Rudolph Stratz
Die armen Reichen
Rudolph Stratz

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Zehntes Kapitel

Es war jetzt die Zeit, wo in der beginnenden Abenddämmerung die Straßen und Parkplätze von Baden-Baden verödeten. Und zugleich flammte überall in den langen Fensterreihen der Hotelspeisesäle das elektrische Licht auf. Alle Welt war jetzt bei Tisch. Nur das gewöhnliche Alltagsvolk eines badischen Städtchens belebte die noch von der Sonne des Augusttages heiße, von trüber Staubluft gefüllte Innenstadt, über der das große Schloß im Abendgold glänzte. All die Gäste der Rennwoche, die glattrasierten Gesichter, die rauschenden Kleider, die Geiger in verschnürter Attila, die oberbayrischen Gebirgsjodler mit Gamsstutz und Kniehosen, die Kellnerinnen in Schwarzwälder Flügelhauben, die wichtigen, dicken Lakaien, die türstehenden Portiers – der ganze Karneval der Nichtigkeit war mit einem Schlag für eine Stunde verschwunden. Die beiden Burcks und Barbara, die von oben aus der Villa kamen, brauchten kaum ein einziges Mal auf der Lichtentaler Allee Platz zu machen.

Nun waren sie schon an dem Konversationshaus zur Linken vorbei, wo Lattengerüste auf der eingegitterten Wiesenfläche standen und draußen sich dunkle Haufen von Volk in Erwartung des großen nächtlichen Spektakel-Feuerwerks ansammelten. Sie gingen über die Oosbrücke und da, am Palais Hamilton, fiel es Barbara wieder ein, wie schon ein paarmal bisher, daß es doch eigentlich ein seltsamer Wunsch John Burkes sei, sie möchten gemeinsam Robert im Hotel abholen – seltsam vor allem die Begründung dieses Wunsches. Wenn Robert für das, was jener ihm mitteilte, nicht genug Glauben fand, so brauchte sie selber ihm doch nur ein paar Zeilen zu schreiben – oder ihr Vater. Dann war doch kein Mißverständnis möglich. Dann griff er nach seinem Hut und lief in der Freude seines Herzens mehr als er ging, hinauf nach der Villa Burck.

Aber ihr schien, als ob es auch ihrem Vater gerade recht sei, wenn das nicht geschähe. Er wollte offenbar seinen Bruder nicht mehr als nötig in seinen vier Wänden haben – am wenigsten einen ganzen langen, von bleiernen Erinnerungen an früher überschatteten Familienabend in diesem halbausgestorbenen Hause.

Er und seine Tochter hielten sich nebeneinander. John Burke war immer einen halben Schritt voraus. Seiner Ungeduld war die bedächtige Gangart des alten Otto Burck viel zu langsam. Und dabei war er selbst doch von der Abendschwüle erschöpft. Barbara sah, wie oft er sein vielgedientes und löcheriges Tuch aus der Tasche holte, um die großen Schweißperlen von der Stirn zu trocknen, und als sie die Staffeln bis zu dem kleinen Platz vor dem Hotel emporgestiegen waren, da war er ganz atemlos und keuchte leise.

Da oben, auf dem freien Raum zwischen den spitzgiebeligen, altfränkischen Bürgerhäusern, hatte sie ihn seinerzeit zuerst im hellen Mondzwielicht gesehen. Auch jetzt hüllte die zunehmende Dämmerung alles in weiche, geheimnisvolle Schatten. Aber dies seltsam Eindringliche, den anderen wider Willen Festhaltende, das damals von ihm ausgestrahlt war, das kehrte nicht wieder. Er blieb ihr ein verwahrloster und abenteuerlicher, leidenschaftlich aufgeregter kleiner Mann. Sie hatte ihn inzwischen zu oft bei Tage gesehen. So wie er wirklich war.

In dem bescheidenen Gasthaus, das John Burke und sein Sohn bewohnten, war das Eßzimmer zur ebenen Erde voll von Menschen. Man sah durch die offenen Fenster die runden Tische mit lärmenden Leuten – dicht neben ihnen, von ihnen neugierig betrachtet, eine Tafelrunde knirpsiger Jockeys und gegenüber den Zwergen in Zivil ein Haufen herrschaftlicher Chauffeure. Es war nicht das feinste Publikum – und zwischen ihm lief Wirt und Wirtin und die Kellnerinnen – was im Hause war, bediente mit – überall in Baden-Baden tropfte jetzt das Geld vom Himmel und standen die Schüsselchen, um es aufzufangen – und niemand begegnete den dreien, während sie die Treppe hinauf zu Roberts Zimmer stiegen.

Dort klopfte John Burke zwei-, dreimal. Es kam keine Antwort. Er drückte auf die Klinke. Die Tür war verschlossen. Nun rief er: »Robby! . . . Robby!« und wieder »Robby!« – diesmal ganz laut – aber mit solch einem heiseren Klang der Angst in der Stimme, daß die beiden ihn erstaunt ansahen. Und dabei erschrak Barbara – so verzerrt war sein Gesicht, während er bat: »Robby . . . so mach doch auf . . . ich bin's ja . . . wir sind's . . . wir alle, Robby.« Und dann wandte er sich zu den anderen und murmelte verstört: »Er kann sich doch nichts angetan haben – nicht wahr . . .? Das wäre doch zu wahnsinnig . . . so wahnsinnig kann er doch nicht sein, Barbara – nicht wahr . . .?« Und sie erwiderte entsetzt: »Wie kommst du denn nur um Gottes willen auf den Gedanken, Onkel . . .?« Ein unbestimmtes Grauen erfaßte sie.

Otto Burck aber sagte trocken: »Er ist einfach spazierengegangen! Das ist die ganze Geschichte!« Er war ärgerlich und machte sich seinem Bruder gegenüber Luft. »Darüber hättest du dich auch vorher vergewissern können, statt mich unnütz hierherzubringen! Soll ich denn immer und ewig den Menschen nachlaufen! . . . Das muß jetzt ein Ende haben. Von jetzt ab wißt ihr ja, wo ich morgen zu finden bin! Komm – wir wollen nach Hause gehen, Barbara . . .«

»Er ist im Zimmer!« beharrte John Burke zitternd. »Wie hätte er denn ausgehen können, in der Verfassung . . .«

»In was für einer Verfassung?« Otto Burck fragte das schnell, immer noch mit ungeduldig gerunzelter Stirn, und der andere wich aus, ehe er sich noch weiter hineinredete.

»Er war doch so aufgeregt . . .« murmelte er nur und legte, um besser zu horchen, das Ohr an die Tür.

»Weswegen denn?«

»Was heißt denn das nur, Onkel Joseph?«

Die Stimmen von Vater und Tochter klangen ineinander. Der alte Abenteurer antwortete nicht darauf. Er atmete plötzlich auf. »Es bewegt sich etwas drinnen«, flüsterte er gespannt. »Hört ihr . . . er muß aufgestanden sein . . . da geht er durchs Zimmer . . . die Diele knarrt . . . Robb‹ . . . Robby . . . um Gottes willen . . . so mach doch auf . . .«

Die Laute, die aus seiner Kehle kamen, waren ängstlich, gequält und halberstickt. Und von innen erfolgte keine Erwiderung. Der Sohn wollte seinen Vater nicht sprechen und nicht sehen. Er ließ ihn vor der Tür stehen. Otto Burck schüttelte den Kopf und zog die Augenbrauen hoch. »Da stimmt etwas nicht!« sagte er plötzlich laut und sah dann seinen Bruder scharf und mißtrauisch an. »Was hat es denn zwischen dir und Robert gegeben . . .?«

»Nichts . . . nichts . . .«

»Doch! . . . Ich seh' es dir an . . . also bitte heraus mit der Sprache! . . . Was ist denn nun wieder los! Ich will keine Zwischenfälle mehr . . . ich will endlich reinen Tisch . . .«

»Er soll nur selber reden . . . er wird ja reden . . . es ist ja alles gut . . . wenn wir ihn nur erst haben . . .« John Burke trommelte mit den Fingern auf dem Holz. Otto Burck wandte sich zu seiner Tochter und sagte ernst: »Barbara . . . ich befürchte . . . da erleben wir eine neue Überraschung! . . . Was, das kann ich nicht einmal ahnen, aber ich fürchte, nichts Gutes . . .«

Auch sie war von unbestimmter und darum doppelt quälender Angst bleich geworden. Aber sie nahm sich zusammen und schöpfte tief Atem und rief, so ruhigen Tones, als sie vermochte: »Robert . . . ich bin da . . . mich schickst du doch nicht weg . . .«

Gleich darauf drehte sich der Schlüssel. Die Tür ging auf. Sie sah seine Gestalt auf der Schwelle. Er stand gegen das Abendlicht, das von dem Hoffenster her in das dämmerige Stübchen fiel. So konnte sie seine Züge nicht erkennen. Sie streckte die Hände aus und wollte auf ihn zu. Aber zu ihrem erneuten Befremden drängte sich John Burke rücksichtslos an ihr vorbei. Er mußte der erste im Zimmer sein und faßte dort seinen Sohn an der Schulter, oder versuchte es wenigstens – denn jener wich vor ihm jählings zur Seite mit einer Bewegung des Abscheus, die die beiden anderen entsetzte – und sein Vater verlor durch diesen neuen Zwischenfall noch mehr die Sicherheit und den Boden unter den Füßen und wollte lachen – aber es kam nur ein heiseres Gehüstel heraus, und wollte einfach und innig sprechen und stammelte dabei doch zwischen den Zähnen: »So Robby . . . mein Junge . . . siehst du . . . da sind wir . . . du hast es mir nicht glauben wollen, wie ich wegging – und nun ist es doch wahr . . . dein Onkel Otto hat mir die Hand gegeben . . .«

»Das hab' ich nicht!« sagte der alte Herr kurz und kalt.

Er ließ das Auge nicht mehr von den beiden, in tiefstem Mißtrauen und gespannter Selbstbeherrschung.

»Also . . . wenn das zuviel gesagt ist . . . verzeih, Otto . . . es war nur so eine Wendung . . . es sollte heißen, daß du mir vergeben hast . . . das hast du doch . . .?«

»Ja . . .«

»Da hörst du's, Robby!« Jetzt hatte John Burke wieder einigermaßen seine Haltung. Seine verwitterten Züge verklärten sich. Ein freundliches und dankbares Lächeln erschien darauf. »Da hörst du es! . . . Da sind wir nun! . . . Wir sind zu dir gekommen . . . auf meine Bitte . . . wir wollten dir selber die Freudenbotschaft bringen . . . Robby . . . mein Junge . . . nun freu du dich doch mit uns . . .«

Er zitterte in seinen Worten wie vom Übermaß von väterlicher Rührung und von Dankbarkeit gegen seine Verwandten. Aber ganz war er seiner doch nicht mehr Herr. Seine herabhängenden Hände ballten sich unwillkürlich in Todesangst zusammen, während er den Sohn freundlich ansah und auf dessen Lippen sein Schicksal zu lesen suchte, und Otto Burck bemerkte es und Barbara auch, und sie flüsterte: »Papa . . . ich bitte dich . . . was heißt das? . . .« und er zuckte ratlos und finster die Schultern, und als jener nun sich seinem Sohn zu nähern begann und wieder schmeichelnd anhub: »So . . . nun ist Friede und Freude . . . nun ist alles gut, mein Junge . . . ich bin auf alles eingegangen, was dein Onkel wollte . . .«, da trat Robert so jäh von ihm zum Fenster zurück und sagte mit einer solchen Stimme: »Bleib weg von mir!«, daß ein plötzliches tiefes Schweigen des Schreckens entstand.

Und in dem Licht der Scheiben sah Barbara jetzt zum erstenmal deutlich das Gesicht ihres Verlobten. Er war krank! – Sie schrie und stürzte auf ihn zu. So verstört, so leichenblaß konnte nur ein Mensch sein, über den jählings ein schweres Leiden gekommen – sie umschlang ihn – sie klammerte sich an ihn, und John Burke bestätigte es hinter ihr, und sie hörte dabei seine Zähne aufeinanderschlagen: »Er fiebert! . . . Er hat schon vorhin gefiebert . . . ich wollt' es euch bloß nicht sagen . . . Er hat ja schon die ganze Zeit auf dem Bett gelegen . . . Bleib da nur! Wir gehen lieber . . . Rede jetzt nur nicht, Robby . . . rege dich nicht auf . . . Morgen wird's schon besser sein . . . morgen . . . Robby . . . morgen . . .«

Es war eine verzweifelte Bitte, aber Robert achtete nicht darauf. Er ließ plötzlich seine Arme von Barbara los. Sie standen sich frei gegenüber. Und als sie ihn wieder an der Hand fassen wollte, da hob er abwehrend gegen sie diese Hand – sie traute ihren Augen nicht – sie war gelähmt von ungläubigem Schrecken, daß alles im Zimmer vor ihr verschwamm und sich langsam und dann rascher und immer rascher um sie zu drehen anfing . . . er stieß sie von sich! . . . sie! . . . und aus diesem Nebel, aus der Ferne hörte sie seine Worte.

»Es ist aus! Ich darf nicht zu dir! . . . Und du nicht zu mir!«

»Robert!« Sie schrie gellend auf. Und zugleich wollte John Burke seinem Sohn . . . er wollte ihm den Mund verschließen . . . mit Gewalt . . . aber er taumelte vor dessen Blick zurück und blieb bebend, mit halb offenem Munde stehen.

Robert sagte: »Es ist etwas zwischen uns gekommen, Barbara, ganz ohne meine Schuld, das macht uns alles zunichte!«

Sie konnte nichts mehr erwidern. Sie stöhnte nur noch und hatte die Augen geschlossen. Ihr Vater hielt sie in seinen Armen. »Willst du sie morden?« stieß er hervor. »Willst du nicht wenigstens sagen, was es ist?«

»Du wirst schweigen!« schrie John Burke dazwischen. Er drehte sein Taschentuch in den Händen und zerriß es in seiner Todesangst.

Robert schüttelte den Kopf. »Ich darf jetzt noch nicht reden, Onkel! In wenigen Wochen werd' ich es dir schreiben! Dann wirst du begreifen, daß ich kein Recht hab', in euren Kreis zu treten!«

»Schreiben?«

»Ja. Ich muß weg von hier! Für immer! Heute noch! . . . Ich bitte dich nur um das eine, Barbara . . . glaub mir: ich lieb' dich, wie das nur ein Mensch überhaupt vermag – und werd' das immer tun . . . wo ich auch bin . . . es wird außer dir nichts in meinem Leben geben . . .«

Sie hörte nicht mehr. Ihr Vater konnte sie nicht mehr halten. Er ließ sie auf einen Stuhl an der Wand gleiten. Sie war ohnmächtig geworden. Und zugleich öffnete sich die Tür. John Burkes überlauter letzter Schrei hatte das Stubenmädchen herbeigerufen. Sie dachte, es sei ein Unglück geschehen. Der Hausdiener stand hinter ihr.

Otto Burck verlor auch jetzt noch nicht seine Haltung. Er sagte ruhig zu den beiden Leuten: »Meine Tochter hat einen plötzlichen Schwächeanfall bekommen! . . . Ist ein Wagen in der Nähe? Unten auf dem Platz? Ja? Dann helfen Sie mir, sie hinunterzubringen!«

Der Hausdiener stieß die Tür ganz weit auf. Einer der Chauffeure, ein kräftiger Mensch, der draußen gerade vorbeiging, leistete freiwillig Hilfe. So brachten sie Barbara hinaus. Ihr Vater ging hinterher und stützte sie, ganz in Sorge um seine Tochter und ohne noch einmal den Blick nach den beiden anderen zu wenden. John Burke und Robert blieben allein im Zimmer zurück.

Der alte Abenteurer ließ sich wie ein Kind schluchzend auf das Sofa sinken. Robert blieb auch jetzt aufrecht. So stand er vor ihm und sagte: »Nun hast du's erreicht . . . Nun hast du's abgeschlossen, wie du immer gelebt hast . . . Unheil und Zerstörung um dich! . . .«

»Durch deine Schuld . . . durch deine . . .«

John Burke hatte das Wort noch kaum gesprochen – da duckte er sich, in plötzlicher Angst vor dem Leidenschaftsausbruch des Sohnes, der bis dahin so unheimlich gefaßt gewesen war. Robert war vor ihn hingetreten. Es arbeitete in ihm alles, was er jetzt, was er schon früher durch Jahre und Jahre in sich niedergekämpft, suchte einen Ausweg und entlud sich und ward zur Lebensabrechnung zwischen Vater und Sohn: »Meine Schuld! . . . Ist's meine Schuld, daß ich geboren bin . . . daß du mein Vater bist . . . daß ihr da drüben in England meine Verwandten seid? . . . nein . . . wahrhaftig . . . da hab' ich nichts dazu getan . . . das ist eine fremde Schuld . . . eure . . . an der hab' ich keinen Anteil und war doch an sie gebunden mein Leben lang . . . bis heute . . .«

In steigendem Grimm fuhr er fort: »Die Schuld hat mich verfolgt seit meiner Kindheit! Wo ich war, da war sie auch. Wo ich emporzukommen versucht hab', da hat sie mich von hinten am Genick gepackt und wieder nach unten gerissen – wo ich Menschen mich nähern wollte, da haben sie es mich empfinden lassen, daß ich der Sohn meines Vaters bin . . . gekennzeichnet fürs Leben – mit einem Mühlstein um den Hals, wo die anderen frei vorwärts konnten . . . ach, was weißt du, was ich schon gelitten hab' durch dich . . .«

Und leiser, zwischen den Zähnen, sprach er: »Ich hab's dich nie entgelten lassen. Ich hab' mich an das Verhängnis gewöhnt, wie man sich an irgendein körperliches Leiden gewöhnt . . . Es hilft nichts . . . Man muß es eben tragen. Und man trägt's auch. Dazu hatte ich immer noch Mut und Kraft genug – und mehr noch: ich hab' dich noch dazu wirklich liebhaben können – von Herzen liebhaben können, wenn du mich auch manchmal fast zu Boden gedrückt hast, so als trüge ich statt deiner einen Zentner Blei auf meinen Schultern durchs Leben und könnte kaum mehr atmen! Ich war dir trotzdem immer ein guter Sohn . . . alle haben dich verlassen . . . nur ich war immer bei dir . . . auf mich hast du immer zählen können – rücksichtslos bin ich vor dich getreten und hab' dich mit dem eigenen Leib geschützt – gegen jeden – und wie hast du mir's nun gedankt . . .«

John Burke antwortete nicht. Er wimmerte nur leise. Sein Sohn trat in das halbdunkle Zimmer hinein. »Alles hast du mir zunichte gemacht!« sagte er mit erstickter Stimme. »Mein ganzes Glück – mein ganzes Leben . . . und wenn ich nicht doch ein leidlich starker Kerl wäre – zum Glück – so wüßte ich, was ich jetzt lieber täte, als alles andere . . . so aber will ich versuchen, weiterzuleben – ich weiß freilich nicht, wie – und zu hoffen – ich weiß nicht auf was – und du hast unnütz das alles getan – das ist das, worüber man wahnsinnig werden könnte – du machst mich ganz umsonst zum Bettler – und du hast dir selbst das Letzte genommen, was du noch hattest – mich.«

Sein Vater saß teilnahmlos, vornübergesunken, die Hände ineinandergeballt. Robert hatte jetzt äußerlich seine Ruhe wiedergefunden. So sagte er: »Ich will nur meinerseits keine Schuld gegen dich auf mich laden. Ich will das Letzte tun, was ich jetzt noch für dich tun kann, und dir helfen, dich der Verantwortung für deine Schuld zu entziehen. Dazu brauchst du Geld!« Er wies auf einen verschlossenen Briefumschlag, der auf dem Tisch lag. »Nimm das! Darin findest du eine Anweisung auf meine Ersparnisse in London – hole sie dir von der Bank und dann sieh, daß du sofort eine möglichst große Strecke Welt zwischen dich und den . . . den Wechsel legst. Es gibt ja Staaten, die nicht ausliefern . . . dort bist du geborgen – für die Zeit, die du noch lebst . . . Aber ich gebe dir nur vierzehn Tage Zeit, Vater – dann schreibe ich von Amerika aus hierher den Sachverhalt! Länger kann ich das nicht mit mir herumtragen. Und in Amerika ändere ich meinen Namen, für immer! Und wenn mich jemand nach meiner Familie fragt, so antworte ich ihm: ›Gott sei Dank, ich hab' keine! Ich weiß nicht, von wo ich komm'!‹ Ich will den Fluch endlich loswerden! Ich hab' ihn wahrhaftig teuer genug mit meinem ganzen Glück bezahlt . . .«

Der Alte stöhnte etwas vor sich hin. Es klang wie: »Ich will dich wiedersehen, in Amerika . . .«

Sein Sohn schüttelte den Kopf. »Du wirst mich nie wiedersehen und ich nie mehr dich! . . . Das ist jetzt der letzte Augenblick, wo wir zusammen sind . . .«

Jetzt weinte es aus der dunklen Ecke des Sofas her: »Robby, Robby, was mach' ich denn ohne dich . . .?«

Es kam keine Antwort.

»Robby, ich hab's doch gut gemeint, ich wollt' ja bloß uns allen helfen . . . so gut ich's verstand . . .«

»Aber wir verstehen uns nicht, Vater! . . . Wir sprechen zwei verschiedene Sprachen . . . ich will nicht mehr sagen . . . mit den letzten Worten, die wir miteinander wechseln – aber es sind die letzten Worte, Vater . . . für immer . . .«

John Burke saß stumm und regungslos da. Sein Sohn wandte sich zur Tür und drückte sie hinter sich in das Schloß. Draußen stand der Hausdiener. Dem gab er ein Trinkgeld und beauftragte ihn, sein Gepäck und die Rechnung zum Londoner Nachtzug, der in wenigen Stunden ging, auf die Bahn zu bringen, und ebenso mechanisch stieg er die Treppe hinab und trat hinaus in das Freie. Nichts hielt ihn hier mehr. Nichts sonst auf der Welt. Es war alles hinter ihm abgeschlossen und zu Ende. Und vor ihm war die große dunkle Nacht.

In die ging er hinein, ziellos und planlos, nur den Gedanken im Kopf, daß er sich übermorgen in Liverpool einen Kabinenplatz zur Überfahrt nach der Neuen Welt buchen lassen müsse und dann . . .

Er konnte sich gar nicht vorstellen, was dann noch eigentlich kommen sollte. Das war doch nicht der Mühe wert. Nur daß es Feigheit war, sich diesem Sein zu entziehen, in dem man nun einmal war . . .

Er war an der Lichtentaler Allee. Da war nun wieder um das Kurhaus herum alles voll Menschen, und die lachten und machten glückliche Gesichter – auf dieser Welt – unter diesem Sternenhimmel, der da oben kalt in tausendfacher Pracht glitzerte – ihm schienen sie wie Verrückte – und die Musik spielte einen Tusch, und das Feuerwerk knatterte, und ein staunendes Ah! ging durch die Menge, und Robert Burck bangte vor der Komödie des Lebens.

Vor einem Juwelierladen stand ein Haufen Amerikaner und Amerikanerinnen. Die Herren legten jeder einige Hundertmarkscheine hin, die Damen wählten sich dafür einen Schmuck aus – dann wurde unter ihnen gelost, und die Gewinnerin befestigte sofort die Diamantbrosche an ihrer Brust. Robert sah es im Vorübergehen. Ja, das war das Leben . . . Geld . . . Geld . . .

Und dort drüben lag das Konversationshaus, in dem man um Haufen von Gold gespielt hatte. Da klebten an den Anschlagsäulen die Programme der Rennen, auf denen man um Geld die Pferde dahinhetzte und Gold auf ihre Hufe wettete . . . Gold . . . Gold überall . . .

Er floh davon. Ins Dunkel hinein. Bald war es um ihn still. Baumriesen breiteten ihre nachtschwarzen Zweige über ihm aus. Und er ging weiter und weiter, immer geradeaus, dem leise plätschernden Lauf der Oos entgegen. Und nun dachte er nur noch an Barbara . . .

Er sagte halblaut »Barbara« vor sich hin und wieder »Barbara«, als könne er sie so durch Nacht und Leid hindurch an seine Seite ziehen, und seltsam: sie schien ihm nicht fern. Wo sie doch für immer fern von ihm war. Das konnte er nicht glauben. Er zwang seinen Willen dazu, zu denken, grausam und klar zu denken, daß nun alles aus sei und alles Sehnen und Wünschen und Verzweifeln nicht mehr bedeute als der Nachthauch zwischen den Bäumen, der leise wehte und im Nichts erstarb. Aber da oben glänzten Sterne, und ganz da hinten, ganz im Innersten seiner Seele, war doch noch Hoffnung. Er war zornig auf diese Hoffnung. Sie durfte nicht sein. Sie äffte ihn nur mit Trugbildern, die so unbestimmt, so unfaßbar waren, als höhne er in ihnen seinen eigenen Schmerz. Und so oft er die Hoffnung totzuschlagen suchte – sie war immer wieder da, und sein Verstand sagte ihm immer wieder kalt und dumpf: 's war ein Spiel um nichts. Ja – wenn es sich um die Zukunft gehandelt hätte – die ließ sich schon zwingen, mit jungem Mut und starken Armen. Die war vielgestaltig und vielbeweglich. Aber die Vergangenheit war eine erstarrte, eherne, tote Masse. Die wuchtete auf ihm, und keine Menschenkraft vermochte sie auch nur um einen Zoll zur Seite zu wälzen.

Um ihn waren plötzlich Mauern, niedere Türmchen, ein gewölbter Torbogen, etwas wie vom Mittelalter, ein Brunnen plätscherte laut durch die Nacht. Seltsam geformte Bäume streckten ihre knorrigen Arme empor. Von drüben her glänzte Licht aus gotischen Kirchenfenstern, er stand im Vorhof des Frauenklosters von Lichtental. So weit war er gewandert in seinen Gedanken. Er trat wieder auf die Straße und sah unter der Laterne auf die Uhr. Es war Zeit. Er mußte zum Bahnhof zurück. Und in dieser langen Stunde, während er wieder durch die Nacht Baden-Baden zuschritt, dachte er nur an Barbara. Und als er an den belebten Teil der Lichtentaler Allee gekommen war und erkannte, daß ihm noch etwas Zeit blieb, faßte ihn ein unbezwingliches Sehnen, nur noch einmal, zum letztenmal, sich nicht ganz fern von Barbara zu wissen – noch einmal wenigstens von außen das Haus zu sehen, in dem, in diesen paar Wochen, sich alles für ihn abgespielt hatte, was in seinem Leben lebenswert gewesen, und aus dem Dunkel heraus das Licht hinter den Scheiben zu erblicken, wo sie war, und den Schein mit sich zu nehmen auf den Weg. Es war nicht weit bis zur Villa . . . nur ein paar hundert Schritte – und er konnte sich nicht zurückhalten und stieg den wohlbekannten Weg hinauf und blieb in der Entfernung stehen, unter den Bäumen an der Straße, so daß man ihn von dort im Schatten nicht bemerken konnte, und hatte plötzlich seine Kraft überschätzt und sank schluchzend auf den Erdboden nieder und krampfte die Fäuste in das feuchte Gras, und fühlte das heiße Wasser aus den Augen schießen und über seine Wangen strömen, und knirschte mit den Zähnen und ächzte auf und weinte und lachte in einem darüber, daß er hier lag . . . daß er überhaupt auf der Welt war . . . daß diese Welt bestand, die er nicht begriff – die ein Unrecht war . . . ein Hohn auf alles Gute und Schöne – eine einzige Lüge, an der nur eines wahr war – der Schmerz – der Schmerz, wie er ihn jetzt bis mitten ins Herz hinein empfand – lang hingestreckt – unfähig, sich zu bewegen – geschlagen von dem Schicksal – ein toter Mann, der dabei immer noch atmete – in dessen Körper sich immer noch der alte Kreislauf von Blut erfüllte, wo in ihm selber alles abgestorben war – nein – nicht abgestorben! . . . nein! . . . nein . . . die leidenschaftliche Sehnsucht wurde wach – die lebte – die legte ihm immer wieder ein leises »Barbara« auf die Lippen – einen Schwur, doch nicht von ihr zu lassen – in der Hoffnung auf sie zu leben – sie sich doch noch irgendwie – irgend einmal zu erkämpfen – und das, sein einziger Wille – sein einziger Vorsatz für die Not des kommenden Daseins, richtete ihn wieder auf die Knie empor, und so sah er hinüber, sah noch einmal die Villa, die still und tot, in weißlichem Schimmer hinter den Rasenflächen im Parkdunkel gebettet dalag.

Und doch war Leben in ihr . . . Ein Licht. Das erkannte er jetzt, während er sich wieder erhob. Das wanderte. Unruhig von einem Fenster zum anderen – so wie wenn jemand eilig umherliefe . . . oder etwas suche . . . oder sich rüstete, und dann glitt das Licht zum Erdgeschoß hinab . . . der Flur erhellte sich, das Haustor öffnete sich – ein kleiner Herr trat eilig heraus und ging durch den Garten auf das Gitter zu und durch die Pforte auf die Straße, und Robert sah: es war sein Onkel Otto Burck.

Der alte Herr lief gerade auf ihn zu. Er stürmte den Weg herab. Er erblickte seinen Neffen noch nicht. Der hätte noch Zeit gehabt, in das Dunkel zurückzutreten und jenen an sich vorbeizulassen. Aber er fand dazu nicht die Kraft. Oder nicht den Kleinmut. Er wollte dem Schicksal nicht aus dem Wege gehen.

Nun war der andere vor ihm und erkannte ihn und war gar nicht erstaunt, hier mitten in der Nacht auf ihn zu prallen. Er schien anzunehmen, daß Robert eben auf dem Wege zu ihm sei, und packte ihn erregt an der Schulter. »Kommst du aus dem Hotel?«

»Nein –«

»Also weißt du noch gar nichts?«

»Um Gottes willen, ist Barbara krank?«

»Sie hat sich wieder soweit erholt. Aber das ist nichts für sie! Ich hab' ihr auch noch nichts davon gesagt! . . . So komm doch nur! Was stehst du denn da und verlierst die Zeit? . . . Komm doch! . . . Komm schnell!«

»Wohin denn?«

»Ins Hotel, Robert . . . ach so! . . . Dir hat er's ja nicht geschrieben . . .«

Otto Burck hielt ein zerknittertes Stück Papier in der Hand. Robert erkannte auf den ersten Blick die Schriftzüge seines Vaters. Und sein Onkel sagte, plötzlich ruhig und sehr ernst geworden: »Er hat mir's eingestanden – da – in dem Brief . . . bis aufs letzte. Jede Einzelheit! Ganz geschäftsmäßig schreibt er . . . sieh . . . da hat er sogar die Bankanweisung, die du ihm gegeben hast, beigelegt . . . der Ordnung wegen . . . es könnten Diebe im Hotel sein oder sonst Mißbrauch damit getrieben werden.«

Der alte Burck hatte absichtlich mit Umschweifen gesprochen. Er wollte dem Sohn Zeit geben, sich zu sammeln – sich vorzubereiten – und der las: »Ich bin nun fertig und müde, in einer Welt zu leben, die seit zwei Jahrzehnten gegen mich blind ist und mich nicht anerkennt! Ihr seid in der Mehrzahl. Also gehe ich! Ich bitte Dich nochmals um Verzeihung, Otto . . . und ich bitte Dich, fasse das so auf, wenn ich jetzt gehe, daß ich damit für die auf der Welt Platz machen möchte, die nichts für das alles können, für unsere Kinder. Ich bin nicht mehr der Stein des Anstoßes. Nun sei Du ihrem Glück auch nicht mehr im Wege. Das ist meine letzte Hoffnung und der bringe ich einen Kopf wie den meinen zum Opfer. Ich hab' mir mein Fläschchen schon aus London mitgebracht gehabt, für alle Fälle. Jetzt spricht schon einer zu Euch, der woanders ist. Robert soll merken, ob er nicht Zeichen von mir bekommt, ob es nicht klopft . . . in den nächsten Tagen. Ich will versuchen, ihm nahe zu bleiben! Er ist doch immer mein Glück und meine Freude gewesen. Ich hab' ihn unendlich liebgehabt, so gut wie ich's verstanden hab', sag ihm das . . . und er möge mir nachträglich verzeihen! Und er wird es auch, wenn Du ihm nur die Barbara gibst . . .«

Sie sprachen nicht mehr. So rasch sie konnten, eilten sie dahin nach dem Hotel, in dem alles noch seinen gewohnten Gang ging, und stürzten nach John Burkes Zimmer und klinkten, ohne in der Erregung anzuklopfen, die Tür auf – sie gab nach – sie war nicht verriegelt, und traten ein. Drinnen brannte kein Licht. Nur ein bläuliches Dämmern aus der Nacht draußen füllte den kleinen Raum.

Es war hell genug, um John Burke zu erkennen. Er lag friedlich in seinen Kleidern auf dem Bett und schlief. Aber als sein Sohn ihn an der Schulter faßte und sein Bruder ihn anrief, erwachte er nicht und rührte sich nicht. Und aus den zusammengekrampften Fingern der schlaff herabhängenden Rechten schaute ein kleines, leeres Fläschchen heraus.

Lange standen die beiden schweigend vor seinem Lager. Sie hatten die Hände gefaltet. Aus der Ferne klang der unbestimmte Lärm des ersterbenden Abends – das Lachen und Plaudern der Gäste in der Wirtschaft unten. Von irgendwo ein gedämpftes, kaum hörbares Pochen, dann das rasche Vorfahren und Halten eines Wagens auf dem Steinpflaster des Platzes draußen, und nun wieder Stille.

Da drückte Robert leise seinem Vater die Augen zu. Und als er es getan, sagte Otto Burck neben ihm: »So . . . komm . . . gib mir deine Hand . . .«

Er streckte seine Rechte aus. Aber noch nahm sie jener nicht. Der stand ihm gegenüber vor dem Bett des Toten und murmelte: »Ich darf nicht, Onkel . . .«

»Wenn ich sie dir biete . . .«

»Mein Vater ist nicht mehr! Aber was von ihm ist, das ist doch noch in der Welt, das bleibt doch und haftet an mir. Ich kann ja nicht ungeschehen machen, was er getan hat . . .«

»Es ist schon ungeschehen!« sagte Otto Burck ruhig. »Kein Mensch wird je erfahren, was war!«

Das hieß, daß er den Wechsel einlösen würde. Das Geheimnis sank hinter dem, der es geschaffen, in das Grab. Robert sah den alten Herrn an. Er fand kein Wort.

Da klopfte es leise an der Tür. Otto Burck ging hin und öffnete einen Spalt, und sein Neffe hörte draußen Barbaras Stimme. Sie klang matt vor Angst und Erschöpfung. »Ich hab' es daheim nicht ausgehalten, ich bin im Wagen dir nach, was ist geschehen?«

»Warte einen Augenblick!« sagte ihr Vater.

»Warum läßt du mich denn nicht hinein?«

»Nein! Bleib draußen!« Er ging rasch zum Bett und nahm Robert, der immer noch dastand, an der Hand und führte ihn zur Tür und öffnete die halb. Die beiden standen sich gegenüber.

»So, Barbara!« sagte der alte Burck. »Den sollst du zuerst sehen, und nicht das da drinnen!« Sie wußte nicht, wie ihr geschah. Sie glaubte nicht daran. Sie starrte Robert an, ob er es auch wirklich sei. Da zog er sie stumm an sich und schloß sie in die Arme.

 

Ende.

 


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