«

»Nur nichts davon in die Öffentlichkeit dringen lassen! Es war ein kleiner Irrtum. Nicht der Rede wert!«

»Ich telefoniere gleich überallhin, daß der Fall erledigt ist.«

»Wir holen ihn unterdessen. Vorwärts! Schneller! Das ist ja ein Tempo, daß meine alte Tante nebenherlaufen könnte!«

»Nichts zu machen bei Nacht und Nebel, Sir. Unter einer Stunde schaffe ich es nicht bis Worthy!«

Aber die zweite Stunde war schon lange verstrichen, als man endlich vor dem kleinen, still daliegenden Eisenbahnknotenpunkt Worthy hielt.

In dem kleinen, nächtig leeren Glasraum des Bahnhofsbüfetts saß ein Gentleman in Marineuniform, rechts und links von ihm zwei Polizisten. Man konnte sein Gesicht nicht sehen. Denn er hielt die ›Times‹ fernsichtig weit davor und ließ zuweilen das Whiskyglas hinter ihr verschwinden. Beim Nahen der Schritte senkte er das Blatt, nahm die Brille von der Nase und legte sie mit dem Ausdruck gekränkter Würde auf dem länglich ehrbaren Gesicht beiseite.

»Wippingham!«

»Captain Wippingham!«

»Darf ich fragen, Gentlemen, ob wir noch in England leben oder in einem Tollhaus?« frug der alte Brite streng. Ich wäre begierig, zu erfahren, warum man ein ruhig schlummerndes Mitglied der Royal Navy K. C. B. und R. C. M. G. bei Nacht und Nebel aus einem Zugabteil zerrt und hier bei einem höchst mittelmäßigen Whisky gefangenhält?«

»Wie um Jesu willen kamen Sie in den Zug?«

»Ich sprang im letzten Augenblick hinein! Ich erfuhr, daß der Truppentransportzug von Waterling Island erst in einer halben Stunde gehen sollte. So fand ich, daß ich mit dem Schnellzug über London noch rascher nach Dover käme . . .«

»Und diese Narren haben den armen alten Wippingham verhaftet!«

»Es ist ein Schandfleck für England, daß ich jetzt noch nicht weiß, warum. Sie sagten, ich sei der einzige Mann in Uniform im Zug!«

»So fuhr der Deutsche gar nicht mit!«

»Nun können wir ihn suchen!«

»Man muß alle Züge anhalten lassen.«

»Gentlemen, ich traue dem Burschen manche Dreistigkeit zu. Aber daß er den Zynismus seiner Rasse so weit treiben sollte, als Offizier Seiner Britischen Majestät in einem britischen Transportzug von Portsmouth nach Dover zu reisen . . .«

»Er müßte sich doch ausweisen!«

»Er hat ja Hutchinsons Mantel an, in dem dessen amtliche Ausweise und sein Freifahrtschein stecken!«

»Auf den hin stehen ihm alle Bahnen im Vereinigten Königreich zur Verfügung.«

»Verdammt!«

»Er ist der Mann dazu, das zu benutzen.«

»Dann wäre er jetzt schon unterwegs?«

»Schon seit mehreren Stunden!«

»Drahten Sie nach Scotland-Yard, Tolliday . . . und Sie nach Portsmouth, Dickson . . . Sie, Ritchie, an die Admiralität. Es ist keine Sekunde zu verlieren!«

»Wenn an der Meinung eines alten Briten noch irgend etwas gelegen ist«, sagte Mr. Wippingham traurig, »so möchte ich behaupten, es wäre besser gewesen, eine Klapperschlange zu importieren, als diesen Mann über See nach England zu bringen . . .«

Die Morseapparate hämmerten. Die Zeichen zitterten im Draht über Land. Ein langer Militärzug hielt zwischen Ashford und Dover auf freier Strecke plötzlich still. Um ihn war Windbrausen von der nahen See und dunkle Nacht. Er selbst war dunkel wie eine schwarze Riesenschlange . . . die Wagen waren wegen der Fliegergefahr unbeleuchtet. Nur die Zigarettenpünktchen glimmten. Vorübergehend glühte es aus einer Stummelpfeife auf . . . Der blutjunge Schottenleutnant, der noch vor kurzem als Student in Cambridge den Fußball getrieben hatte, stopfte sich den Pfeifenkopf neu und sagte zu dem Marineoffizier in der Ecke ihm gegenüber, mit dem er allein in dem Abteil erster Klasse saß:

»Wir halten.«

»Es scheint so.«

»Warum wohl?«

»Weiß nicht, Sir . . . Wachte eben auf.«

Ein Schweigen. Dann erkundigte sich der Knabe in dem gewürfelten Knieröckchen und der Stoßfeder an der Mütze, während er prüfend an seiner Pipe sog:

»Lange in Portsmouth gewesen, Sir?«

»Nur eine Stunde. Ich ging an Land und bummelte durch die Werften und Docks zum Zug.«

»Ihr Seeleute dürft das! Können Sie sich vorstellen, daß sonst der Eintritt in die Docks sogar uns Landoffizieren streng verboten ist?«

»Vorsicht tut auch not . . . Ich habe da heute wieder in aller Eile grimmige Geheimnisse geschaut . . .«

»Das glaub' ich!«

»Wenn zuviel Männer davon wissen, könnten es eines schönen Tages auch einmal die Deutschen erfahren . . .«

»Das wäre eine schöne Geschichte! Aber ich möchte nur wissen, warum wir nicht weiterfahren?«

Der junge Schotte öffnete das Fenster und steckte den Kopf in die Nacht hinaus, in deren Finsternis zuweilen zwischen den jagenden Wolkenmassen das Mondlicht unruhig aufblaute und wieder verschwand.

»Es stehen Posten längs des Bahnkörpers. Sonderbar. Es geht eine große Offizierspatrouille den Zug entlang. Sie öffnen alle Türen, rufen etwas aus . . .«

»Niemand aussteigen!«

Es klang von fern. Stimmen wiederholten es bis zum Ende des Zuges: »Niemand aussteigen!« . . . Dann, im Näherkommen der Offizierspatrouille, immer dieselbe Frage in jedes Wagenabteil:

»Captain Hutchinson von der Royal Navy hier? . . . Eure Papiere, Gentlemen, wenn's beliebt!«

Der Zug war lang. Es dauerte wohl noch fünf Minuten, bis die Ronde zu ihm herankam.

»Hochländer, Sir? . . . Danke. Noch jemand dort?«

»Ja, ein Gentleman. Königliche Marine!«

»Oh – öffnen Sie!«

»Wo sitzt er?«

»Dort in der Ecke . . .«

Ein Laternenstrahl leuchtete in das Polsterdunkel hinein.

»Die Ecke ist leer!«

»Was?«

»Niemand außer Ihnen im Abteil!«

»Er wird wohl, während ich hier herausschaute, auf der anderen Seite ausgestiegen sein«, meinte der Knabe im Schottenrock harmlos.

»Um Gottes willen . . .«

»Nun . . . er kommt wohl gleich wieder . . .«

»Wie sah er aus? Sie . . . ich beschwöre Sie!«

»Ich schätze, noch nicht Fünfunddreißig. Blond. Blaue Augen. Kein Bart. Mittelgroß. Ein munterer alter Bursche. Wir haben eine Stunde lang so angenehm geplaudert, als säßen wir vor dem Kamin. Er ließ sich von mir viel über unsere Armee erzählen . . .!«

»Und Sie taten es, Sir?«

»Oh, gern! Er sagte, er sei dabei gewesen, als man den Kommandanten der ›Heidelberg‹ fing . . .«

»Allerdings! Er ist's!«

»Er kann noch nicht weit sein!«

»Ihm nach!«

»Besonnenheit, Gentlemen! In einer Stunde graut der Morgen. Bis dahin alarmieren wir den ganzen Teil der Grafschaft und machen ein Kesseltreiben von allen Seiten. Da ist kein Wald. Kein Versteck. Nur die freien Hügel und hinten das Meer . . .«

»Bis zum Frühstück ist der Fuchs schon ausgegraben . . .«

 


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