Rudolph Stratz
Das freie Meer
Rudolph Stratz

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14

Da war, im Flimmergrau der See, die lange schmale Landzunge des Hoek van Holland. Da war auf einmal, nach dem Sturm der Welt draußen, der seltsame Friede des neutralen Kleinstaats, als wäre man eben erst auf einer Insel gelandet, statt von ihr zu kommen – dieser Festlandsinsel der Windmühlen und Kanäle, der grünen Wiesen und gefleckten Kühe, dieser Insel, in deren altmodischen Gasthäusern die Angehörigen der streitenden Völker Tür an Tür wohnten, in deren Buchläden die Zeitungen der Todfeinde in drei, vier Sprachen friedlich nebeneinander hingen.

Der Yonkheer Ter Meer kaufte sich sofort ein halbes Dutzend niederländischer Blätter. In ihnen hatte kein Rotstift eines englischen Zensors gewütet. Er vertiefte sich in sie auf der kurzen Eisenbahnfahrt nach dem Haag. Auch seine Frau, mit der er kaum ein Wort sprach, nahm eine der Zeitungen vor und schlug hastig, als suche sie eine bestimmte Nachricht, die Seite um. Zu seinem Erstaunen sah er, daß sie die letzten Spalten mit der Liste der Schiffsbewegungen durchmusterte, die »Binnenlandsche Havers«, die Ankünfte in holländischen Häfen, gespannt, beinahe ängstlich.

Dann legte sie die Zeitung hin.

»Es ist nichts«, sagte sie. »Wach auf, Jan! Da ist die Hollandsche Spoorweg-Station.«

Von diesem Bahnhof fuhr Cornelis Ter Meer schon am nächsten Morgen aus dem Haag nach Rotterdam hinüber. Er kam spät abends zurück, finster und wortkarg, in gedrückter Unruhe. Am folgenden Tag machte er sich wieder auf den Weg. Es war nichts Ungewöhnliches, daß man täglich von 's Gravenhaage nach Rotterdam reiste oder nach Amsterdam oder nach Utrecht. Dies ganze städtewimmelnde westliche Holland zwischen Maas und Zuidersee bildete eigentlich nur eine einzige große, von Gemüsegärten und Viehweiden unterbrochene Stadt. Trotzdem setzte der Yonkheer Ter Meer, während er den Hut ergriff, mit einer bei ihm ungewohnten Heftigkeit hinzu:

»Ich soll nu zu dem Engelschen Konsulat gehen und schauen, daß ich mit Groot-Britannie wieder in Ordnung komme. Ich bin dort verdachtgemerkt . . . durch deine Schuld! Sie achten in London auf jeden. Groot-Britannie ist überall . . .«

»Ja, auch in dir. Aber in mir ist England nicht. Du hast nun einmal eine deutsche Frau . . .«

Er antwortete nicht. Es war in seinem Schweigen beinah etwas wie: Hätte ich sie lieber nicht!

»Überall auf der Welt kämpfen jetzt Deutschland und England miteinander, Cornelis. Nun auch hier in der Javastraat in unserm Haus . . .«

»Da ist niets zu kämpfen. Du bist meine Ehegenossin. Du bist mir nach Nederland gefolgt.«

»Ja. Aber nicht nach England!«

»Alle Handelssachen aller Menschen staan unter Groot-Britanniens Schutz. Kein Steamer kommt aus Java in den Nieuwen Waterweg und nach Maasluis, wenn es Groot-Britannie nicht will!«

»Deutschland und England sind im Krieg, Cornelis. So wenig Deutschland nachgibt, so wenig gebe ich hier England nach!«

Der Yonkheer machte zwei Schritte zur Tür und wieder halt.

»Cornelis, du bist doch ein guter Mensch. Du hast mich doch lieb! . . . Lasse deine Freunde in Rotterdam umsonst warten. Bleibe hier – bei mir! Vielleicht verstehen wir uns noch einmal wieder.«

Cornelis Ter Meer stand unschlüssig da, sah mechanisch auf die Uhr, zuckte zusammen.

»Nu gaat de Train ab«, sagte er wie im Selbstgespräch.

»Nimm es als Zeichen!«

»Ich kann den Bommel-Train auf dem Staats-Spoorweg noch erreichen. Dann komm ich noch zurecht naar Rotterdam.«

Er eilte davon. Ihr war es, als sei das nicht ihr Mann, der da rascheren Schrittes, als ihm seine bedächtige Art sonst gestattete, um die Ecke bog, sondern die Menschheit selber, die England gehorchte . . .

Sie war allein in der großen, reichen Wohnung in der Javastraat, in der in allen Räumen und von allen Wänden die bunten, fratzenhaften Träume Indiens, die Schnörkel Chinas, die Masken Japans auf sie eingrinsten. Jetzt erschien ihr die weite Welt, einst ihre selbst gewählte Heimat, fremd und feindlich und unheimlich. Es war ein Heimweh nach Deutschland und manchem, was in Deutschland war. Gegen Mittag schickte sie die Jungfer und ließ sich den Amsterdamer »Telegraaf« holen. Sie nahm ihn hastig dem Kammermeisje aus der Hand, kümmerte sich nicht um die Anpöbelungen Deutschlands auf der ersten Seite, durchflog die letzte Spalte, legte ihn weg. Und ebenso am Abend und am nächsten Tag. Wieder nichts! . . . Sie sagte sich, nachdem sie die Schiffsliste umsonst überflogen: Solch ein norwegischer Trampdampfer ist kein Windhund. Er läßt sich Zeit . . . Aber da stand es endlich am nächsten Morgen im »Algemeen Handelsblad« in der Liste des Amsterdamer Hafens: Aangekomen »Olaf Kyrre«, S. Southampton.

Johanna Ter Meer atmete auf. Lächelte zum erstenmal, seit sie England verlassen.

»Haben Sie gute Nachrichten aus Deutschland?« fragte sie am Nachmittag der Altertumsforscher Dr. Fockema aus Leyden, während er ihr beim Tee in dem kleinen Drachenzimmer gegenüber saß. »Sie sehen so heiter aus, Mevrouw Johanna.«

Der gelehrte alte Friese legte mehrmals im Monat die paar Meilen von Leyden nach dem Haag als Fußwanderer zurück, um Johanna Ter Meers Nachmittagskreis zu besuchen. Sie nickte ihm zu.

»Ja, Professor. Freuen Sie sich mit mir! Ich weiß, Sie meinen es nicht böse mit Deutschland.«

Keiner von denen, die da herumsaßen. Der kleine weißbärtige Mynheer van Buren, der berühmte Maler, der jeden Vormittag seit Jahrzehnten drunten in Scheveningen im alten Fischerdorf am offenen Fenster saß und das Meer malte, immer das Meer, das Meer in Sonne und Nebel, das Meer in Sturm und Stille, das Meer in Wolkenzug und Winterweiß, das ewige Meer. Der musikliebende Rechtsanwalt de Meester, der im Frieden keine der Richard-Wagner-Vorstellungen der Theatergemeinde in der Grooten Schouwburg in Rotterdam versäumte, der reiche Kunstsammler und Kunsthändler da Costa, der eigens aus Amsterdam herübergekommen war. Das waren die Holländer, die Wissenschaft und Kunst mit Deutschland verbanden. Sie waren feinsinnig. Sie waren still. Sie hielten sich zurück. Sie und die ihres Geistes in vielen Ländern. Draußen lärmte unterdessen durch den Donner der Kanonen der Jahrmarkt der Erde vom Tam-Tam der Yankees und der Marktschreierei des Angelsachsentums.

Draußen war der Krieg. Warf auch in die scheue Zurückgezogenheit der Studios und Büchereien, der Museen und Musikzimmer seinen roten Widerschein. Schließlich sprachen sie auch hier vom Krieg. Der Mynheer da Costa sagte:

»Mein Neef Pieter kam dieser Tage glücklich aus England herüber. Es war eine erschreckliche Fahrt. Obwohl alles in Ordnung war, wurde das Schiff dreimal unterwegs angehalten und durchsucht. Ein britischer Zerstörer dampfte bis zur Höhe von Ijmuiden nebenher!«

»Warum denn?« fragte Juffrouw Kalff, die Blumenmalerin.

»Es war ein dunkles Vorkommnis vor der Abfahrt im Hafen. Nicht auf dem Schiff selbst. Daneben, an Land. Geheimpolizei lauerte auf einen verdächtigen Mann. Man hörte Schreie und Flüche und Signalpfiffe. Dann war auf einmal alles still.«

»Wie hieß das Schiff, Mynheer da Costa?«

»›Olaf Kyrre‹, ein Norweger.«

Da Johanna Ter Meer nicht antwortete, beteiligte sich der Amsterdamer Kunsthändler wieder am Gespräch der andern. In dem lebte der Krieg als Sehnsucht nach dem Frieden, der versunkenen goldenen Zeit der Kleinstaaten, da sie, gehegt und beschirmt von den bis an die Zähne bewaffneten Riesen Europas, all die Kräfte, die jene zum Kampf gegeneinander rüsteten, im bunten Schmuck des Lebens durch Kunst und Wissenschaft entwickeln konnten und sich so schließlich den Großen schon beinahe überlegen dünkten. Da Costa, der weltkundige Spaniole, konnte sich in die Seelen all der feindlichen Nachbarn im Westen, im Osten und überm Meer hineinversetzen und sagte:

»Ihre Gedanken sind jetzt eben wohl auch in Ihrer einstigen deutschen Heimat, Mevrouw Ter Meer?«

Johanna Ter Meer fuhr aus ihrer Geistesabwesenheit auf und schaute den kleinen dunklen Mynheer verständnislos an. Dann fragte sie:

»Ist Ihr Vetter noch in Amsterdam?«

Jawohl, der Neef hielt sich noch dort auf. Er organisierte dort mit an der Massenausfuhr europäischer Kunstaltertümer über Skandinavien und Holland nach der Neuen Welt, an dem riesigen, seit Kriegsbeginn geführten, plündernden Beutezug der Neuyorker Bankräuber, die Granaten schickten und Rembrandts holten, giftige Gase gegen Meisterwerke der Renaissance eintauschten, die Menschen Europas um ihr Kulturerbe ärmer machten und ihnen dafür die Mittel gaben, sich gegenseitig zu töten.

»Ich habe eine Bitte, Mynheer da Costa. Fragen Sie doch Ihren Neffen, ob er noch mehr über die Ereignisse auf dem ›Olaf Kyrre‹ weiß.«

»Gern, Mevrouw! Ich werde Ihnen den kommenden Vormittag aus Amsterdam Bescheid sagen.«

Um zehn Uhr des nächsten Morgens hörte Johanna Ter Meer durch den Fernsprecher seine Stimme. Der Neef ließ melden, viel mehr wisse er auch nicht. Aber er habe die Meinung, daß der Unbekannte, um den es sich handelte, entkommen sei, denn man habe von dem Dampfer aus ein wiederholtes »Damned!« vom Ufer gehört. Wer Briten kenne, wisse, was das bedeutet.

Als Johanna Ter Meer von dem Fernsprecher zurücktrat, legte sie die Hand auf das klopfende Herz. Dann dachte sie, es könne vielleicht in den Londoner Blättern etwas von dem Vorfall stehen. Aber die rasch geholte »Daily Mail« enthielt keine Silbe aus Portsmouth. Und würde auch keine bringen. England behielt seine Geheimnisse für sich. Es wurde Johanna Ter Meer klar, daß sie vielleicht Monate lang, vielleicht bis zum Ende des Krieges, nicht erfahren würde, was aus Erich Lürsen geworden.

Die Unruhe trieb sie hinaus in das Parkgrün der Boschjes bis in das Reich der niederen kahlen Sanddünen, die die Nähe der Nordsee verrieten. Immer noch stand daneben, vom Zaren, dem Entfeßler des Weltkrieges, erdacht, vom Yankee, dem Ernährer des Weltkrieges, gestiftet, der Friedenspalast im Haag. Sein Gittertor von deutscher Arbeit war geschlossen. Sie ging daran vorbei und kehrte durch die Javastraat nach Hause zurück. Als sie eintrat, hörte sie vom Flur aus das Kammermeisje Betje und dazwischen eine Männerstimme. Beide lachten. Es schien eine mühsame Unterhaltung. Bei ihm in ganz langsamem, sich dem Platten und so dem Holländischen näherndem Deutsch. Betje dagegen war öfters mit ihrer Herrin in Deutschland gewesen. Sie kannte den Tonfall und ein paar Brocken der deutschen Sprache und bemühte sich, den Fremden zu verstehen:

»Spreekt u eens wat langsamer, Mynheer«, bat sie. Und der Besucher wiederholte:

»Is Mevrouw Ter Meer te Hus?«

»Mevrouw is niet thuis!«

»Um Gottes willen . . . ist Mevrouw noch in England?«

»In Engeland? O neen, Mynheer.«

»In Deutschland?«

»O neen, Mynheer.«

»Aber wo denn?«

»Da kommt Mevrouw terug!«

Der Fremde, von dem Johanna Ter Meer bisher nur den hellblonden, kurz geschorenen Hinterkopf mit dem sonnverbrannten Nacken über dem grauen Sommeranzug gesehen, drehte sich um und nahm, fast ehe sie ihn noch erkennen konnte, freundschaftlich ihre kleine weiße Hand in seine tiefbraune Rechte und schüttelte sie kräftig und unbefangen.

»Da sind wir nun wohl wieder beisammen, gnädige Frau«, sagte er, und sie sah das Lachen in Erich Lürsens hellblauen Augen, und wie sich das beim Anblick ihres Staunens auf den trocknen Ernst um seine Mundwinkel herum fortpflanzte. »Das hätten Sie wohl nicht gedacht – nich?«

»Aber wo kommen Sie denn her?«

»Ja – das ist ein snurrig Ding! Erzähl' ich später. Jetzt bin ich auf dem Weg von Zeebrügge nach Bremen, 'n büschen Urlaub – nich?«

»Aber doch nicht über Holland!«

»Tja . . . das war ja wohl komisch! Wie ich in Antwerpen war – da dachte ich – da liegt ja das gute alte Holland gleich quer über. Da soll ich doch mal nachschauen, wie's da geht. Und da fuhr ich ja denn so sachte über die Grenze nach Rosendaal und hierher . . .«

Johanna Ter Meer dachte sich: An der deutschen Grenze erwarten ihn Jubel und hundert Händedrücke. Glückwünsche von Vorgesetzten. Hohe Orden . . . sein Name in aller Mund. Und doch findet er vorher rasch den Weg hierher . . . zu mir . . .

Sie war sehr blaß geworden und sagte:

»Bitte, treten Sie ein, Herr Kapitän.«

Erich Lürsen schien ihre Beklommenheit nicht zu merken oder wollte es nicht. Er sah sich in seiner nüchternen Art in dem kleinen Drachenzimmer um.

»Also so wohnen Sie?« sagte er. »Das hab' ich mir gedacht.«

»Wieso?«

»In China war ich einmal bei einem richtigen alten Mandarinen zu Gast. Der Großpapa mit dem langen Zopf war genau so eingerichtet . . . Was hängt denn da? Ein Bild von München? Wie kommt denn auf einmal ein ganz gewöhnliches deutsches Bild in all das wunderschöne Ausland hinein, Mevrouw Ter Meer?«

Während er das sagte, war es ihr wirklich, als sei der vergilbte kleine Kupferstich, den sie einst aus reiner Laune zwischen zwei dickbäuchige chinesische Bonzen gehängt, der Rest von dem, was ihr von Deutschland geblieben. Ein armes Überbleibsel in verwirrender bunter Fremde . . .

»Ach, lassen Sie den Spott, Herr Lürsen. Setzen Sie sich lieber und erzählen Sie, wie Sie eigentlich aus England herausgekommen sind!«

Es war sehr schwer, Erich Lürsen dazu zu bringen, von sich zu reden. Er wurde dann sofort merkwürdig steif und zugeknöpft, aus einer inneren Befangenheit, die er sonst, den Tod vor Augen, nie kannte. Er machte die Sache kurz. Wenn man ihn hörte, war alles selbstverständlich, was geschehen. Nun hatte er, als er glücklich zu Ende war, auch schon wieder sein stilles, vielsagendes Zucken um die ernsthaften, glattrasierten Lippen.

»Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was vertellen!« sagte er. »Nicht wahr? Wenn man den rechten Schick hätte, müßte man ja wohl den Cousins eine Ansichtspostkarte schreiben und sich noch einmal nett bedanken. Aber es ist besser, sie glauben, es gefällt mir in dem alten ehrlichen England so gut, daß ich mich gar nicht von ihnen trennen kann, und suchen mich da weiter! Vorhin, auf dem Bahnhof in Rotterdam, hätte mich Seine Herrlichkeit beinahe gesichtet. Aber ich bin ein stiller Mensch. Ich ging lieber schnell den Zug lang nach achtern.«

»Wer denn?«

»Unser Freund, der edle Lord!«

»Der Marqueß von Saint Asaphs?«

»Sie müssen den Namen viel ehrerbietiger aussprechen, Mevrouw Ter Meer. Wenn man die Engelschen so ins Herz geschlossen hat wie Sie . . .«

»Lord Asaphs in Rotterdam!«

»Scheint so! Verkleiden kann er sich doch nicht so leicht – ein so bannig langer Kerl wie er.«

»Was tut er nur in Rotterdam?«

»Sicher nur Christliches! Ein paar Japs hat er als Handgepäck bei sich und ein Jobberchen aus der City und seinen Freund, den Reverend, und einen Buren als Dolmetscher. Die Gesellschaft ist richtig. Da is nix tau seggen!«

»Herr Gott, mein Mann ist auch in Rotterdam.«

»Dann holen Sie ihn sich gleich zurück. Der Verkehr ist gar nichts für Mynheer.«

»Wenn ich das könnte!«

»Wenn ich eine Frau hätte«, sagte Erich Lürsen, »und die riefe mich, dann käme ich gleich . . .«

»Sie ruft auch nicht von der anderen Seite England, Herr Kapitän.«

»O doch – bald! Jetzt ist es ja ganz nett daheim. Und morgens sein Bad, und man hat nicht den ganzen Tag das schlechte Gewissen wie de Voß im Hühnerstall . . . aber nach einiger Zeit krieg' ich es wieder mit der Sehnsucht nach den Cousins. Ich kenn' mich!«

»Das glaube ich auch von Ihnen!«

»Dem Engländer muß man die Faust unter die Nase setzen oder sich von ihm unterbuttern lassen. Das ist so der Unterschied zwischen uns beiden, Mevrouw Ter Meer.«

»Warum nennen Sie mich denn immer Mevrouw?«

»Sie sind es doch! Sie wollten ja keine Deutsche mehr sein.«

»Eigentlich ist's ja kein Wunder . . .« sagte Johanna Ter Meer nach einer Pause.

»Was denn?«

». . . daß Sie ein wenig verwildert sind, dort drüben, wo Sie vierzehn Tage lang einen Kohlenmann oder so etwas gemacht haben.«

»Wieso bin ich denn verwildert?«

»Ja, es scheint doch, daß Sie nur aus Antwerpen herübergekommen sind, um sich hierherzusetzen und mir Schroffheiten zu sagen.«

»Wenn ich jemand gern hab', sag' ich ihm die Wahrheit. Den andern erzähle ich doch nur Snak . . .«

»Das kann man aber nicht wissen . . .«

»Ich bin ein guter Deutscher! Ich ärgere mich immer, wenn etwas für Deutschland verlorengeht. Ich hab' mich gleich furchtbar geärgert, als Sie damals in Brüssel gleich mit England anfingen.«

»Das ist vorbei.«

»Das hätte nie anfangen sollen.«

»Das ist hinterher leicht gesagt! Sehen Sie, man heiratet doch . . .«

»Ich hab' keine Frau«, sagte der Kapitän Lürsen ernsthaft.

». . . und ich habe nun mal mit neunzehn Jahren ins Ausland geheiratet. Jetzt weiß ich, wie gut ihr's in Deutschland habt! Damals wußte ich es nicht. Im Gegenteil, ich war stolz darauf, so weit hinauszukommen. Zweimal bin ich mit meinem Mann rund um die Erdkugel herumgekommen. Überall hat man uns freundlich aufgenommen . . .«

»Das glaube ich!« sagte Erich Lürsen und lachte.

»Daß wir, außer in den holländischen Kolonien, immer nur Schutzbefohlene waren und daß fast alle Menschen draußen eigentlich nur Schutzbefohlene Englands sind, das habe ich nie gemerkt. Die Engländer haben einen das im Frieden nie unnötig merken lassen . . .«

»Sie haben's schon! Ihr habt es bloß nicht gesehen.«

». . . und so, wie die zehn Jahre für mich vergingen, hatte die Welt nur zwei Teile. Gleich hinter Holland fing England an, und man hatte seinen Anteil daran, überall so gut wie jede englische Lady, und so fühlte man schließlich auch halb wie eine englische Lady. Daß sie mir, der geborenen Deutschen, das nur auf Widerruf einräumten, ahnte ich nicht, und mein Mann hat es mir auch nie gesagt. Jetzt ist es mir hinterher ein Stich ins Herz, daß ich das alles von den Engländern annahm.«

»Ihnen ist es nicht allein so gegangen«, sagte der Kapitän Lürsen, und nun war er wirklich ernst. »Ich hab' als Seemann euch alle draußen gesehen. Tausende und viele Tausende. Wo man in einen Hafen kam, da waren die Deutschen bei den Engländern zu Gast. Und Gäste, die zu lange bleiben und fix zu arbeiten anfangen und dem Hausherrn die Butter vom Brot nehmen, die werden lästig, und lästige Ausländer behandelt der Cousin als Feinde. So ist's ja wohl gekommen. So sind wir noch im letzten Augenblick aus der englischen Schlinge heraus und unser gutes Deutschland mit.«

»Ja, hoffentlich!«

»Wenn wir wieder auf die Welt kommen, dann segeln wir Deutsche nur in unser eigenes, größeres Deutschland über See, dann gehen wir nur dahin, wo wir eine schwarz-weiß-rote Fahne sehen, und stehen uns nicht erst im Vorzimmer vom englischen Konsul die Beine krumm! . . . Tja – wozu brauchen wir denn da erst noch einmal auf die Welt zu kommen? Das können wir ja schon selber haben – nich?«

»Wenn wir es für Deutschland erreichen, dann danken wir es Ihnen und Ihresgleichen, Herr Kapitän!«

»Dann müssen aber auch die von uns, die bisher anders waren, andere Kerle werden! Das kann nun jeder auf sich beziehen, wie er mag . . .«

Diesmal empfand sie die Schroffheit, mit der er ihr seelenruhig gegenübersaß, als eine sonderbare Wohltat. Eine Notwendigkeit. Deutschland im Krieg. Im Krieg um alles. Und er vor ihr als ein Stück dieses Deutschland im Kampf mit dem Erdball. Hart. Ruhig. Heiter. Durch nichts zu erschüttern. Eine neue deutsche Art. Ihr gehörte die Zukunft und die weite Welt. Er hatte jetzt ein freundliches Lächeln. Etwas von Mitleid darin, das sein trockenes niederdeutsches Gesicht wunderlich weich machte und veränderte. Von Mitleid oder mehr . . .

»Sie sollte man auch an der Hand nehmen und nach Deutschland zurückführen«, sagte er.

»Ich muß schon hier in der Fremde bleiben. Ich kann den Lauf meines Lebens nicht mehr ändern.«

»Aber solch ein Leben im Ausland wird jetzt für keinen Deutschen mehr eine Freude sein.«

»Dann muß ich es eben büßen. Ich habe es ja gewollt, ohne es zu wissen.«

»Es ist schad' um Sie . . .«

Erich Lürsen sagte es halb vor sich, erst nach einer Weile. Sie konnte es, wenn sie wollte, überhören.

»Ich kann nichts tun, als hier draußen deutsch bleiben. Für Sie gibt es einmal wieder Frieden. Für mich wird mein ganzes Leben ein Kampf mit England sein – hier im Hause!«

»Mevrouw – de Telefoon!«

Johanna Ter Meer hob ungeduldig den Kopf zu dem hereineilenden Mädchen.

»Waarom moet ik zelfs?«

»Mynheer sprekt van Rotterdam!«

Eine Blässe flog über ihr Gesicht. Sie stand hastig auf.

»Entschuldigen Sie mich, bitte, einen Augenblick! Mein Mann ruft mich an den Fernsprecher.«

Der Kapitän Lürsen saß, allein geblieben, tiefsinnig da, den Blick auf dem bunten indischen Teppich am Boden. Um ihn ringelte sich das Drachengeschnörkel, gähnten die tönernen Pekinger Höllenhunde, grinsten auf Hirschen reitende japanische Götter. Er rührte sich nicht und dachte an etwas und wußte: er war, wie ein Fremder in dieser Welt des Fernen Ostens, so auch nur ein kurzer Gast in diesem Haus im Haag. Sein Gesicht war ernst, aber anders als sonst vor dem Feind. Draußen hörte er undeutlich Johanna Ter Meers helle Stimme. Sie schien ihm erregt. Gewann im Hin und Her des Drahtgesprächs einen Ausdruck von höchster Angst. Und ebenso ihre Züge, als sie zurückkam. Er sprang auf.

»Haben Sie eine schlechte Nachricht bekommen?«

»Ich weiß nicht, was geschieht. Mein Mann ruft mich. Ich muß mit dem nächsten Zuge nach Rotterdam.«

»Ist er krank?«

»Nein, er hat etwas vor. Eine Reise! Er will mir erst dort sagen, weshalb und wohin.«

»Doch nicht nach England?«

»Es scheint . . .«

Erich Lürsen öffnete seine zähen, schmalen Lippen. Aber er blieb stumm. Erst nach einer Weile murmelte er:

»Ich hätte bald was gesagt . . .«

»Was hilft es jetzt? Vor allem muß ich hin!«

»Wann geht Ihr Zug?«

»Ich komme eben noch zurecht.«

»Versprechen Sie mir nur eins . . .«

»Was denn? Nur schnell!«

»Die Überfahrt nach England ist in diesen Tagen gefährlicher, als sie jemals war. Ich weiß es. Denn ich komme aus Zeebrügge. Geben Sie mir die Hand darauf, daß Sie sich nicht auch nach England verschleppen lassen . . .«

»Mich sieht England nie wieder . . .«

». . . und wenn die Kerle noch so scheinheilig tun und Ihnen goldene Brücken über den Kanal bauen . . . Der Kanal ist jetzt der ungesundeste Aufenthaltsort auf der Welt – besonders wenn man auf einem englischen Schiff fährt!«

Er hielt ihre Hand noch fest. Sie drückte die seine und machte sich los.

»Und wann sieht man Sie wieder, gnädige Frau?«

»Vielleicht treffen wir uns wieder einmal im Leben. Wer weiß denn jetzt, was aus seinem Leben wird. Haben Sie Dank! Sie haben mich zweimal in England gerettet. Ich wünsche Ihnen alles Gute!«

»Und ich Ihnen! Wir kämpfen jetzt alle gegen England – Sie auch!«

 


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