Rudolph Stratz
Das freie Meer
Rudolph Stratz

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9

Denken Sie daran, Charley!« sagte der Marqueß Harald St. Asaphs zu seinem Freund, dem Reverend Craven, während er am selben Abend nach dem Dinner mit ihm die Marmortreppe zu den Damen im Drawing-Room emporstieg. »Sie sind der einzige von den Gästen, der Mrs. Ter Meer schon einmal hier traf und weiß, daß sie aus einer ausgewählten deutschen Familie stammt.«

»Schade um sie!« Der junge Autorennfahrer schüttelte ernst das Haupt. Er fing an, jetzt, am Vorabend des Sonntags, sehr respektabel zu werden. Morgen war er den ganzen Tag ein schwarzgekleideter, salbungsvoller Gottesmann, der bei jedem Lachen schmerzlich zusammenzuckte und sofort ein Haus verließ, in dem jemand auch nur mit einem Finger am Sonntag auf eine Klaviertaste drückte.

»Mrs. Ter Meer hatte bereits kürzlich wegen ihrer Herkunft gesellschaftliche Unannehmlichkeiten in London. Ich möchte sie ihr hier ersparen. Ich habe meine Gründe.«

»Welche, Saint Asaphs?«

In dem bräunlichen Antlitz des Lords zeigten die weißen Zähne unter dem schwarzen kleinen Schnurrbart ein gesundes und frohgelauntes Lächeln.

»Das ist mein Geheimnis! Es könnte morgen Ihre Predigt verwirren, alter Bursche!«

»Hängt es mit dem Krieg zusammen?«

Der riesige brünette Lord wich aus.

»Kann sein«, sagte er. »Die Lady ist eine aufrichtige Freundin Englands . . . Oh – Exzellenz! Ich bin wahrhaft erfreut, die liebenswürdige Sprache unserer tapferen Verbündeten aus Ihrem Mund zu hören.«

Der Marqueß von St. Asaphs sagte das mit gewinnendem Freimut und in einem Französisch, dessen Reinheit und Leichtigkeit kaum hinter dem Monsieur Paul Barandiarans zurückstand, des ehemaligen Botschafters, Senators und jetzigen Ministers in Paris. Der Ehrengreis der dritten Republik war dick und klein, mit kleinen braunen Geschäftsaugen über dem weißen Vollbart. Er gehörte zu den Franzosen, die die erstickende Enge ihres Landes begriffen und zur Ergänzung auf weiten Reisen die Demokratie der angelsächsischen Welt in sich aufgenommen hatten.

»Ich redete eben mit diesen Herren von den Vereinigten Staaten«, sagte er lächelnd, auf den Yonkheer Ter Meer, den Dänen Holm und andere Gäste weisend. »Es gibt doch wirklich oft geniale große Kinder dort drüben!«

»Oh – denken Sie so?«

»Yonkheer Ter Meer machte mich auf den Gentleman aus Illinois da am Kamin aufmerksam. Er interessiert sich für ihn seit seiner Ankunft, und ich gebe ihm recht . . .«

»Kein nützlicherer Mann im Saal als er. Er liefert uns Granaten . . .«

»Und sicher die besten! . . . Aber beachten Sie, bitte, die scharfe Grenzlinie, die zwischen der hohen geistigen Berufskraft dieses Gentleman und seiner Weltfremdheit in europäischen Dingen besteht. Sie ist für diese Industriekapitäne jenseits des Atlantischen Ozeans bezeichnend!«

»Er sitzt da zwischen den Ladies!«

»Sie kommen aus dem Lachen über seine naiven Urteile kaum heraus.«

»Was hat er denn da in der Hand?«

»Nur eine Zeitungsnotiz über den verdammten Kapitän Lürsen. Er liest sie den Ladies vor.«

Man hörte aus dem Kreis der Ladies drüben die helle und trockene, leicht nach Yankeeart näselnde Stimme des Gentleman aus Illinois:

»›Daily Mail‹ sagt, der Flüchtling sieht einem Engländer ähnlich. Aber er spricht so gebrochen Englisch, daß man daran sofort den Deutschen erkennt!«

»Wohl!«

»Er trägt britischen Mantel und Mütze.«

»Es ist schamlos!«

»Auch sein ganzes Wesen zeigt eine bemerkenswerte Dreistigkeit . . . Es scheint wirklich so, Ladies und Gentlemen!«

»Weiter! Weiter!«

»Da ist nur noch die Gewißheit hingestellt, daß er spätestens morgen nach der Kirche gefangen sein wird . . .«

»Wie gut!«

». . . und sein muß! Denn sein unbeaufsichtigtes Verweilen in England würde, bei dem Zynismus seines Auftretens, zu den peinlichsten weiteren Vorfällen führen.«

Mr. Lumley ließ das Blatt sinken und frug freundlich lächelnd:

»Warum hat man den Mann eigentlich in Norwegen gefangen, um ihn in England loszulassen?«

»Oh – sehr wahr!«

»Hört den Gentleman aus Illinois!«

»Es wäre vielleicht besser gewesen, der gute alte Captain Quick hätte sich nicht über die Grenzen der norwegischen Hoheitsgewässer getäuscht.«

»Ich bewundere ihn«, sagte Mr. Lumley bescheiden. »Er ist ein wahrer britischer Seemann!«

Er saß in dem ihm ausgezeichnet passenden Frackanzug des Reverend Craven neben dem Kamin, dessen Flammenschein über sein ernsthaftes und nüchternes glattrasiertes Gesicht hinflackerte und da allerhand täuschende humoristische Lichter in den Augen und um die Mundwinkel herum aufzucken ließ. Nachdenklich schob er mit der Feuerzange ein herausgefallenes glimmendes Stümpfchen wieder in die Glut und meinte, in die peinliche Stille eines mißglückten britischen Völkerrechtsbruches hinein:

»Briten sollen die Weltmeere kontrollieren. Gott schuf sie dazu.«

»Wie gut von Ihnen, das zu sagen, Mr. Lumley!«

»Ich reiste jetzt um die Erde. Von den Staaten nach Europa . . . Ich hatte Geschäfte in Wladiwostok . . . Munition für russische Rechnung – und da ich schon die Nase nach Westen hatte, fuhr ich gleich weiter in derselben Richtung. Welch eine Ordnung überall unter dem Union Jack, welch eine Prosperität in Ceylon!«

»Es gibt keine gesündere Kronkolonie!«

»Und es scheint klar, daß die Dominions den Kronkolonien nicht einen Cent an gutem Geschäft nachgeben! Freunde aus Kapstadt, die ich unterwegs traf, waren erstaunt über den Nutzen, den Südafrika abwirft . . .«

Der Yonkheer Cornelius Ter Meer, der den Gentleman aus Illinois unauffällig nicht aus den Augen ließ, machte im Hintergrund ein unmutiges Gesicht: Ceylon war mit holländischem Schweiß, Südafrika mit holländischem Blut gedüngt. Damals, im Burenkrieg, war die einzige Zeit gewesen, wo sein Glaube an englische Allweisheit und Allmacht auf kurze Zeit ins Wanken gekommen war . . .

»Kanada macht ebenso Geld«, sagte Mr. Lumley. »Niemand weiß es besser als ich. Denn ich habe so gute Geschäftsverbindungen dort, daß ich mir eigens für den kanadischen Platz und für New Orleans einen französischen Korrespondenten halten muß . . .«

Diesmal war es Monsieur Barandiaran, über dessen gallischen Weißkopf ein Schatten des Verdrusses flog. Freilich, auch Kanada und der Süden der Vereinigten Staaten war einst französisch gewesen, bis England kam und alles an sich riß . . .

»Sie landeten in Marseille, Mr. Lumley?«

»O ja! Unterwegs hatte ich noch einen Stop in Kairo. Baumwolle ist weißes Gold! Bewundernswert, was Briten in wenigen Menschenaltern für die Nil-Länder getan haben . . .«

Der Däne, Herr Holm, unterdrückte ein Lächeln und tauschte unwillkürlich einen Blick mit dem französischen Botschafter a. D.

. . . Bonaparte hatte Ägypten erobert, Lesseps den Suezkanal gebaut, der Deutsche Emin den Sudan erschlossen. Solch ein Yankee wußte das natürlich nicht. Er sagte tiefsinnig und beinahe andächtig in das etwas peinliche Schweigen:

»Ja. England überall . . .«

Und es war, als wehte ein Frösteln durch die hellen Säle, als entblätterte sich etwas am Baum der englischen Herrlichkeit, seit ein fremder Gast unter diesem Dache war. Und drüben sagte Lord Harald, der nach seiner Art wieder die jungen Ladies mit seinen Spukgeschichten hypnotisierte, nachlässig zwischen den Zähnen:

»Natürlich gibt es einen Geist in Ogmore Castle. Der gehört zu einem alten Sitz in England so gut wie der Kamin. Ich schaute ihn schon als Knabe . . .«

»Wie sah er aus?«

»Sie können ihm jederzeit begegnen, Miß Simpson. Denn er ist ein schnurriger Bursche. Er wechselt oft die Gestalt. Er geht rasch durch die andere Tür aus dem Billardzimmer hinaus, wenn Sie eintreten, und kann doch der nicht sein, den er darstellt, denn der ist entweder schon tot oder gerade in Indien oder Flandern.«

»Hu . . .«

»Oh – Sie gewöhnen sich, Miß Clifford. Alte Freunde von Ogmore Castle beklagten sich schon, wenn sie ihn bei einem neuen Besuch zu lange vermißten!«

Der Marqueß von St. Asaphs funkelte dabei die Damen mit kaltblütigen schwarzen Augen an, daß sie kicherten und schauderten. Sein Blick suchte immer wieder Johanna Ter Meer. Auf sie, so schien ihm, wirkten heute seine Gegenwart und seine unheimlichen, wie ein gebieterischer Wille in die Seele kriechenden Geschichten am meisten. Seitdem er vorhin mit Mr. Lumley aus dem Auto gestiegen, war sie verändert. Er sah es. Sie atmete schwer. Sie wechselte zuweilen die Farbe. Ihre fein geschnittenen, lebhaften Züge hatten etwas Starres. Es erstaunte ihn nicht. Er war gewohnt, die Ladies in zwei Sorten zu unterscheiden: solche, auf die er sofort Eindruck machte, und solche, bei denen die Wirkung seiner Persönlichkeit langsamer, aber um so stärker kam. So bei Ausländerinnen, die sich erst an seine britische Art der Hypnose gewöhnen mußten. So bei Mevrouw Johanna Ter Meer. Er lächelte sie an und merkte, daß sie wieder blaß wurde und seinem Blick auswich und hinüber nach dem Kamin schaute, wo nichts Besonderes zu bemerken war, sondern nur dieser Naturbursche aus Illinois, der eben in seinem gequetschten Yankee-Englisch meinte:

»Armes Belgien! . . . Aber dieses Land hatte wohl immer schwer unter den Deutschen zu leiden. Männer der Wissenschaft lehren drüben, schon vor ein paar hundert Jahren sei Blötscher da raubend eingefallen.«

»Oh, Sir! Die Franzosen waren da eingefallen . . .«

»Blücher wehrte sie ab! Er kämpfte mit uns!«

Der Minister Barandiaran sah frostig zur Decke. Die Engländer starrten tiefsinnig in den Kamin. Waterloo war keine gute Erinnerung. Nur der Gentleman aus Illinois sah freundlich und erstaunt um sich. Der Clergyman Craven sagte zwischen den dünnen Lippen:

»Ein Hinterwäldler, Saint Asaphs!«

»Er meint es nicht böse!«

Der Herzog von Chichester kam aus seinem Privatkabinett. In seinen eisigen blauen Augen war beinah etwas von Leben, während er sich zu dem Gentleman aus Illinois wandte:

»Oh – unser Freund von drüben! . . . Ich hoffe, daß Sie sich bei uns wohlfühlen, mein lieber Mr. Lumley.«

»Sehr wohl, Herzog Chichester. Wahrlich, ich dachte heute morgen nicht, daß ich noch einen so angenehmen Abend verbringen würde!«

»Oh, vergessen Sie den deutschen Überfall, Mr. Lumley! Er wird sich nicht wiederholen. Sie sind hier auf den Inseln der Sicherheit. Jede alte Lady im Vereinigten Königreich mag heute nacht ruhig schlafen.«

Im Nebensaal wandten sich einige Köpfe jäh nach dem Fenster. Ein langer, hagerer Gentleman eilte, mit nachschleppendem linkem Bein, hin und öffnete es. Es war ausnahmsweise windstill. Durch diese nächtliche Ruhe tönten in der Ferne dumpfe Schläge . . . zwei . . . drei . . . eine Pause . . . wieder einer.

»Oh . . . Colonel . . . was ist das?«

»Der Feind!« sagte der lange Oberst. Seine Kugel von Ypern steckte ihm noch im Bein.

»Schon wieder der Feind?«

»Der Feind im Land?«

»Nein, über dem Land!« Der lange Brite lauschte auf die fernen Bombenabwürfe. »Es sind deutsche Flieger.«

Im selben Augenblick lag Schloß Ogmore dunkel und in sich zurückgezogen wie eine Auster auf dem Meeresgrund. Der Haushofmeister hatte, seiner Weisung gemäß, eilig das elektrische Licht ausgeschaltet. Es war eine Heiterkeit der Gentlemen. Ein Kichern der jungen Damen. Alt-England hatte Roastbeef-Nerven. Es faßte den Luftangriff humoristisch auf. Schon der Ausländer wegen.

»Keine Angst, Mr. Lumley. Da ist keine Gefahr!«

»Es verliert sich schon in feiger Flucht.«

»Man wird die paar Löcher im Golfplatz morgen früh wieder glätten.«

»Da ist in der Ferne ein roter Schein!«

»Es brennt.«

»Man kann von hier aus nichts sehen.«

»Aber von der Terrasse . . .«

Eine alte, tief ausgeschnittene Lady marschierte neugierig als erste mit bloßem Kopf auf die mächtige, sich in das kalte Dunkel der Frühlingsnacht verlierende Terrasse hinaus. Die anderen Gäste folgten. Sie sahen voneinander nur ihre Schatten in der Finsternis, hörten ihre halblauten Stimmen.

»Oh – welch große purpurne Flamme!«

»Sie steht ganz still . . .«

»Sie wächst noch . . .«

Ein Wispern: Old Priory, die neue größte Munitionsfabrik der Grafschaft, in der der ehrenwerte Bischof Abbot seit vierzehn Tagen des guten Beispiels wegen höchst eigenhändig Granaten drehte.

»Ach . . . die armen Alten . . . Gott helfe ihnen! Es ist das Altersheim für gelähmte Greise, das dort drüben brennt. Die Luftmörder wußten es wohl, Mr. Lumley.«

Johanna Ter Meer trat zur Seite. Sie fand sich allein in der unbestimmten Finsternis der weiten Terrasse, auf der die Gäste zerstreut standen. Gleich darauf fühlte sie die Nähe von jemandem neben sich, erkannte den dunklen Umriß einer Gestalt.

»Ein erquickend frischer Abend, Madam . . .«

»Wie ist es denn möglich . . . Wie kommen Sie denn nur hierher?«

»Mein Freund, der Lord Saint Asaphs, führte mich ein. Es war ein liebenswürdiger Zug Seiner Herrlichkeit . . .«

»Großer Gott! Wenn er wüßte . . .!«

»Welch ein prächtiger Mann sein Vater, der Herzog! Seine Gnaden würdigten mich eines eingehenden Gespräches über die letzten Ziele der englischen Politik. Seine kaltblütige Offenherzigkeit wirkte beinahe verwirrend auf mich, einen einfachen Bürger der Vereinigten Staaten.«

»Wenn irgendein Zufall . . .«

»Herzgewinnend der lange Colonel! Er erzählte mir wohl eine Stunde vertraulich von den englischen Befestigungsanlagen in Flandern. Das Vertrauen eines solchen Mannes tut wohl, Madam.«

»Wenn eine Menschenseele eine Ahnung hätte . . .«

»Tja – denn würden sich die Cousins ja wohl bannig wundern!« sagte der Korvettenkapitän Erich Lürsen trocken im Tonfall der Waterkant, und ihr rieselte ein Schauer des Schreckens über den Rücken, trotzdem niemand in der Nähe war.

»Wenn ich sehe, wie Sie . . .«

»Sie kennen mich nicht! Sie wissen von nichts! Was auch hier in dieser alten guten Räuberhöhle geschieht . . .«

»Aber . . .«

»Die Geschichte hier ist nämlich gefährlich. Wenn's herauskommt, werden die Jungs böse!«

»Ich bin halb tot vor Angst!«

»Warum? Sie geht die Sache nichts an. Sie dürfen nicht mit dem lütten Finger daran tippen.«

»Wenn ich Ihnen nur irgendwie helfen könnte . . .«

»Ich brauche nichts! . . . Montag mache ich ja dann wohl, daß ich still von hier abkomme.«

»Wohin?«

»London ist ein hübsches Städtchen«, sagte Erich Lürsen sorgenvoll. »Für jemanden, der nicht auffallen möchte, kenne ich keinen besseren Platz auf der Welt.«

»Und dann?«

»Dann muß ich doch mal wieder nach meiner alten Tante in Ritzebüttel drüben schauen, nicht? Die Cousins hier nehmen einen ja sehr liebenswürdig auf. Aber ein anständiger Mensch darf das nicht mißbrauchen.«

»Wie wollen Sie denn um Gottes willen nach Deutschland kommen?«

»Ja – nicht wahr?« Er hob lebhaft den Kopf. »Das frag' ich mich manchmal auch! Ich denke doch wohl, zu Wasser . . . denn durch die Luft – das ist doch nichts für einen seebefahrenen Mann. Wenn ich nur erst die See sehe, dann fällt mir schon was ein. O yes . . . the flying Germans are away!«

Er sagte es plötzlich laut und auf englisch. Denn es näherten sich Gestalten, Und ebenso versetzte sie, beinahe unbewußt:

»Do you think so?«

Die Flieger waren wirklich verschwunden. Nur die ferne Flamme der Munitionsfabrik stand noch purpurn in der schwarzen Nacht. Wurde kleiner. Verlosch. Zugleich trat mit einem Schlag, in langen Reihen lichterheller Fenster, Schloß Ogmore wieder aus seinem schützenden Dunkel hervor und überstrahlte heiter und festlich weithin das Land, als sei nichts geschehen. Die paar störenden Geräusche und das bißchen Geflacker waren wohl mehr eine Sinnestäuschung gewesen! Eine nützliche kleine Sensation nach dem Dinner. Die glattrasierten Gesichter der Gentlemen, die rosigen der Ladies waren wohlgelaunt. Man sprach auf dem Rückweg in das Schloß mehr von Bayardo und dem heutigen Rennen als von dem Menetekel der deutschen Flammenschrift drüben am Horizont, und nur die alte Lady mit den bloßen Schultern erklärte:

»Da waren Spione! Ich möchte meine Hand auf die Bibel legen, daß es noch verkappte Deutsche zwischen uns gibt.«

Und der Gentleman aus Illinois neben ihr sprach teilnehmend:

»Ich fürchte es auch, Madam!«

Es klang an Johanna Ter Meers Ohr, während sie in die Lichterflut der großen Halle trat. Wieder überlief sie ein Frösteln. Sie schaute sich nach Erich Lürsen um. Er stand, ohne sich um sie zu kümmern, heiter plaudernd mit ein paar Gentlemen in der Ecke, die ihm manches Neue über den geheimen Ankergrund der Königlichen Flotte in der Irischen See mitzuteilen wußten.

Statt seiner nahm der Marqueß Harald von St. Asaphs neben ihr Platz, schlug ein Bein über das andere, steckte die Hände in die Hosentaschen und sagte:

»Sie sehen bleich aus, Mrs. Ter Meer.«

»Die Bombenschläge haben mich erschreckt.«

»Sie waren schon vorher blaß . . . Sie sind doch hier unter Freunden! Niemand von den Gästen ahnt, daß dieses zarte, durchscheinende Blau in Ihren Adern von deutschem Blute stammt!«

Er musterte lächelnd ihre schmale weiße Hand. Sie dachte: Es sind mehr Deutsche hier unter den Türmen von Ogmore Castle, als du ahnst!

»Und Ihr bester Freund, Mrs. Ter Meer, sitzt hier neben Ihnen. Warum sehen Sie mich so abwehrend an?«

»Wirklich nicht, Lord Saint Asaphs!«

»Wissen Sie von den geheimen Zeichen, an denen sich die Iren von Dublin bis Neuyork, wenn sie sich die Hand geben, erkennen?«

»Ich war nie in Irland, Mylord.«

»Es ist auch nichts auf der verhungerten Insel zu holen. Aber solch ein Geheimbund besteht auch zwischen Ihnen und mir, Mrs. Ter Meer. Wir wollen beide das Beste unserer Länder. Wir wollen den Frieden!«

»Ja, gewiß!«

»Darum bin ich so froh, daß Sie hierherkamen. Wann gehen Sie wieder nach Deutschland?«

»Bald. Das Befinden meiner Eltern macht mir Unruhe!«

Der Lord nickte und sagte, während seine dunkel flackernden, verständnisvollen Augen sie nicht losließen, langsam:

»Wir sind beide so verschieden, wie ein Mann und eine Frau oder jemand vom Festland und jemand aus England sein kann. Aber darin sind wir beide einig wie zwei gute Geschwister, daß dies Blutvergießen ein Ende nehmen sollte.«

»Ach – möchte es!«

»Briten machen nicht viel Worte. Briten handeln. Friedensfreunde unter uns hier sind am Werk. Wie Friedensfreunde bei euch drüben!«

»Ich weiß!«

»Aber die See dazwischen ist zu tief. Die Verbindung zu schwierig. Alles kommt auf den guten Mittelsmann an. Solch ein prominenter Friedensfreund ist Mr. Knox!«

»Ich kenne ihn nicht.«

»Sein Vater ist aus Schottland in die Vereinigten Staaten eingewandert. Seine Mutter stammt von deutschen Ansiedlern in Pennsylvanien. Er ist ein alter Mann und hat nur noch zwei Wünsche im Leben: die beste Nähmaschine und den Weltfrieden herzustellen. Der Gentleman ist jetzt in der Schweiz. Aber er kommt nächstens nach Deutschland.«

»Ich würde mich freuen, ihn dort zu sehen.«

»Oh, tun Sie das! . . . Und bringen Sie ihm Briefe von mir mit.«

»Sie wissen, daß es verboten ist!«

»Verbrechen sind verboten. Wohltaten nicht, Mrs Ter Meer.«

»Briefe sind Briefe.«

»Briefe, die eine Neutrale einem Neutralen gibt . . . Ich überreiche Sie Ihnen offen, Mrs. Ter Meer. Sie können sie lesen. Jedermann. Ich schäme mich nicht, mich als Freund eines gesunden Friedens zu bekennen . . . aber ich habe von hier aus keinen Weg, Worte der Vernunft hinübergelangen zu lassen . . .«

»Durch die amerikanischen Gesandtschaften . . .«

Der Lord von St. Asaphs schüttelte traurig das brünette Haupt.

»Wenn Sie wüßten, wie amerikanische Botschafter den Krieg schüren, Madam . . .«

»Leider!«

»Da hält sich ein Menschenfreund wie Old Knox fern. Er ist von Spionen umgeben. Was ich hier tue, wird ebenso von tausend Augen kontrolliert. Nichts kann zarter gehandhabt werden als der Meinungsaustausch zwischen ihm und mir . . .«

»Ich darf es nicht übernehmen!«

»Gut! Ich gebe Ihnen morgen die Briefe.«

In ihrer Zimmerflucht des Fremdenflügels im Schloß waren der Yonkheer Ter Meer und seine Frau umgeben von der in ihrer unauffälligen Selbstverständlichkeit immer wieder berückenden Gastfreundschaft eines großen britischen Herrn, der seinen Gästen nicht nur wie anderswo in der angelsächsischen Welt die Bibel auf den Nachttisch, sondern die neuesten französischen und englischen Romane für die Lady, die Reuterdepeschen und die letzten Abendtelegramme der Sportpresse für den Gentleman bereitlegen ließ.

Cornelis Ter Meer las achtlos die Havas-Meldung von der Ausrufung der Republik in Frankfurt am Main, dem Aufstand der Syndikalisten gegen Madame Krupp, den ersten Fall von Menschenfresserei in der Wildnis der Sächsischen Schweiz. Dann legte er das Blatt hin und sagte in einem seltsamen Ton, der rauher als sonst klang:

»Sieh mich an, Jantje!«

»Was hast du?«

»Das wollte ich dich fragen.«

»Warum?«

»Ich habe dich den Abend über gesehen . . . du warst verändert . . .«

»Mir war nicht wohl . . .«

»Ich weiß, wie jemand ausschaut, der sich nur schwach fühlt, und jemand, den etwas drückt . . .«

»Ich habe keine Geheimnisse!«

»Noch gestern niet. Aber heute . . .«

Cornelis Ter Meer trat auf sie zu. Sein faltiges, verständiges Gesicht mit der großen Glatze darüber und dem ergrauten Schnurrbart, das so viel älter aussah als das ihre, zeigte jetzt auch keine Erregung, nur eine tiefe Besorgnis in den klaren grauen Augen.

»Woher kennst du diesen Amerikaner?«

»Ich?«

»Du hast diesen Mr. Lumley schon früher einmal kennengelernt, und zwar gut!«

»Nein!«

»Ich bin kein Mann, der Spuk sieht. Ich bin so nüchtern, wie ein Mann es sein soll. Ich habe ihn gesehen, und ich habe dich gesehen, und ich weiß, daß ihr beide euch schon einmal auf der Welt getroffen habt!«

»Das sind Hirngespinste, Cornelis!«

»Wir waren weit in der Welt. Viele Leute sind uns über den Weg geloopen. Warum niet auch dieser Mr. Lumley?«

»Ich habe den Namen heute zum erstenmal gehört . . .«

»Aber das Erschreckliche ist der Eindruck, den das Wiedersehn auf dich machte, Jantje . . . du hast dich sonst in der Gewalt . . . diesmal niet!«

»Zweifelst du an mir?«

Der Yonkheer Ter Meer schüttelte den Kopf und atmete auf.

»Nein, Jantje. Das ist es niet. Ich habe nie an dir gezweifelt, und de Hemel geve, daß ich niemals an dir zweifeln werde . . .«

»Nun also . . .«

»Das, was ich heute abend auf deinem Gesicht gelesen habe, das war etwas anderes, Jantje, das war die lichte Angst! Wer tut dir etwas, Jantje?«

»Niemand.«

»Vor wem hast du Sorge, daß er dir etwas tun könnte?«

»Ich habe keine Sorge . . .«

»Also hast du sie für ihn? . . . Warum wirst du so bleek, Jantje?«

»Ich werde nicht bleich.«

»Oh . . . schau in den Spiegel! Da schaust du deinen Schröck. Sage mir eines, Jantje: was ist das mit dem Mr. Lumley?«

»Laß mich endlich mit ihm!«

Der Yonkheer Ter Meer ging schweigend im Zimmer auf und ab. Dann blieb er vor ihr stehen und sah sie an. Es war der prüfende Blick eines Mannes, der viel von der Welt gesehen, der die Menschen kannte, dem selbst die fremden Völker nichts mehr vormachten, weil er sie alle von seiner niederländischen Warte aus beobachtet und abgewogen hatte, und der alle diese Erfahrung da draußen in stummer Liebe und Sorge für seine Frau zusammenfaßte.

»Jantje . . .«

»Wir wollen schlafen gehen, Cornelis! Ich bin so müde . . .«

»Jantje . . . warum vertraust du mir niet?«

»Höre doch endlich auf, mich zu quälen . . .«

Er blieb unerbittlich in jenem zähen niederdeutschen Eigensinn, den sie an ihm kannte.

»Wenn du es mir sagen könntest, dann würdest du es mir sagen?«

»Ja, gewiß! Wenn etwas zu sagen wäre . . .«

»Also ist es etwas, was du mir aus irgendeinem Grund nicht sagen darfst?«

»Wir wollen morgen weiterreden. Laß mir nur jetzt meine Ruhe . . .«

»Ich habe sie dir nicht genommen, sondern dieser Mann.«

»Cornelis . . .«

»Was ist es mit ihm, Jantje? Er scheint ein Mann wie alle anderen. Niemandem hat er Aufsehen gegeben außer dir! Also weißt du mehr von ihm als die anderen . . . Du schweigst?«

Der Mynheer Ter Meer wartete bekümmert, aber hartnäckig auf eine Antwort. Als keine kam, sagte er: »Wohlan – dann soll ich selbst sehen, was an ihm ist!«

»Was willst du tun?«

»Ich telegrafiere an Saint Helen's Place in London. Lincoln Deventer vom amerikanischen Generalkonsulat ist mein alter Freund. Er kennt, aus seinen Einfuhrlisten, genau die Namen aller Männer und Firmen, die von drüben Munition liefern. Er wird mir bis morgen mittag Bericht geben.«

Der Yonkheer Ter Meer setzte sich und schrieb langsam und bedächtig ein langes Telegramm in englischer Sprache. Seine Frau störte ihn nicht. Sie lag nebenan und starrte mit offenen, angstvollen Augen in das Dunkel. Er dachte, sie schliefe. Am frühen Morgen trug er eigenhändig die Depesche zu dem eine Viertelmeile entfernten Postamt. Drahtungen in Munitionsangelegenheiten wurden auch am Sonntag angenommen, und er wußte, daß ein so eifriger Busineß-Mann wie Lincoln Deventer jetzt zur Kriegszeit auch am Sonntagmorgen noch einmal in seinem Office vorsprechen würde, ehe er sich in die Kirche begab. Der Rest des Tages gehörte dann dem englischen Sabbat.

Dem Sonntag, der ihn auf dem Heimweg durch grünes Parkland, an weißen Landhäusern vorbei unter blauem Himmel mit seiner paradiesischen Ruhe umgab. Draußen in der Welt brüllten auch zur Kirchzeit die Feuerschlünde, verröchelten jede Sekunde junge Menschenleben im Drahtverhau, standen weiße Sprengwolken am Himmel und schwarze Rauchbäume über den zerrissenen Eingeweiden der Erde. Bis in die britische Sabbatstimmung drang nichts von Blut und Wut der keuchenden Menschheit. Wie in tiefstem Frieden klang aus der Kirche mit hellen Stimmen der Gesang der Ladies, betete drüben der Bischof Abbot, der in der Woche Granaten drehte, scheinheilig vor dem Altar für Englands Feinde, sammelten die alten Damen, während auf allen Schiffen alle Wilden der Erde gegen Deutschland fuhren, milde Spenden für die Ausbreitung des Christentums unter den Basutos und für den Bau eines anglikanischen Tempels für die Waldmenschen von Ceylon. Und wer da fromm und schallend im feierlichen Zeremoniell der Hochkirche mitsang: »Herr! Der du unsern Vätern halfst!«, der war im Innersten des Herzens davon überzeugt, daß er sich der Gnade des Höchsten Lords, Gottes, ebenso erfreute wie auf Erden der Gunst des ersten Lords seiner Grafschaft, des Herzogs von Chichester, und daß er ein Recht auf beides hatte, weil er ein respektabler Brite war, voll eines träumerischen Behagens nach dem Gottesdienst, eines satten Hindämmerns, fern von der närrischen alten Erdkugel, auf der die Männer Schweiß und Blut und die Frauen Tränen vergossen.

»Wall Street morgen für Steel Preferred anderthalb Punkte höher!« prophezeite heiter im Vorbeiwandern der alte Sir William Heacock. Der weißhaarige Gentleman hatte immer seine besonderen Tips aus Neuyork. Zu anderen Zeiten hätten sie den Yonkheer Ter Meer interessiert. Jetzt nickte er nur flüchtig zu dem anderen Gast des Hauses hinüber. Er suchte seine Frau.

Die Lady war schon ausgegangen. Wohin? Die Jungfer oben in dem Zimmer wußte es nicht. Cornelis Ter Meer setzte sich und überlegte. Die anderen Damen waren in der Kirche. Aber es war selbstverständlich, daß sie, die Katholikin, und er, der Calvinist, dem anglikanischen Gottesdienst fernblieben. Sie mußte also allein irgendwo draußen im Freien sein . . .

Er sprang plötzlich lebhaft auf, von einem Verdacht gepackt, trat wieder in die Maiensonne vor das Türmegewimmel von Ogmore Castle hinaus und frug draußen am Portal einen der Footmen:

»Mr. Lumley ist wohl in der Kirche?«

»Nein, Sir. Der Gentleman sagte, als ich ihm das kalte Bad richtete, nichts sei ihm schmerzlicher, aber er sei Methodist.«

»So blieb er daheim?«

»Ging aus, Sir, in der Richtung nach den Hügeln.«

»Danke.«

Die »Hügel« waren gut zwei Meilen entfernt. Sie hoben sich weithin sichtbar aus dem grünen Flachland. Geheimnisvolle Steinplatten aus Urzeit standen da aufrecht in zwei Kreisen. Man fuhr zuweilen nachmittags hin, um inmitten der Reste des heidnischen Heiligtums seinen Fünfuhrtee mit heißen Buttertoasts zu haben. Auch der Yonkheer Ter Meer schlug langsam, mit düsterem Gesicht, diese Richtung ein. Ein Mann, der mehr dem Zufall und Verdacht als einem bestimmten Ziel folgte.

Die Menschen von Ogmore Castle hatten in der Kapelle ihr sonntägliches Stelldichein mit dem britischen Herrgott, der die Woche hindurch draußen für sie die Arbeit der Farbigen segnete, dem Union Jack auf den Meeren den Wind in die Segel blies und daheim die Hand über die City-Kurse hielt. Aber wenn auch die Menschen in der Sonntagsstille fehlten, so fehlte es doch an britischem Blaublut nicht. Im Umkreis des begnadeten Erdenwinkels, den die Strahlenkrone eines Peers übersonnte, waren alle Dinge durch Geschlechter hindurch auf Stammbaum und Entwicklungsgesetz gezüchtet . . . Die Orchideen im Treibhaus hatten ihre Geschichte wie die Perserkater auf der Terrasse ihre langmähnige Ahnenreihe. Der Bullterrier am Weg war auf gespenstige Häßlichkeit preisgekrönt wie das Damwild auf der Wiese auf fleckenloses Weiß hin ausgesondert. In der schmucken Villenkolonie, längs deren der Yonkheer Ter Meer immer wieder in stiller Andacht vor dieser irdischen Vollkommenheit dahinschritt, wohnten die vierbeinigen Lords der Tierwelt, das arabische Vollblut. Jeder dieser täglich in den Zeitungen genannten Renngäule hatte sein eigenes Haus mit Vorraum, Marmorkrippen, fließendem warmem und kaltem Wasser, elektrischem Licht und der nötigen Dienerschaft. Der Arzt wohnte in der Nähe. Bewaffnete Hüter wachten in der Nacht.

Vor einem dieser Pferdepaläste stand ein riesenhafter brünetter Mann. Der Yonkheer sah ihn nur von hinten. Er schien noch länger als seine sechseinhalb Fuß inmitten des Zwergvolkes der Jockeis um ihn, die durch Familien hindurch ebenso auf Leichtgewicht gezüchtet waren wie die schmächtige braune Stute vor ihnen auf Schnelligkeit.

Es war selten, daß der Marqueß Harald von St. Asaphs über etwas nachdachte. Aber jetzt schien er doch beim Anblick des nervösen, stelzbeinigen und feueräugigen Geschöpfes, das da im Kreise herumgeführt wurde, in tiefstes Sinnen versunken. In ehrfurchtsvoller Stille harrte man ringsum auf seine Entscheidung.

»Wenn der Ostwind anhält und das Geläufe trocken bleibt, sollten wir die Stute im nächsten Rennen abschießen«, sagte er plötzlich und ging, ohne sich weiter um Mensch und Tier zu kümmern, rasch davon. Der Yonkheer Ter Meer, der noch ein paar hundert Schritte entfernt war, sah, daß er schlenkernden Schrittes nach dem Rand des nächsten Parkgehölzes abbog. Dort schimmerte im Grün ein weißes Damenkleid. Cornelis Ter Meer erkannte seine Frau.

Sie ging langsam, zuweilen stehenbleibend – ein Mißtrauen sagte ihm: so als ob sie den Gentleman aus Illinois suchte – aber jedenfalls war sie allein. So lange, bis der Lord St. Asaphs ihren Weg kreuzen mußte. Er reichte ihr die Hand. Sie wandten sich beide, im Gespräch miteinander, über die offenen Parkflächen nach dem Schloß zurück.

Der Yonkheer Ter Meer drehte auch um und ging bedächtig und beruhigt wieder heim. Ein paarmal schaute er noch zurück. Von dem Gentleman aus Illinois war keine Spur.

In einem niederen, langen Bau am Parkrand saßen Hunderte von Truthennen weltentrückt, jede in ihrem Verschlag, und brüteten so gehorsam, als seien es Menschen unter britischer Herrschaft, die Edelfasaneneier aus, damit im Herbst der Herzog von Chichester und seine erlauchten Gäste die langgeschwänzten Hähne zu Tausenden im Schnellfeuer aus der Luft herunterholen konnten. Sein Sohn, der Lord St. Asaphs, schlenderte mit Johanna Ter Meer an der Fasanerie vorbei und sagte plötzlich, nachdem er bisher nur über den lieblichen Maimorgen und den gestrigen Wetterbericht aus Nizza geplaudert:

»Hier ist der Brief, den Sie mir an Mr. Knox in Deutschland zu besorgen versprachen!«

Er griff in die Seitentasche und holte das Schreiben in offenem Umschlag hervor.

»Ich hatte schon gestern die Ehre, zu bemerken, Lord Saint Asaphs, daß ich unmöglich . . .«

Er tat, als hörte er nicht.

»Es ist ja für Sie nur eine Kleinigkeit«, sagte er, »und doch, by Jove, welch ein gutes Werk!«

Dabei sah er mit seinem spielerischen Lächeln auf sie herunter. Dies Lächeln hatte jetzt beinahe etwas Grausames. Sie wußte, daß sie heute noch angegriffener und unruhiger aussah als gestern. Und daß der neben ihr diese Angst in seiner Weise deutete. Sie merkte es ihm an, ohne daß seine fröhlichen Mienen sich veränderten. Der Lord St. Asaphs hatte den Spürsinn eines Weidmanns für Schwäche der Frauen. Er frug nicht erst, sondern las ihr langsam, in dem nachlässigen Zähnekauen des Engländers, den Brief vor:

»Mein lieber alter Knox!

Sie schreiben mir, daß ein paar Zeilen von meiner Hand Ihnen nützlich sein mögen als ein Beweis für manche Zweifler drüben, daß auch in England öffentliche Charaktere wie ich und meine Freunde finden, ein guter Friede sei besser als ein schlechter Krieg.

Dieser Krieg ist ein schlechtes Geschäft für beide Teile. Nie dürfen wir zulassen, daß die Kontrolle der Welt der City entgleitet. Briten sind die einzigen, die mit Geld umzugehen verstehen.

Deutsche wieder werden sich sagen, daß sie mit einer Valuta, wie sie gestern der Amsterdamer Markt notierte, nicht leben wollen! Mit jedem Mann, der jetzt aus dem Schützengraben späht, gehen täglich hüben und drüben vier bis acht Schilling Arbeitsleistung verloren. Der Verbrauch an Stahl, Leder, Pferden und Mineralöl erschöpft die sichtbaren Vorräte der Erde. Die Betriebskosten des Weltkrieges sind zur Zeit fünfzehn Millionen Pfund im Tag.

Inzwischen wandelt sich Bukarest in Babylon und Kopenhagen in ein Goldgräberkamp. Neutral sein wird bald heißen von englischen Renten leben!

Für einen Christen ist das ein widerwärtiger Gedanke. Dem Zynismus von Tokio mag der Anblick der blutigen Nasen in Europa ein goldenes Zeitalter bedeuten. Alt-Europa sollte sich auf sein besseres Teil besinnen. Männer sollten zusammentreten, und Methoden sollten gefunden werden, die die Menschheit aus der bitteren und unnützen Arbeit des Krieges in die nützliche Arbeit des Friedens hinüberführen. Welches Volk mag da besser den ehrlichen Stockbroker spielen als Ihre große Nation jenseits des Ozeans! Amerikaner sein heißt die wahren Tugenden des menschlichen Fortschritts, die Selbstlosigkeit, die Gerechtigkeit, die Freiheit, die Wahrheitsliebe und Begeisterung für alles Große auf Erden geerbt haben.

Darum drücke ich Ihnen, mein teurer Freund Knox, in diesem Brief die Hand. Zeigen Sie ihn, wem Sie mögen und wo Sie es für gut finden. Sagen Sie, er komme von einem Manne, der den Mut seiner Meinung hat und der sich nennt Ihren ergebenen Freund und Diener

Marqueß of St. Asaphs.«

Lord Harald las den Brief viel leidenschaftsloser, als dessen Inhalt für einen Briten seiner Art und seines Ranges war. Er schritt mit Johanna Ter Meer nun schon durch die Teppichbeete dicht vor dem Schloß. Am anderen Ende der Terrasse standen Menschen, winzig klein in der Entfernung und bei den ungeheuren Maßen des Baues. Es waren Gäste. Der Gottesdienst war zu Ende. Er sagte:

»Ich habe mich von dem Kirchgang ferngehalten, weil ich wußte, daß Sie nicht in unsere Kirche gehen. So konnte ich Sie treffen. Hier ist der Brief, Mrs. Ter Meer!«

»Ersparen Sie mir die Weigerung . . .«

»Immer bekannten Sie sich als eine warme Freundin des Friedens zwischen Ihrem alten Vaterland und meinem . . .«

»Ich bin es aus tiefster Seele, Lord Saint Asaphs.«

»Dann beweisen Sie es! Wollen Sie kein gutes Werk tun, Mrs. Ter Meer?«

Er schaute sie herrisch an. In kaltblütiger Überlegenheit. Er hielt ihr leises Zusammenschaudern für seinen Sieg. Ein paar Ladies näherten sich. Er ließ, ohne daß jene es noch sehen konnten, den Brief in Johanna Ter Meers Hand gleiten und wandte sich dann den Damen zu.

»Ich hoffe, Sie hatten eine gute Predigt?«

»Sie war so erbaulich: Britenpflichten sind Christenpflichten.«

»Auch ich hatte Britenpflichten! Ich war so traurig, den Clergyman nicht zu hören.«

»Die neutrale Lady tat es auch nicht«, meinte die eine Miß mit einem vielsagenden Lächeln darüber, daß sie die beiden zusammen getroffen, und schaute Johanna Ter Meer nach.

»Oh – sie ist eine Papistin.«

»Wie schrecklich!«

Johanna Ter Meer trat blaß, schwer atmend, in den indisch eingerichteten Empfangsraum ihrer kleinen Gästewohnung. Auf dem runden, drachenartig verschnörkelten Mitteltisch aus schwerem schwarzem Eibenholz lag ein Telegramm. Ihr Mann saß dahinter und reichte es ihr schweigend. Sie las:

»Da ist keine Firma und kein Gentleman von irgendwelcher Bedeutung, der Charles Lumley heißen mag, im Munitionsgeschäft der Vereinigten Staaten. Irrtum ist bei der Zuverlässigkeit der englischen Überwachungslisten auf der ganzen Welt ausgeschlossen. Es kann sich nur um einen untergeordneten Angestellten handeln.

Ihr Lincoln Deventer.«

»Clerks pflegt sich der Herzog von Chichester ja wohl nicht zum Wochenende einzuladen«, sagte der Yonkheer Ter Meer nach einer Pause trocken. »Also hält Seine Gnaden diesen Gentleman aus Illinois offenbar für etwas anderes, als er in Wahrheit ist.«

Er stand auf, steckte die Depesche ein und ging nach der Tür.

»Cornelis . . . wo willst du hin?«

»Laß mich schauen, ob mich der Herzog empfangen kann!«

Nach dem Brauch freien englischen Landlebens kam der Schloßherr tagsüber nur zum Vorschein, wenn es ihm paßte. Er tat, was er wollte, und die Gäste auch. Erst am Abend fand man sich im Frack und die Damen in großer Toilette an der Tafel zusammen.

»Was geht dich der Herzog an?«

Sie versuchte in ihrer Angst, ihm das Blatt zu entreißen. Da wurde er so ungeduldig, wie sie ihn selten gesehen.

»Jantje . . . Wenn du mir nicht sagst, wer der Mann aus Illinois ist, so mag der Herzog ihn selber fragen! Ich habe dann meine Pflicht getan. Ich bin davon ab!«

Er war schon auf der Schwelle. Da faßte sie seinen Arm.

»Cornelis . . . tu es nicht!«

»Warum?!«

»Es kommt dann zu Tage, daß er nicht aus Illinois ist! Überhaupt nicht aus Amerika!«

»Aha . . .«

»Es ist ein Deutscher . . .«

»Um Godes willen!«

Der Yonkheer Ter Meer war mit einem Schlag völlig verändert. In einer Aufregung, beinahe einer Angst, wie sie sie an dem phlegmatischen Mann noch nie gesehen. Jetzt sprach er nicht mehr ihr zuliebe Deutsch, sondern seine holländische Muttersprache.

»Ein Deutscher! Und das sagst du jetzt erst?«

»Da du mich dazu zwingst . . .«

»Weil du nicht an deine Pflicht gedacht hast! Du hättest es mir gleich sagen müssen . . .«

»Vielleicht hättest du mir dann geholfen . . . Cornelis?« Sie sprach es weicher, halb zögernd, halb fragend.

Er begriff gar nicht, was sie meinte. Er rang verstört die Hände ineinander.

»Ein Deutscher! . . . Hier! . . . Das kann ein Unglück für England sein . . . Was hört und sieht er niet alles! . . . Gehe von der Schwelle weg, Jantje!«

Cornelis Ter Meer stand dicht vor ihr, und dabei war es ihr, als rückte er ihr in weite Ferne, ein fremder Mann, mit anderen Gedanken, mit anderem Willen, mit einem anderen Gesichtskreis als der, an dessen Seite sie zehn Jahre ihres Lebens verbracht.

»Cornelis, du bist ein guter Mensch. Niemand weiß das besser als ich. Ich habe dich überall auf der Welt gesehen. Du warst gegen alle Menschen immer freundlich und hilfsbereit!«

»Menschen sollen brüderlich zueinander sein, Jantje!«

»Warum willst du also jemanden, der dir nichts tat, ins Unglück stürzen?«

»Um Gefahr zu verhüten!«

»Gefahr für dein eigenes Vaterland? Gefahr für Holland, Cornelis?«

Er runzelte die Stirne. Dann sagte er gedämpft, so daß es fast feierlich klang:

»Nein. Aber für Groot-Britannie!«

In diesem mahnend betonten »Groot-Britannie!« wehte es wie eine heilige Überzeugung.

Viele Völker und Länder gibt es in der Welt – über allen steht England.

»Lasse doch England für sich selber sorgen! Stark genug dazu ist es doch wahrhaftig.«

»Auch dem Stärksten kann ein Schaden geschehen.«

»Hast du ihn abzuwenden?«

»Ja. Denn ich bin hier zu Gast.«

Ein Frösteln überlief sie. Vor ihr stand nicht mehr ihr Mann, sondern irgendein beliebiger Mensch auf der Welt. Alle waren einander gleich. Alle waren bereit, für England zu sorgen und zu bangen wie um das eigene Ich.

»Was hast du für Augen, Jantje?«

»Ihr seid so sonderbar . . .« sagte sie.

»Was denn ihr?«

»Ihr alle . . . Du auch . . . Ihr sagt: England . . . und dann ist alles fertig . . .«

Und es klang wie eine Antwort von Millionen und aber hundert Millionen rund um den Erdball, von weißen, schwarzen, braunen, gelben, roten Menschen, von Christen, Moslemin, Hindus, Konfuzianern, Parsen, Buddhisten, von Häfen und hoher See und Meerengen und Küsten, wo nur Menschen wohnten: Was kann man mehr sagen als England? Man erkennt England an, wie man sich einem Naturgesetz unterwirft . . .

»Jantje . . . ich muß jetzt stracks zu dem Herzog gehen . . . ihm melden, daß seine Gastfreundschaft erschrecklich mißbraucht wird . . . daß ein Deutscher im Schloß ist.«

»Nein. Zwei!«

»Alle Himmel!«

»Der und ich! Zeig uns nur gleich beide an!«

Cornelis Ter Meer lief verstört zwischen den japanischen Rüstungen, den Buddhapüppchen und indischen Vorhängen des Gemaches auf und nieder, in dessen scheinbar wirrem und doch kühl geordnetem farbigem Durcheinander sich das britische Weltreich im kleinen widerzuspiegeln schien. Er trocknete sich stehenbleibend die kahle Stirn.

»War je ein Mann in solcher Lage wie ich . . .?« sagte er verzweifelt.

»Morgen um diese Zeit ist er längst fort von hier, Cornelis!«

»Aber mit allen Geheimnissen, die er hier erfahren hat. Er ist doch ein Deutscher!«

Ein Deutscher . . .! Dieser angstvolle Ausruf ihres Mannes erschütterte Johanna Ter Meer: Ein Deutscher! Also geächtet von der Welt. Vogelfrei auf der ganzen Erde. Außerhalb der Menschheit. Nicht nur in den Steckbriefen Englands, sondern auch in den Köpfen der Menschheit selbst . . .

»Ich glaube, wenn Deutschland heute zugrunde ginge«, sagte sie langsam, »niemand auf der Welt würde auch nur auf den Gedanken eines Mitgefühls mit uns kommen . . .«

»Wie gerätst du darauf?«

»Du lehrst es mich. Es ist nicht, daß du es sagst, sondern daß alle es mir aus deinem Munde sagen . . . Zehn Jahre bin ich unter euch herumgegangen und habe alle Menschen arglos für Freunde gehalten und geglaubt, ich wäre unter meinesgleichen. Wahrscheinlich ist es allen Deutschen so gegangen. Nun öffnet der Krieg einem die Augen . . .«

»Ich habe nichts mit dem Krieg zu tun, Jantje.«

»Es ist wie ein ungeheures Grauen um einen . . . also da sind wir Deutsche, und da sind die anderen Menschen . . .«

»Jeder Krieg reißt Klüfte zwischen den Völkern auf, Jantje.«

»Auch zwischen den Menschen, Cornelis!«

Der Yonkheer Ter Meer schaute seine Frau ratlos und zweifelnd an. Er begriff nicht recht, was in ihr vorging. Er wollte von Herzen rechtlich sein. Es entsprang der Gewissenhaftigkeit seiner Natur, in der viel von dem ehrenfesten Kaufmannsgeist seines Volkes war. Aber über seiner Natur stand das, was er für das Naturgesetz hielt: England. Zum ersten Male hatte auch er das Gefühl: ich habe eine Fremde geheiratet. Nicht eine Frau, der ich leicht in ihren jungen Jahren das Vaterland abgewöhnte, sondern eine Deutsche. Eine erwachende Deutsche.

Er dachte sich: Und ist es nicht unfaßbar, daß alle solche Deutsche jetzt gerade Deutsche werden, wo ihr Vaterland vor dem Abgrund steht? Solange es Deutschland gut ging, wollten sie wenig von ihm wissen. Jetzt drängen sie sich, bei seinem Untergang mit dabei zu sein. Wer auf der Welt wird je die Deutschen ergründen?

»Ach – es ist bitter«, sagte er. »Mein Leben dauert schon ziemlich lange, und wenn ich zurückdenke, so bin ich niemals im Zweifel gewesen, wie ich in einer Sache handeln mußte, wenn ich sie mir genug überlegt hatte. Aber nun weiß ich nicht mehr, wie ich mich verhalten soll . . .«

»Ich weiß es.«

»Ich glaube, ich muß doch zu dem Herzog von Chichester gehen.«

»Geh hin und sag ihm, daß da ein Deutscher ist. Ich gehe indessen zu den Ladies in den Drawing-Room und sage ihnen, daß auch ich eine Deutsche bin. Man hat es ihnen verschwiegen. Ich hab' es gemerkt . . .«

»Jantje!«

»Eine gute Deutsche! Das werden sie an dem merken, was ich ihnen über England sage, während sie den unten verhaften.«

»Jantje – das gäbe ja einen furchtbaren Auftritt . . . der mich hier unmöglich macht!«

»Für England ist kein Opfer zu groß, Cornelis!«

»Spottest du auch noch?«

»Eigentlich ist es zum Lachen. Aber mir ist es bitterer Ernst.«

Das sah er. Er schwieg lange.

»Du sagst, er reist morgen ab?« frug er endlich.

»Ja.«

»Ist das ganz gewiß?«

»Ich bringe dir sein Versprechen!«

»O Jantje . . .«

»Niemand im Schloß weiß, wenn er weg ist, wer er war. Warum brauchst du es gewußt zu haben?«

»So soll es sein!« sprach endlich der Yonkheer Ter Meer dumpf und ergeben mit schwerer Überwindung, und in der Art, wie er sich erschöpft niedersetzte und vor sich hin starrte, blieb doch der Druck des schlechten Gewissens gegenüber England.

 


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