Rudolph Stratz
Die armen Reichen
Rudolph Stratz

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Sechstes Kapitel

Barbara und Robert Burck gingen langsam zur Stadt zurück, die Lichtentaler Allee entlang, in der Mengen von Menschen promenierten, saßen oder beisammen standen, plaudernd, lesend, rauchend, vor sich hinschauend – nur arbeiten sah man niemanden weithin. Einzelne Reiter trabten vorbei, die Wagen rollten rastlos auf und nieder, von einem Hotel zum anderen. Jetzt war die Zeit, wo das bunte Treiben bald seinen Höhepunkt erreichte. In der nächsten Woche begannen die großen Rennen, und jetzt schon war alles voll von kleinen Parisern mit dem roten Bändchen im Knopfloch und über Nacht in Schwärmen aufgetauchten Französinnen, die gepudert und geschminkt die Luft mit ihrem Parfümgeruch erfüllten. Und diese Luft war selber wie parfümiert – weich, feucht, erschlaffend. Gleich einem dünnen, weißen Treibhausnebel lag sie über den Rasenflächen und Blumenbeeten und Baumgruppen und verschleierte die fernen, ernsten Schwarzwaldhöhen. Die Menschen selber waren alle müde und schläfrig vom vielen Nichtstun. Es war Barbara, als kröchen sie wie matte Fliegen umher. Und mitten unter diesen Leuten begegnete ihnen plötzlich Augustus von Rhenus mit seiner rosigen, britisch-kühlen jungen Frau. Ein Anflug peinlichen, frostigen Befremdens malte sich auf den Zügen des Ehepaares. Er grüßte zwar höflich, als korrekter Gentleman, aber es ging doch wie eine stumme Frage von ihm zu Robert hin: »Was, noch hier?« – und Jane von Rhenus nickte überhaupt nur ihrer Verwandten mit einem äußerst zurückhaltenden: »Good morning, Barbara!« zu – ihren Begleiter übersah sie völlig, als ob er Luft wäre. Kaum waren sie weiter, da sagte Barbara heftig: »Was sie für Fischaugen machen, die zwei! Sie glotzen einen förmlich an! Gräßliche Geschöpfe! So geht's hier! Man begegnet sich immer und überall. Verbergen läßt sich nichts. Und wir haben wahrhaftig auch nichts zu verheimlichen. Ich warte heute im Lauf des Tages eine günstige Gelegenheit ab, wo ich Papa allein hab'! Dann sprech' ich mit ihm!«

Damit trennten sie sich vor der Burckschen Villa mit einem langen, festen Händedruck. Barbara trat in den Garten, wo auf der Veranda alles nach dem Frühstück beisammen saß. Sie wollte unbefangen Platz nehmen, da traf sie ein ungeduldiger Blick ihres Vaters. Er sagte, weit ärgerlicher und gereizter als sonst in seiner milden Art lag: »Sag mal, Barbara – was heißt denn das? Warum läßt du uns hier am Frühstückstisch warten und läufst frühmorgens in die Stadt hinunter? Was steckt denn da eigentlich dahinter?«

»Gott – es hat sich halt so gemacht!« Sie setzte sich. Ihr Herz klopfte. Von allen Seiten sah man auf sie. Das erbitterte sie. Sie sah, rot geworden und befangen, im Kreise umher und sagte gereizt: »Ich möchte nur wissen, warum ihr mich alle so anstarrt! Ich bin doch kein Wundertier!« Onkel Pauluscha konnte nicht mehr an sich halten und platzte voll Freude heraus: »Barbara – gestern hab' ich dich gesehen – von Rumpelmeyer aus!«

Rumpelmeyer war die Konditorei. Dort saß er des Nachmittags stundenlang und schleckerte an seinem Eiscreme. Sie warf den Kopf zurück und sagte verächtlich: »Nun – und?«

»Dich und einen gewissen jemand«, fuhr Onkel Pauluscha mit Grabesstimme und mit vor Entzücken über das kommende Unheil leuchtenden Augen fort: »der schon längst abgereist sein soll. Ich will seinen Namen nicht nennen – er heißt Robert Burck.«

Es wurde still am Tisch. In diese Ruhe vor dem Sturm hinein sagte Barbara spöttisch, aber doch mit vor Aufregung zitternder Stimme: »Ja, denke dir, ich war so frei, mit meinem Vetter spazierenzugehen! Hast du etwas dagegen? Oder du, Lizzie – oder du, Anna, weil du so ein Gesicht machst . . . und du«, sie wandte sich an deren Mann. »Nimm doch wenigstens die Glasscheibe aus dem Auge, wenn du mich schon ununterbrochen fixieren mußt! Es macht einen ja ganz nervös . . .«

»Auf die alle kommt es nicht an!« sagte Otto Burck ruhig, aber bestimmt. »Ich bin dein Vater! . . . Du wirst die Güte haben, mir Rede und Antwort zu stehen! Es ist also wahr, was ich heute früh gehört hab', daß du . . .«

»Nachher, Papa, nachher . . . in deinem Zimmer . . .«

»Nein, liebes Kind . . . ich möchte sofort Klarheit haben.«

»Aber nicht hier! . . . Ich brauche doch nicht hier vor allen Leuten alles zu erzählen! Sieh nur, wie Onkel Pauluscha lacht! Onkel Pauluscha, ich bitt' dich, laß das dumme Lachen! . . . Mir ist gar nicht zum Lachen zumut . . .«

»Nun, also, dann komme, Barbara!« Otto Burck war aufgestanden, um mit ihr in das Haus zu gehen. Aber in diesem Augenblick sagte Frau Konstanze Burck mit harter Betonung, indem sie ihrer hohen, hageren Gestalt einen Ruck gab, daß sie kerzengerade dasaß: »Das kommt davon, daß man solche hergelaufenen Leute in sein Haus aufnimmt! Das mißbrauchen sie dann, natürlich . . .«

Barbara, die schon ihrem Vater folgen wollte, drehte sich blitzschnell nach ihr um. Ihre Augen sprühten. Sie bebte. »Hergelaufene Leute . . .« schrie sie. »So nennst du Robert . . .«

»Barbara, ich verbitte mir . . .«

»Hergelaufene Leute! Wo sind denn wir hergelaufen? Unser Großvater war ein Bauer! Wir haben neulich noch das Haus gesehen, Robert und ich, und den großen Dunghaufen davor! Und dein Vater – Mama – dem sein Vater war ein Leinewebergeselle aus dem Sächsischen. Der ist als wandernder Handwerksbursche nach Polen gekommen! Das wissen wir doch! Tut doch nicht so, als ob wir was Besonderes wären! . . . Das ist ja . . . das ist einfach lächerlich . . .«

»Deine Vorfahren« – sie wandte sich an ihren Schwager Heinrich – »mögen ja in den Kreuzzügen gefochten haben . . . aber ob unsere nun Zucker sieden oder Nähgarn verkaufen oder wie Onkel Pauluscha überhaupt nichts tun, da muß man wahrhaftig schon Mama sein, um da noch einen Unterschied zu finden! . . . Hergelaufene Leute . . . von deinem eigenen Neffen! . . . Mama . . . das vergesse ich dir nicht . . .«

»Und ich habe diese Ungezogenheiten satt!« erklärte Otto Burck sehr heftig. Er konnte, wenn auch nur auf kurze Zeit und wider Willen, energisch werden. »Wer gibt dir denn überhaupt das Recht, Barbara, dich derart zu seinem Verteidiger aufzuwerfen . . .«

». . . weil wir uns gestern verlobt haben«, sagte Barbara, ». . . und uns so bald wie möglich heiraten wollen! So . . . na . . . nun wißt ihr's . . .«

Alles war aufgesprungen. Das erste, was man hörte, war Frau Konstanze Burcks gebieterisch überlautes: »Pauluscha, lache nicht!« Denn Onkel Pauluscha kicherte vor Entzücken in sein Taschentuch, während die anderen verblüffte Gesichter machten und sprachlos dastanden.

Auch Frau Konstanze Burck fand im ersten Augenblick kein Wort der Empörung, so versteinert war sie durch die Überraschung. Das benutzte ihr Mann und versetzte in ruhigem Ton zu Barbara: »Komm einmal mit auf mein Zimmer! Dort wollen wir weiter reden!«

Er ging voraus. Im Begriff, ihm zu folgen, schaute sie noch einmal im Kreise der Ihren umher. Überall war Schweigen, von allen Seiten hefteten sich mißbilligende oder verlegene Blicke auf sie. Sie sagte spöttisch, aber mit zitternden Lippen und feuchten Augen: »Ich danke euch allen auch recht herzlich für eure Glückwünsche zu meiner Verlobung!« Sie verließ, da die tiefe Stille anhielt, den Kopf in den Nacken zurückwerfend, das Gemach.

Ihr Vater war oben freundlich und gelassen wie immer. Er ließ sie sich an dem Schreibtisch gegenübersitzen, zündete sich bedächtig eine Zigarre an und begann dann milde: »Ich hab' so was kommen sehen, Barbara! Es ist ja auch weiter kein Wunder! Ihr trefft euch, ihr gefallt euch, es ist schöne Sommerszeit hier, in diesem schönen Fleckchen Erde. Da macht sich das so von selbst, es fliegt einem an. Das sind die Zeiten im Leben, wo einem alles bunt und froh wird – ich erinnere mich wohl daran, aus meiner eigenen Jugend . . . aber nun bin ich alt und weiß, nichts im Leben hat Bestand – und das am wenigsten . . .«

»Doch, Papa . . . das hat Bestand . . . das schwöre ich dir!«

Er unterbrach sie mit einer Handbewegung. »Sieh mal, Kind . . . halbwegs dauerhaft ist, wie wir Menschen nun einmal sind, nur das, wo die Vernunft und die Überlegung wenigstens halbwegs mitgesprochen haben! Nun gebe ich ohne weiteres zu: vom Standpunkt deines Vetters Robert wäre das ja recht vernünftig. Der wäre durch eine solche Partie mit einem Schlage ein gemachter Mann, aus seiner Armut heraus mitten in den Reichtum versetzt – das ist freilich verlockend für einen jungen Menschen . . .«

»An das denkt er gar nicht, Papa!«

»Er wäre recht töricht und ein schlechter Kaufmann, wenn er daran nicht dächte! . . . Ja – wenn sich jemand verlaufen sollte – aber wo er dir gefällt und du ihm – das täte jeder, das hätte ich auch getan, als junger Anfänger! . . . Es ist doch weiß Gott besser . . .« er machte mit der Hand eine müde Bewegung im Halbrund vom Kassenschrank in seinem Zimmer gegen das Haus hinunter und zum Garten hinaus: ». . . all das mit einem Schlag, mit dreißig Jahren zu bekommen, statt daß man sich wie ich sein ganzes Leben lang darum abmühen muß und, wenn man's endlich hat, längst viel zu kaputt ist, um es noch zu genießen! . . .«

»Sprich doch mit ihm! Du wirst sehen . . . er verlangt gar nichts von dir, wenn du's ihm nicht geben willst – außer mir! . . . Er ist mit allem zufrieden.«

Der Alte lächelte. Die Fuchsschlauheit des gewiegten Kaufmannes, der sich nicht so leicht von einem jungen Menschen übertölpeln ließ, kam für einen Augenblick in seinen Blick. »Das glaube ich dir gern, Barbara!« sagte er. »Denn er weiß genau, daß ich meine Tochter standesgemäß ausstatten und nicht als die Frau eines bescheidenen Clerks in England herumlaufen lassen würde! Nein, Kinder – damit geht mir! Das ist ein billiger Heldenmut . . .«

». . . stell ihn doch erst auf die Probe . . .«

». . . daß er dich in Liverpool in Sackleinwand kleidet und mit Schwarzbrot ernährt? . . . Nein, liebe Tochter . . . das wissen wir genau, daß er da um eine glänzende Position im Leben spielt . . . Es hat schon mancher junge Kaufmann auf diese Weise sein Glück gemacht . . . Warum sollte ihn das nicht auch locken . . .«

Sie sprang gereizt auf: »Also gut, Papa! . . . Du hast recht! Er ist ein Mitgiftjäger . . . er denkt nur an dein Geld und will bei dir unterkommen, aber das hindert nicht, daß ich ihn liebe – und daß ich an ihm festhalte – und daß das alles nicht wahr ist, sondern wir uns heiraten werden, wenn's sein muß, mitten in die Armut hinein . . . davor fürchten wir uns gar nicht . . . damit schreckst du mich nicht . . .«

Otto Burck sah seine Tochter lange und trübe an. Dann sagte er leise: »Nein. Es geht nicht, Barbara.«

Sie zuckte zusammen. Er wiederholte fester: »Es geht nicht! . . . Schau! . . . Er hat mir von Anfang an gut gefallen! Er hat etwas Frisches, Lebendiges an sich, das einem wohltut . . . Er ist ein offener Kopf . . . er wird es schon zu etwas bringen. Wenn ich ihm dabei sonstwie helfen kann, dann soll es gern geschehen! . . . Aber als Schwiegersohn . . . nein, da kann ich ihn nicht nehmen!«

Seine Tochter war sehr blaß geworden und sah ihn fest an: »Warum denn nicht, Papa?«

Der Alte schüttelte den Kopf. »Ich nehme niemanden zum Schwiegersohn, der solch einen Vater hat! Das hab' ich schon einmal gesagt! Davon weiche ich nicht ab! Dadurch kommt Unreinlichkeit in mein Haus . . . und mir kann jeder in mein Hauptbuch sehen wie auf die weiße Weste, die ich anhab' . . . es ist kein Fleckchen daran, und so soll es bleiben . . . und muß es bleiben! . . . Sei tapfer, Barbara! Beiße die Zähne zusammen. Mit der Zeit gibt's sich schon, und man vergißt . . . Es ist ja doch alles nur eine flüchtige Geschichte . . . es ist doch viel zu schnell gegangen, um bleibende Spuren in euch zurückzulassen . . . denke dir: Es hat nicht sollen sein! . . .« Er legte ihr die Hand auf die Schulter. »Ich hätte es dir ja gerne gegönnt, mein Kind, aber wenn man mal fünfundsechzig ist, dann geht's mit dem Enthusiasmus nicht mehr! Dann rechnet man sich an den zehn Fingern aus, was vernünftig ist, und das tut man . . .«

». . . und das tun wir auch und heiraten . . . so oder so . . .«

Otto Burck schaute seiner Tochter scharf ins Auge. Er unterdrückte den aufsteigenden Unmut. »So spricht deine Unerfahrenheit!« sagte er langsam. »Du achtest nicht auf meine Warnung . . . Du weißt nicht, wessen Sohn er ist . . .«

»Doch . . . ich weiß es . . .«

»Was denn?«

». . . daß sein Vater wegen Wechselfälschung im Gefängnis gesessen hat . . .«

Der alte Burck zuckte zusammen: »Wer hat dir das gesagt?«

»Er selbst.«

Es war eine kurze Pause. Dann fuhr Barbara fort: »Und mich kümmert das nicht! An mir ist es nicht, zu richten. Ich heirate nicht seinen Vater, sondern ihn! Und gegen seinen Ruf hat noch nie jemand etwas zu sagen gewagt!«

»Und trotzdem haftet das wie ein Fluch an ihm!« sagte der alte Herr.

Die beiden schwiegen und schauten sich an. Endlich begann er wieder: »Du bist doch noch jung, Barbara! . . . Es gibt doch noch tausend Dinge, die draußen im Leben auf dich warten . . .«

»Nein. Nur den einen . . .«

»Und an Harry von Rhenus hast du bei dem allen überhaupt nicht gedacht?«

Sie zuckte die Achseln. »Ich habe ihm schon vor ein paar Tagen alles geschrieben, ganz offen! . . . Jetzt muß er meinen Brief schon haben . . .«

»Und damit ist zwischen euch alles aus?«

»Alles aus!«

Ihr Vater blickte vor sich hin und sagte mit einem hartnäckigen Zug um den Mund: »Und mich hast du dabei gar nicht gefragt. Ich komm' dabei gar nicht in Betracht. Alle meine Abmachungen werden einfach in Scherben geschlagen. Ich stehe vor allen den Verwandten da, als hätte ich schon die Altersschwäche. Mein gutes Kind, so weit sind wir noch nicht . . .«

»Aber Papa, wenn ihr zehnmal eine Aktiengesellschaft gründet, ich gehöre doch nicht dazu, ich kann doch deswegen nicht so hin- und hergeschoben werden, ich bin doch kein Teil deiner Zuckersiedereien . . .«

»Gewiß nicht!« Otto Burck lächelte, im Sessel sitzend, trübe vor sich hin. »Du lebst nur vergnügt und in Freuden von den Zuckersiedereien. Ihr alle, das ganze Haus . . . und ich alter Mann darf weiter in der Tretmühle stampfen und stampfen und stampfen, und hab's doch so satt und bin so müde! Mein ganzes Leben hab' ich gearbeitet wie ein Pferd, nicht für mich, ich brauche für mich wirklich außer einer guten Zigarre recht wenig – immer nur für andere! Nun hoffte ich auf einen frohen Lebensabend – jawohl – der wird einsam wie bei einem alten Junggesellen – nur daß mir deine Mutter noch das Leben schwer macht! Zwei von meinen Töchtern sind schon aus dem Hause. Wenn ich sie besuche, bin ich fremd unter ihnen . . . Die denken: setzt den Alten doch lieber daheim an den Kontortisch. Dann gibt er Geld! Weiter hat er doch keinen Zweck! Und nun willst auch du gegen mich sein und mich allein lassen . . .«

Er unterbrach sich. Der Diener war eingetreten, überreichte ihm eine Depesche und verschwand. Otto Burck las aufmerksam, mit gefurchter Stirn, ohne seine Miene zu verändern. Er sagte dann, das Blatt sinken lassend, erschöpft, aber ganz ruhig: »Nun also! . . . Ich danke dir, Barbara! Das hast du gut gemacht! . . . Weißt du, von wem das Telegramm ist . . .«

»Wahrscheinlich von Harry.«

»Und weißt du vielleicht auch schon, was darin steht?«

»Ich kann mir's ungefähr denken . . .«

»Nun, dann höre einmal seine Antwort.« Otto Burck entfaltete das zerknitterte Papier und las rasch und laut: ». . . Barbara schreibt mir soeben, daß sie sich über Nacht anders besonnen hat. Sie verzichtet endgültig auf mich. Sie will eine andere Wahl treffen. Ich bin nicht der Mann dazu, mich derart zum besten halten zu lassen und, als ersten Gruß auf der Reise, des Morgens diese Absage zu bekommen. Selbstverständlich füge ich mich. Ebenso selbstverständlich aber trete ich auch von eurem Unternehmen zurück, dessen stillschweigende Voraussetzung jene Verbindung war. Ich kehre heute nach Frankfurt zurück. Dein getreuer Neffe Harry.«

Der alte Herr glättete sorgfältig das Telegramm und barg es in seiner Brieftasche. »So, das ist dein Werk!« sagte er zu seiner Tochter.

»Nimm doch Robert an seiner Stelle! Der kennt Polen, der macht das viel besser . . .«

Der alte Herr sah sie an. »Ja, dir erscheint das alles einfach!« sagte er endlich. »Wenn man verliebt ist, erscheint alles einfach. Aber ich bin da anderer Meinung, mein Kind . . .«

Seine Stimme hatte gegen seinen Willen einen etwas unsicheren Klang. Er hatte sich zu sehr über Harry von Rhenus' Schroffheit empört. Er war gerade in seinem empfindlichsten Punkte, in seinem kaufmännischen Selbstbewußtsein, getroffen. Ihm, Otto Burck, warf man doch nicht ein solches Unternehmen kaltblütig vor die Füße.

»Genug jetzt, Barbara!« sagte er. »Wir wollen unsere Unterredung abbrechen. Ich habe dir meine Meinung gesagt. Und bei der bleibt es! Und jetzt habe ich anderes zu tun!« Damit nahm er den Hörer vom Apparat und ließ sich mit Wien verbinden. Die Börsenzeit hatte noch nicht begonnen. Die Drähte waren noch wenig besetzt. Aber trotzdem dauerte es ihm viel zu lange, bis er endlich aus dem Apparat Leopold von Hafners weiche, lässige Stimme vernahm: »Servus, Otto! Na, was gibt's denn? Wo brennt's denn bei euch?« und ihm zurief, jener und der Franzi möchten sich in den nächsten Münchener Schnellzug setzen und hierherkommen. Es sei von äußerster Wichtigkeit. Der schöne Poldi war, nachdem er das Unheil in großen Zügen vernommen, einverstanden, ohne seine heitere Gemächlichkeit zu verlieren. Heute nachmittag führen sie ab und seien morgen früh in Baden. Und eben habe er die ersten Kurse! Paris und London kämen flau auf gestriges Neuyork, und er werde daraufhin einmal Warschau-Wiener fixen! Und was Otto von Berlin dächte? Nichts? Er habe jetzt andere Sachen im Kopf? Na – alsdann . . . schön . . . Servus . . . Schluß! . . . Otto Burck legte, schon ganz erschöpft von der Aufregung, den Hörer auf die Gabel und ging nach unten. Dort erwartete ihn ein neuer Verdruß in Gestalt seines Neffen Augustus, der, seiner harrend, auf dem Sofa saß und ihm kurz und bündig in seinem britischen Phlegma mitteilte, daß er auf Grund einer Depesche, die er heute von seinem Bruder Harry bekommen, ebenso wie jener von dem Aktienunternehmen zurücktreten müsse. Derlei hätten sie, die Rhenus, doch nicht nötig! Sie seien Gentlemen. Und jemand, wie Robert, sei doch eigentlich keiner . . . Und es tue ihm leid, aber . . .

Damit erhob er sich. Otto Burck sagte nur trocken: »Macht, was ihr wollt! Ich hab' es nicht nötig, jemandem nachzulaufen.« Er geleitete ihn hinaus.

Die beiden Hafner von Hradeck, Onkel und Neffe, die verdrießlich und übernächtig von der langen Eisenbahnfahrt in der Villa Burck eintraten, erschienen mit leeren Händen. Wenn die Rhenus nicht mitmachten, taten sie's auch nicht! Dafür war ihnen das Risiko zu groß! Nun wurde auch Onkel Pauluscha plötzlich von Angst ergriffen. Er sei ja ein alter Esel, aber solch ein Esel, ohne die Rhenus und Hafners sich in dieses Abenteuer zu stürzen, sei er doch nicht! Er habe keine Lust, auf seine alten Tage im Hof den Leierkasten zu drehen, um der schönen Augen seines Schwagers willen, überhaupt . . . er lebe ja sowieso nicht mehr lange! Dabei schlug er sich verstohlen mit der Kante der flachen Hand an das Knie, ob das noch wippte. Er war seit ein paar Stunden von der jähen Befürchtung heimgesucht, von einem Rückenmarksleiden hingerafft zu werden, und hatte darüber alle seine anderen Krankheiten vergessen.

Nun blieb nur noch Maurice Bürk. Aber auch der alte Pariser hüstelte jetzt und zögerte, in seiner isolierten Stellung. Er wolle ja gerne mit, aber an ihm allein sei doch auch wenig gelegen, und ferner – das habe seine Frau schon gestern ihn mit vollem Recht gefragt, wie sich das denn Otto Burck eigentlich denke . . .?

Den einen Schwiegersohn wolle seine Tochter nicht, den anderen wolle er selber wieder nicht – ja – man sei doch nicht zum Spaß beisammen. Nun riß dem vielgeplagten, sonst so milden alten Herrn die Geduld. Er tat, was er noch nie getan hatte, er stieß einen Fluch aus – einen ganz richtigen, kräftigen Fluch, der sonderbar in seinem Munde klang. Er sprang auf und warf die sämtlichen Geschäftspapiere auf den Boden, daß sie wie ein Schneegestöber flatterten und den Teppich bedeckten. Dann erklärte er mit starker Stimme, den Fuß auf die nächsten Blätter setzend: »So, nun habe ich genug! . . . Mit den Fetzen mag man in der Küche Feuer anzünden! Und wenn jemand von mir noch einmal etwas von einer Aktiengesellschaft hört, dem zahle ich auf der Stelle tausend Mark! Versteht ihr? Ich behalte das Meine für mich! Ich hab' euch alle zusammen nicht nötig . . . Adieu!«

Daraufhin empfahlen sich die anderen stumm. Der alte Herr setzte sich zornig an den Tisch und begann von neuem zu rechnen. Er vertiefte sich ganz darin und kam auch nicht zum Mittagessen hinunter, das unter allseitigem Schweigen und Beklommenheit, von Frau Konstanze Burcks steinernen Blicken überschattet, wie eine Henkersmahlzeit verlief.

Und über sich, aus dem Arbeitszimmer Otto Burcks, hörten sie immerwährend seine Schritte. Das tat er immer, wenn ihn etwas lebhaft beschäftigte und er damit bei sich ins reine kommen wollte. Wie oft hatten sie namentlich früher, als die Firma Otto Burck noch nicht so fest dagestanden hatte wie jetzt, diesen Ton gehört. Da war er halbe Nächte lang so auf und ab gegangen, allein mit sich und seinen Sorgen. Des Morgens hatte er allen am Frühstückstisch sein gewohntes, gütiges Gesicht gezeigt und auf die Frage, wie er geschlafen, erwidert: »Vortrefflich, vortrefflich, wie immer . . .«

Er klingelte plötzlich und ließ Barbara durch den Diener zu sich rufen. Sie stieg mit klopfendem Herzen hinauf. Das Zimmer ihres Vaters war in dicke Havannawolken gehüllt, auch ein Zeichen seiner inneren Erregung, denn so stark rauchte er sonst nie. Sie mußte husten, während sie sich ihm gegenüber setzte. Er sagte: »Ich war vorhin unfreundlich gegen dich. Barbara, nimm es mir nicht übel, ich möchte so gerne meine Ruhe, und ihr habt euch alle verschworen, mir meine Ruhe zu rauben – du an der Spitze! Aber ich gebe ja zu . . . du hast schließlich ein Recht zu handeln, wie du willst. Du bist ein Mensch für dich und nicht ein Anhängsel meiner Zuckerfabriken . . .«

Da war seine alte Milde wieder. Ihr Gesicht belebte sich.

Otto Burck war aufgestanden und nahm den schönen Kopf seiner Tochter zwischen seine beiden Hände. So schaute er auf sie hinunter, ernst, prüfend – und sie hielt ruhig seinen Blick aus, und ihre Augen glänzten, während sie die seinen, die müden und alten, trafen.

»Und du hast ihn wirklich lieb, Barbara?« fragte er endlich gedämpft.

»Ja, wahrhaftig, Papa! Ich kann dir nicht mehr sagen. Mir scheint jedes Wort zuviel . . . beinahe wie ein Unrecht . . . bei so etwas!«

»Und du glaubst nicht, daß du dich darin täuschen kannst?«

»Da kann man sich nicht täuschen, Papa! Sonst wäre alles auf der Welt eine Täuschung, da brauchte man gar nicht erst anzufangen zu leben . . .«

Der alte Herr ließ ihr Haupt los und ging wieder im Zimmer auf und ab und seufzte und schwieg und holte sich eine neue Havanna aus dem Kistchen. Sie sah, daß seine Hand zitterte, als er ein Streichholz anbrannte.

Er rauchte. Eine Weile war es ganz still zwischen ihnen. Dann fragte er trocken und beiläufig: »Hör mal . . . wie ist denn das eigentlich mit Robert? Ist er nun abgereist? . . . Oder wo steckt er denn?«

Im selben Augenblick schnellte Barbara von ihrem Stuhl auf. »Soll ich ihn rufen lassen, Papa? Ja? Jetzt gleich?«

»So eilt das nun nicht!« sagte Otto Burck bedächtig. »Aber er mag bei Gelegenheit bei mir vorbeikommen . . .«

Barbara wollte ihren Vater stürmisch umarmen. Er wehrte ihr. Sie erschrak ein wenig vor seinem sorgenvollen Blick . . .

»Juble nicht zu früh, mein Kind!« sagte er langsam. »Noch ist nicht aller Tage Abend. Ich will ja in Gottes Name das Meine tun . . .«

»Aber dann ist alles gut . . .« Wieder wollte die Seligkeit über sie kommen und wieder stockte sie vor seinem leisen Kopfschütteln . . .

»Wir werden sehen, Barbara . . .«, sagte er. »Wir werden sehen! Erst muß ich ihn einmal sprechen! Das weitere steht dann bei ihm!«

»In einer Viertelstunde ist er bei dir!« sagte Barbara und verließ eilig das Zimmer.

Kurze Zeit darauf saß Robert Burck seinem Onkel in dem sonnenüberflimmerten, von Rauchwolken durchzogenen Zimmer gegenüber. Barbara hatte ihn unten an der Lichtentaler Allee getroffen, wo er sich in seiner Ungeduld schon vor der verabredeten Zeit eingestellt hatte. Sie hatte ihm, während sie atemlos die steile Straße hinaufstiegen, in fliegender Hast berichtet, daß nun die Entscheidung nahe . . . gottlob mit Riesenschritten nahe.

Aber Otto Burck fand das alles gar nicht so eilig. Als ergrauter Finanzmann hatte er zunächst von den geschäftlichen Dingen angefangen, vom Stand und Aussicht seiner Zuckerraffinerien und was dazu gehörte, und Robert ein umfassendes Bild der augenblicklichen Lage gegeben. Und Robert hörte aufmerksam und stumm zu, mit einem leisen Erstaunen: der Onkel war danach noch viel reicher als alle Welt dachte . . . Es waren gewaltige Unternehmungen, die es da von einer einzigen Faust aus zu zügeln, mit einem Kopfe zu lenken galt – die Fabriken mit ihren vielen Hunderten von Arbeitern, die weiten Rübenfelder, die zur Zeit der Ernte viele Männer, Frauen und Kinder bevölkerten – das große Hauptkontor und seine zahlreichen kaufmännischen Angestellten, von dem alles ausstrahlte, in dem alles zusammenlief. Wer da an der Spitze stand, der hatte eine Stellung wie ein weithin angesehener Großgrundbesitzer in Deutschland, er mußte viele verschiedene Fähigkeiten in seiner Person vereinen, er hatte Chemiker und Gutsverwalter, Kaufleute und Arbeiterscharen unter sich. Er mußte allen gerecht werden, allen befehlen, mit Banken und Behörden verkehren und jede Sprache sprechen können – es war eine Aufgabe, eines Mannes und eines Menschenlebens wert – die Brust weitete sich ihm bei dem Gedanken, daß er dazu berufen sein könne, an diesen Platz zu treten, zu befehlen, wo er bisher gehorcht, aus dem vollen zu schaffen, wo sonst die kleine Not und Sorge jedes Tages seine Gefährtin gewesen war . . . und doch konnte er sich, bei den langatmigen Ausführungen des alten Herrn vor Ungeduld kaum fassen. Das war schön. Aber das war gut für später. Jetzt stand für ihn anderes und besseres auf dem Spiel. Er wollte sein inneres, nicht sein äußeres Schicksal hören – und beide hingen doch so untrennbar zusammen.

Otto Burck ließ sich nicht stören. Er ging seinen Weg. wie er ihn sich ausgedacht hatte. Erst das Geschäftliche! Aber endlich sagte er: »So, Robert . . . nun weißt du Bescheid. Du siehst, es ist viel zu tun. Ich bin kaputt. Ich mag nicht mehr und kann nicht mehr. Ich möchte noch ein bißchen leben – hier in Baden-Baden. Du lieber Gott, was hab' ich denn vom Leben gehabt? Meine Verwandten, die da in die Bresche treten könnten und sollten, lassen mich sämtlich im Stich – so einmütig, wie unsere Familie wohl noch nie gewesen ist – so bleibt die Last vorläufig auf mir und ich muß sie doch auf jüngere Schultern laden – auf solche, die sie tragen können. Sage, Robert, oder vielmehr, lasse dir Zeit, überlege es dir genau und so lange du willst, denn die Sache ist zu wichtig, um sie übers Knie zu brechen, du übernimmst damit eine große Verantwortung. Würdest du dich für fähig halten, den Posten auszufüllen?«

»Ja, Onkel!«

Das klang laut und bestimmt, ohne jedes Zögern. Der alte Herr sagte trocken: »Das geht ja wie der Wind! Du hast viel Selbstbewußtsein, Robert . . .«

»Ich würde mich länger besinnen, Onkel – ich würde vielleicht sogar überhaupt unsicher sein, wenn ich nicht die ganzen letzten Jahre in Polen gearbeitet hätte und leidlich Polnisch spräche und die Leute und Verhältnisse dort kennte. Das ist doch sehr wesentlich! Du weißt, wie selten das bei uns in Westeuropa ist. Das hilft über manches andere hinweg, in das man sich erst einarbeiten muß . . .«

»Das ist richtig!« sagte Otto Burck.

»Und außerdem bin ich doch nur dein Vertreter!« fuhr Robert fort. »Ich würde doch nur nach deinen allgemeinen Anweisungen verfahren. Da müssen doch die ärgsten Dummheiten schon von Anfang an vermieden werden können, wenn einer nicht gerade ein Esel ist! Na – und das bin ich doch nicht . . .«

Ein Lachen lief bei diesen Worten über sein offenes, heiteres Gesicht. Aber der Alte ihm gegenüber blieb immer noch ernst, und wieder zuckte es in dem anderen, so betäubend und berauschend auch dieser plötzliche Glücksumschwung war, daß er nur mit Mühe die geschäftsmäßige, jetzt doppelt wichtige Ruhe und Kühle bewahren konnte, von ungestümem Verlangen. Otto Burck möge endlich einmal zur Sache, zur wirklichen Sache kommen. Aber der fuhr eintönig fort:

»Gut. Ich habe auch eine leidliche Meinung von deinen Fähigkeiten. Ich würde mich unter Umständen dazu entschließen, dir probeweise meine Vertretung zu übertragen. Du würdest natürlich materiell so gestellt sein, wie es nicht nur dem Direktor, sondern auch einem Träger meines Namens zukommt – nein – bitte – zucke da nicht ungeduldig die Achseln, Robert – das ist auch keine Kleinigkeit, wie du jetzt denkst – das gehört auch dazu – alles schön nach der Reihe. Und wenn du dich dann bewährt hast, so daß wir die Sache zu einer endgültigen machen können – wir wollen da ein Jahr vergehen lassen – anderthalb – vielleicht zwei – wie es sich macht . . . so bleibe doch sitzen . . .«

»Nein, nein, Onkel, verzeih, ich bin zu erregt. Ich muß im Zimmer auf und ab gehen . . .«

»Dann geh im Zimmer auf und ab! . . . Also, nach dieser Zeit sage ich, und wenn inzwischen keine Änderung in euren Empfindungen eingetreten ist, dann wäre ich, unter einer ganz bestimmten Voraussetzung . . .«

Otto Burck betonte das fest:». . . unter dieser Voraussetzung bereit, zu gestatten, daß du Barbara heiratest!«

Bei diesen Worten zog sich Otto Burck hinter seinen hochlehnigen Sessel zurück. Den betrachtete er wie ein Bollwerk gegen den anderen, der im Übermaß der Freude, noch halb ungläubig und doch schon glückstrahlend, auf ihn zu wollte. Er streckte ihm abwehrend beide Hände über die Eichenschnitzerei, hinter der er stand, entgegen: »Nein . . . laß . . . Robert . . . Noch nicht . . . und keine Szene. Jetzt sind wir noch nicht beim Gefühl, sondern beim Geschäft . . .«

Und wirklich fing er zur Verzweiflung seines vor Erregung und innerlichem Jubel zitternden Neffen wieder vom Geschäft zu reden an. Er sah als alter Kaufmann die Welt nun einmal aus diesem Gesichtswinkel. Da war nichts gegen zu machen. »Meine Firma«, begann er ernst und bedächtig, ». . . meine Firma hat einen guten Klang. Und wenn du in der ganzen Konkurrenz herumfragst, es wird niemand etwas gegen Otto Burck sagen können. Höchstens werden manche junge Leute von heute meinen, daß die Firma allzu vorsichtig, zu peinlich genau geführt worden ist – daß ich mehr als einmal in den vier Jahrzehnten mir die Gelegenheit zu Geschäften habe entgehen lassen, die die meisten anderen in Polen – und vielleicht auch sonst – für ganz fair und erlaubt gehalten hätten. Das habe ich mit voller Absicht getan und bin auch auf meine Methode zu etwas gekommen, wie du vorhin gesehen hast. Daß dabei niemals auch nur ein Fleckchen auf meine weiße Weste getropft ist, das war mein Ehrgeiz, Robert, und ist heute noch, wo ich ein alter Mann bin und auf das Errungene zurückschau', mein Stolz. Jeder Stand hat seine Ehre. Und für uns Kaufleute heißt Ehre, daß wir nie das Vertrauen und den Kredit, den man uns geschenkt hat, mißbrauchen . . .«

»Aber das weiß ich doch alles, Onkel«, hätte Robert beinahe in seiner Ungeduld gerufen. »Jeder weiß, daß die Firma Burck korrekt ist . . . also wozu die Umschweife . . .?« Aber er hielt an sich und schwieg beklommen. Der alte Herr sah ihn ernst an, während er sprach. Er mußte doch seine Gründe haben, das alles noch einmal so eindringlich zu erörtern. Ein unbestimmtes Bangen schlich plötzlich durch die Brust des anderen.

»Das bin ich!« sagte Otto Burck und legte nun sogar seine Zigarre weg, weil ihm die zur Schwere des nun kommenden Augenblicks nicht zu passen schien. »Und mein Vertreter und einstiger Nachfolger muß ebenso sein! Sonst gebe ich ihm noch nicht einmal Prokura, geschweige denn, daß ich ihn an die Stelle lasse, wo ich ein langes Leben hindurch gestanden habe. Der Platz muß rein bleiben, ganz rein, auch nicht ein Stäubchen darauf . . . da muß, wenn ich einmal nicht mehr bin, noch . . . ich möchte sagen, noch etwas von mir übrig sein und fortwirken, daß alles anständig und in Ehren zugeht. Das bin ich nicht mir schuldig, sondern meiner Familie, deren guter Namen ist an diesen Platz gebannt . . . Wenn auf den ein Schatten fällt, so leiden sie alle unverdientermaßen darunter . . .«

»Und du fürchtest, ich würde dort nicht in deinem Geiste wirken können, Onkel?«

»Du gewiß! Zu dir habe ich volles Vertrauen. Ich will dir gestehen, daß ich mich in diesen Tagen unter der Hand telegraphisch durch Vermittlung meiner englischen Geschäftsfreunde bei deiner Firma in Liverpool erkundigt habe! Die Auskunft ist glänzend – einfach glänzend . . . Ich habe selten in meiner langen Laufbahn etwas Ähnliches an Lob über einen jungen Mann gehört . . . Nein, Robert – das ist es nicht, sondern, wie ich schon sagte: Es darf von nirgendwoher, auch von außen nicht, eine Verdunklung an der Persönlichkeit sein, die an der Spitze meiner Unternehmungen stehen soll, um die herum muß alles durchsichtig sein. Jeder muß jeden Augenblick herantreten und sich überzeugen können. Nur so bleibt der alte Ruf gewahrt. Und von dieser Forderung kann und werde ich unter keinen Umständen abgehen . . .«

Robert schwieg und sah zu Boden. Jetzt wußte er, was kam.

Es war eine lange Pause.

Dann sagte Otto Burck: »Du bist ein guter Sohn, Robert – nicht wahr?«

Der hob den Kopf. »Ja.«

»Du trägst deinem Vater nicht nach, was gewesen ist?«

»Das ist nicht mein Amt!«

»Nein. Du wohntest auch früher mit ihm zusammen?«

»Augenblicklich nicht mehr, weil ich in Liverpool bin und er in London. Aber ich hoffe, daß er, wenn er einmal endgültig sich beruhigt und auf seine Projekte verzichtet hat, wenigstens wieder in meine Nähe ziehen und da friedlich leben kann . . .«

»Auch falls du einmal verheiratet sein solltest?«

»Ich kann ihn doch nicht mutterseelenallein irgendwo da draußen in der Welt lassen, auf seine alten Tage . . . Ich darf es schon nicht, weil man ihn unter Aufsicht haben muß, sonst gerät er doch wieder in seine alten Pläne und in seine alte Gesellschaft.«

»Hm . . . und wie denkst du dir da den Verkehr mit ihm . . .? Ihr besucht euch öfters, um euch zu sehen . . .?«

»Ich fahre schon jetzt, wenn ich kann, jeden Sonntag von Liverpool nach London zu ihm hinüber.«

»Und da zeigt ihr euch zusammen auf der Straße, nicht wahr?«

»Wer sollte denn sonst mit dem alten Mann gehen? Er hat ja niemanden mehr auf der Welt als mich . . .«

»Nehmen wir nun an, Robert, es trete der eben besprochene Umschwung in deinem Leben ein – in jeder Hinsicht – da würdest du also, wenn ich dich recht verstanden habe, in ständiger Verbindung mit deinem Vater bleiben wollen, genau wie jetzt?«

»Ich will doch gar nicht, Onkel – ich muß doch! Es ist doch mein Vater!«

»Er würde dir in deinen neuen Wirkungskreis folgen?«

»Wenn er kommt, kann ich es nicht ändern . . .«

». . . sondern du würdest in einem solchen Fall allen, die dich fragen, erwidern: ›Ja, das ist mein Vater!‹?«

»Was unnütz auffallen könnte, werde ich nach Kräften vermeiden! Aber verleugnen werde ich ihn nicht!«

Sie waren einen Augenblick still.

»Verleugnen! . . .« sagte der alte Burck endlich bedächtig. »Das ist ja nun ein hartes Wort, Robert . . .«

»Du legst es mir doch selbst auf die Zunge . . .«

»Ich spreche eben von meinem Standpunkt. Denke dir das: du an meiner Stelle . . . und nun neben dir, in deiner Gesellschaft, zuweilen sogar in deinem Hause, ein Mann, der das Schlimmste getan hat, was ein Kaufmann tun kann – er hat durch gefälschte Bilanzen das Vertrauen der Leute betrogen, die ihm ihr Geld übergeben haben . . . er hat . . . nun, wozu auch noch davon reden . . .?«

»Er hat im Gefängnis gesessen!« ergänzte Robert. »Wir beide wissen es ja . . .«

»Und war sein späteres Leben eine Sühne?« fuhr Otto Burck fort. »Nein, er ist geblieben, wie er war, nur daß ihn sein altes Glück für immer im Stich gelassen hat. Er ist ein Abenteurer und – nimm es mir nicht übel, es ist die Wahrheit: ein skrupelloser dazu! Wenn er zu dir kommt, bringt er einen Dunstkreis von ähnlichen Menschen mit sich, mit denen er sich in London umgibt und die sein Verkehr im Leben sind – einen Dunstkreis, wie er in kein Kontor eines ehrbaren Kaufmanns gehört und in meines am allerwenigsten! Das wirst du vielleicht jetzt schon in deinen kleinen Verhältnissen empfunden haben – und nun denke erst dort, in Polen, wo du weit sichtbar, an exponierter Stelle stehst und den anderen ein Vorbild sein sollst, in jeder Hinsicht . . . Wie können sie das, wenn sie dich in der Gesellschaft deines Vaters sehen? Wo bleibt da das Vertrauen? Man beurteilt einen Menschen nach seinem Umgang . . .«

Robert schwieg.

»Es tut mir leid«, fuhr Otto Burck fort. »Aber aus diesen Gründen und nach reiflicher Überlegung muß ich unbedingt fordern, daß du dich von deinem Vater lossagst! . . . Bitte, fahre nicht auf, als ob du mich umbringen wolltest, es ist gar kein Grund dazu. Wir verhandeln hier ruhig und nüchtern als Geschäftsleute, und was auf dem Spiel steht, ist der Ruf meiner Firma, und der ist mir das Wichtigste auf der Welt!«

»Mir nicht!« sagte Robert rauh.

»Das glaube ich und mute dir auch keine Theaterszenen zu, daß du deinen Vater, der ja wirklich ein unglücklicher alter Mann ist, verstoßen sollst . . . oder verfluchen . . . oder was weiß ich . . . Er soll bloß nicht in deiner Nähe gesehen werden . . . Du sollst nicht von ihm sprechen, oder, wenn es sein muß, höchstens sagen: ›Er lebt fern von hier, irgendwo in England.‹ Da kannst du ihn ja auch einmal im Jahr auf acht Tage besuchen, meinetwegen sogar zweimal . . . ohne daß weiter etwas an die große Glocke kommt – du schützest eben eine Geschäftsreise vor – ihr trefft euch an einem entlegenen Ort . . .«

»Aber verleugnen soll ich ihn doch?« sagte Robert.

Sein Onkel zuckte die Achseln. »Ich will, daß du ihm dein Haus verschließt, weil es gleichzeitig das meiner Tochter und der Sitz meiner Firma sein wird! Im übrigen schreib ihm, wenn du magst, schick ihm Geld, soviel du willst, da hab' ich gar nichts dagegen, solange es unauffällig geschieht . . .«

»Und das siehst du nicht ein«. Robert lachte auf, »daß das einfach hieße, meinem Vater das Herz brechen? Ja, das ist keine Phrase. Onkel. Ich bin gar kein Mensch von Phrasen. Die Enttäuschung und Demütigung, daß ihm sein Sohn – sein einziger Sohn sozusagen, im Augenblick, wo das volle Glück über ihn kommt, die Tür weist, diese Enttäuschung verwindet er nie. Daran geht er zugrunde!«

»Aber er hat dich doch lieb?«

»Ja – gewiß.«

»Dann müßte er sich doch selbst sagen, daß er dir im Weg steht – und dir von selbst das Opfer bringen . . .«

»Ein anderer vielleicht . . . Aber er mit seinem Selbstbewußtsein? Er hält uns alle doch für so hoffnungslos dumm! Er ist doch überzeugt, ich brauche ihn! Und vor allem: er braucht mich! Er hat mich viel zu lieb, um sich aus eigenem Entschluß von mir trennen zu können. Er ist doch auf mich angewiesen, und je älter und trostloser er wird, desto mehr. Er hat mir jetzt schon manchmal gesagt: ›Es ist komisch, ohne dich frier' ich, wo ich bin, und dann schau' ich mich immer nach dir um!‹ Und wenn er auch dabei gelacht hat, so war es ihm doch Ernst damit.«

Wieder verstummten die beiden und gingen langsam im Zimmer auf und ab, jeder für sich und an dem anderen vorbei, die Blicke hartnäckig am Boden.

Endlich, nach langer, schweigsamer Wanderung, machte der Hausherr halt und sagte: »Ich hab' es gefürchtet. Da stehen sich nun zwei Weltanschauungen gegenüber. Ich kann mich schwer in die deine hineinversetzen. Ich würde mein Leben lang ein Grauen nicht verwinden können vor jemandem, der das getan hat, was dein Vater tat. Aber darüber zu urteilen, steht mir nicht zu! Das mußt du selber besser wissen. Ich sage nur: Wenn wir zu einer Einigung kommen sollen, muß einer von uns nachgeben. Entweder hier der Kaufmann: ich – oder dort der Sohn – du! Es ist grausam . . . ich fühle es . . . es fällt mir nicht leicht, dich vor die Wahl zu stellen. Ich habe dich die ganzen Tage, solange es ging, zu schonen gesucht und mit anderem hingehalten . . . mit Harry von Rhenus und . . . aber, nun mußte es einmal heraus. Die Sache steht jetzt auf ›Ja‹ und ›Nein‹ – das siehst du ein?«

Robert nickte.

»Und ich . . . das erkläre ich dir nun noch einmal mit Bestimmtheit, und wenn ich auch sonst schon manches gehen lasse und lieber die Augen zumach', als mich auf meine alten Tage noch ewig unnütz aufzuregen – in dem Punkt, in meiner Firma, bleib' ich fest und bleib' bei dem, was ich gesagt habe! Nun mußt du dich entscheiden . . .«

Robert ging zur Tür.

Der alte Herr sah ihm befremdet nach. »Was? Willst du weg? . . . Ohne ein Wort . . .?«

Aber Robert sagte, jetzt ganz ruhig geworden, auf der Schwelle: »Ich möchte nur Barbara rufen . . .«

»Jetzt?«

»Ja. Sie muß dabeisein, wenn ich dir antworte. Da hat sie doch ein Recht darauf . . .«

Und da Otto Burck nichts erwiderte, sondern nur bekümmert die Achseln zuckte und sich in seinen Sessel setzte, ging Robert die Treppe hinunter in den kleinen Empfangssalon. Dort traf er Barbara. Sie kam ihm blaß und besorgt entgegen. Sie hatte undeutlich von oben die ganze Zeit den langen und lebhaften Wortwechsel vernommen. Beide gaben sich die Hand. So stiegen sie zusammen die Stufen wieder hinauf. Unterwegs berichtete er ihr in hastigen Worten, was geschehen war. Sie hatte keine Zeit mehr, etwas zu entgegnen. Er wollte auch gar nichts hören. Er fühlte nur, wie sie ihm stumm die Hand preßte. Dann traten sie in das Zimmer und vor den Stuhl des alten Herrn.

Und so sagte Robert entschlossen: »Nun ist Barbara da, und vor ihr erkläre ich dir, Onkel: Ich kann das nicht tun, was du verlangst! Nie und nimmer! Ich lasse meinen Vater nicht im Stich! Mögen andere von ihm halten, was sie wollen. Um mich hat er das nicht verdient . . .«

Der alte Herr sah erst ihn an, dann seine Tochter. »Nun, da hast du es ja, Barbara . . .«, sagte er endlich. Es klang nicht wie ein Vorwurf, sondern eher so, als sei er jetzt völlig mit seinen Warnungen und Befürchtungen gerechtfertigt.

Und sie antwortete, ihm fest ins Auge schauend: »Er hat ganz recht, Papa! Ich würde mich schämen, wenn er etwas anderes täte . . .«

»So . . . so . . .« Otto Burck begriff die beiden nicht. Er nickte müde vor sich hin. »So . . . so faßt ihr das auf . . . nun, schön, wenn ihr wollt . . . aber mache dir noch einmal klar, Robert, daß du damit auf alles verzichtest . . .«

»Auf die Stellung in Polen . . . gewiß . . .«

»Nein. Auf alles!«

»Ich will ja gar keine Mitgift von dir, Onkel . . .«

»Aber ich will nicht, daß meine Tochter als die Frau irgendeines beliebigen Clerks in England lebt und aus ihren Kreisen und ihren Verhältnissen herauskommt. Das dulde ich nicht, das ist in meinem Hause nicht Brauch.«

Otto Burck war heftig, mit vor Unmut gerötetem Gesicht aus dem Sessel aufgesprungen und hatte seine Stimme verstärkt. Aber er mäßigte sich sofort wieder und fuhr gedämpft, schon wieder milder werdend, fort: »Da steht mir doch Gott sei Dank noch die väterliche Gewalt zur Seite, um solche Ungehörigkeiten zu verhindern! Das beste ist, Robert . . . du fährst jetzt bald ab . . . vielleicht heute noch . . . hier wenigstens im Hause möchte ich dich vorerst nicht mehr sehen und ebensowenig, daß du mit Barbara außerhalb des Hauses noch zusammenkommst . . . Ich weiß ja ganz genau, daß du in einem Vierteljahr über die Sache schon ganz anders denken wirst. So ein ›Nein‹ ist rasch gesagt, aber die Reue kommt hinterher. Wenn du dich dann meldest und deine Torheit einsiehst, in Gottes Namen, ich will geduldig sein und bis dahin warten . . .«

»Das wirst du nie von mir hören, Onkel! Darum reise ich auch nicht erst, sondern bleibe hier . . .«

»Und wir sehen uns jeden Tag!« sagte Barbara. Nun riß Otto Burck die Geduld. Er sagte mit halberstickter Stimme, während er sich, wie um sich Luft zu machen, mit der Hand in den Kragen griff: »Jetzt hab' ich's satt . . . Geh . . . geh . . . bitte, sei so gut und geh! . . . So . . . Und mit dir, Barbara, hab' ich jetzt noch ein Wort zu reden . . .«

»Gleich, Papa! Ich will mich nur erst von meinem Bräutigam verabschieden!« Sie begleitete Robert bis zur Tür. Dort drückten sie sich die Hände, und er ging. Dann kehrte sie zu ihrem Vater zurück.

Der hatte die Hände im Schoß gefaltet und sah jetzt, da Robert fort war, weniger zornig als verdutzt vor sich hin. Er begriff das nachträglich gar nicht, daß man freiwillig auf seine schönen, blühenden Unternehmungen verzichten könne. Das stimmte ihn einen Augenblick förmlich kleinlaut.

Er sah seine Tochter an und sagte langsam: »Das ist nun schon der zweite! Erst wirft Harry mir meine Firma wie einen Bettel vor die Füße – jetzt biete ich sie Robert auf dem Präsentierbrett an, und er dankt ebenfalls. Ja – ich hab' es doch nicht nötig, mit meinem guten Geld zu hausieren, ob es mir jemand abnehmen soll! Ich weiß schon wirklich nicht mehr: Bin ich verrückt oder sind es diese jungen Leute?«

Nun kam allmählich in dem stillen, alten Herrn, der nie im Leben von sich selber viel Wesens gemacht hatte, immer mehr die Gekränktheit zum Durchbruch, daß man seiner Firma einen Schimpf zugefügt und in ihr ihn selber beleidigt hatte – seine schöne Firma – und die schöne Tochter, an die er nun erst wieder dachte, noch als Zugabe, samt dem väterlichen Segen! Otto Burck schüttelte seinen müden, grauen Kopf. Er verstand die Welt nicht mehr. Das hätte einmal ihm in seinen jungen Jahren passieren sollen . . .

Barbara, die mit fliegendem Atem, an allen Gliedern zitternd, vor ihm stand, sagte: »Es ist schrecklich. Papa, du siehst immer und immer nur das Geschäft. Davon kommst du nicht los! Statt daß du auch ein bißchen an mich denkst . . .«

»Das tue ich doch die ganze Zeit und suche deine Zukunft sicherzustellen! . . . Wenn er das nicht will, gut! Ins Blaue hinein gebe ich meine Tochter nicht! . . . Schlage dir das jetzt nur aus dem Sinn . . .«

»Niemals, Papa.«

»Ach, liebes Kind!« Otto Burck stand auf und legte ihr die Hand auf die Schulter. Er wollte es noch einmal in Güte versuchen. »Das sagst du jetzt so! . . . Wie bald würdest du als seine Frau da draußen im Kampf ums Dasein müde werden! Was weißt denn du verwöhntes Ding von der Armut?«

»Er hat zwanzigtausend Mark jährlich, Papa!«

»Zwanzigtausend Mark jährlich ist nicht genug!« sagte der alte Herr trocken. »Zumal in England . . . und wo der noch diesen . . . diesen Vater zu unterhalten hat . . .«

»Nun, dann leben wir eben so! Das ist mir ganz egal . . .«

»So . . .?« Ihr Vater machte eine trostlose Handbewegung. Er wurde immer trauriger und gedrückter, je mehr ihm, der es doch so gut mit allen meinte, alles gegen seinen Willen ging. »Du kennst doch Liverpool! Du warst doch schon einmal dort, wie du bei Jane Rhenus zu Besuch warst? Nun, denke dir solch ein schmales Miethaus – nicht etwa in Dale Street, Barbara, sondern irgendwo draußen, ganz in Rauch und Nebel, und dünn gebaut und zugig . . . Ist denn das ein Leben für dich? . . . Und nun laß nur noch irgendeine Krise kommen in der Nähgarnbranche, dann verliert er seine Stellung – dann liegt ihr auf dem Pflaster . . . Alle Augenblicke liegen Hunderte von Clerks auf dem Pflaster – o weh, mein Kind . . . o weh . . .«

Seine Augen waren feucht geworden beim Gedanken an all diese Schrecknisse. Es war eine übertriebene Angst – das fühlte er ja selber, wie er da den Teufel recht schwarz malte, eine beinahe kindische. Es war in diesem Augenblick etwas Greisenhaftes an Otto Burck. Und zugleich ein Zug stillen, immer unerschütterlicher werdenden Eigensinns um die festgeschlossenen Lippen. Der war bei ihm in seinem Privatleben, im Kreise seiner Familie, durch seine natürliche Güte immer wieder ausgeglichen worden – im Geschäft aber hatte er, der gewagten und abenteuerlichen Unternehmungen stets vorsichtig aus dem Wege gegangen, alle seine Erfolge nur dieser geräuschlosen, sich unerbittlich an die Dinge heftenden Zähigkeit zu danken. Und nun war er beim Geschäft. Für ihn war das Geschäft, daß die Schwiegersöhne durch Reichtum oder Adel oder äußere Stellung dem Glanz der Firma entsprachen, und so wiederholte er leise und beharrlich: »Er hat sich seine Position verscherzt! Du wirst ihn nicht heiraten! Da finde dich nun darin!«

»Doch, Papa, ich werde ihn heiraten!«

Ihre Stimme zitterte. Aber sie sah ihren Vater entschlossen an. Der hatte sich wieder gesetzt und die Finger ineinander verschlungen und schaute vor sich hin und murmelte nur zwischen den Zähnen: »Ich gebe meine Tochter keinem Clerk!«

»Aber Papa, um Gottes willen, darauf kommt es doch nicht an!«

Er schüttelte den Kopf. Er hatte jetzt nur das eine auf den Lippen: »Ich gebe meine Tochter keinem Clerk! . . . Nein . . . Nein . . .«

Nun schoß auch ihr das helle Wasser in die Augen. Sie schluchzte plötzlich verzweifelt auf und fiel vor dem Stuhl ihres Vaters nieder, legte ihre Hände auf seine Knie und starrte ihm angstvoll und immer noch hoffnungslos ins Gesicht und bat, immer leidenschaftlicher werdend, sich immer mehr in Ungestüm hineinredend: »Papa . . . sei doch gut! . . . sei doch lieb . . . du bist's doch sonst . . . du warst's doch immer . . . Laß mich doch meinen Weg gehen . . . 's ist ja meine Sache, wie mir's da geht . . . Du kennst mich doch gar nicht . . . Ihr kennt mich ja alle nicht . . . Ihr habt mich ja nie kennen wollen . . . ich bin immer für mich gewesen . . . ich bin ganz anders als du glaubst – ich fürchte mich gar nicht vor der Armut . . . ich gehe mit Robert durch dick und dünn . . . Hier, wo wir reich sind, hab' ich mich nie glücklich gefühlt . . . das meint ihr nur immer alle, das Geld macht's! . . . und redet ewig von eurem Geld . . . mir ist das schon zuwider . . . ich bin ganz froh, wenn man einmal ein wenig Sorgen hat und tüchtig schaffen muß – statt ewig hier in Baden zu sitzen und zu gähnen . . . ich werde ganz, ganz glücklich sein . . . und daran darfst du mich nicht hindern, Papa . . . das darfst du nicht . . .«

Aber auf den alten Herrn machte das keinen Eindruck. Und so sagte er halblaut und hartnäckig: »Robert ist ein Clerk. Ein Clerk soll in seinen Kreisen heiraten! Meinetwegen sogar die Tochter eines Prokuristen! Aber meine Tochter nicht!«

»Und das ist dein letztes Wort, Papa?«

»Barbara, so können wir noch lange reden! Du sagst dasselbe, ich antworte dasselbe – so dreht sich das im Kreise herum. Aber ich bleibe dabei fest! Da verlasse dich darauf!«

»Gut!«

Barbara stand auf, strich die Falten ihres weißen Kleides zurecht, trocknete sich die Tränen, steckte das Tuch wieder ein und fuhr sich, vor den Spiegel tretend, mit der Hand ordnend über die Haare. Sie war ganz ruhig geworden, und so sagte sie, sich wieder zu ihrem Vater zurückwendend: »Dann bleibt mir eben keine andere Wahl! Dann muß ich eben gegen deinen Willen heiraten!«

»Barbara!« Er erhob sich und legte die Hand an das Ohr, als hätte er nicht recht gehört.

Sie war ganz erstaunt. »Ja, was soll ich denn sonst machen? Heiraten muß ich ihn doch . . . Also wenn du nicht willst . . .«

»Mir gehorchen sollst du . . .«

»Bei so etwas? Nein, weiß Gott nicht!«

»Dann wird man dich zwingen!«

»Ich bin doch mündig, Papa!«

Otto Burck erwiderte nichts. Er sah seine Tochter ratlos und entsetzt an, als wäre sie ein ihm ganz fremdes, eben aus dem Boden gestiegenes Wesen. Das war ihm in seinem Hause, wo Ordnung und Zucht herrschten und immer geherrscht hatten, noch nicht vorgekommen. Das hätte er nicht für möglich gehalten.

Und zugleich rauschte es hinter ihm. Seine Frau war hereingetreten. Sie hatte Barbaras letzte Worte schon im Zimmer und manches frühere schon draußen, wo sie lauschend auf dem Flur gestanden hatte, gehört. Sie sagte jetzt mit einer Stimme, deren Härte ihrer Tochter geradezu weh tat, nicht zu ihr, sondern zu Otto Burck: »Siehst du – das hat man davon, wenn man zu gut gegen seine Kinder ist . . .«

Es war, als erteilte sie ihm einen Verweis. Er zuckte nur die Achseln und schwieg. Barbara auch, mit einem spöttischen und herausfordernden Lächeln auf dem blassen Gesicht. Und jene fuhr geräuschvoll fort: »Ich will lieber gar nichts reden . . .«

»Ja, das wäre auch am besten, Mama!«

»Sei still! . . . Ich werde ja hier um nichts gefragt. Ich habe mir längst das Schweigen angewöhnt und werde auch diesmal schweigen . . .«

Barbara seufzte. Sie wußte: Jetzt kam niemand mehr zu Wort! Sie ging leise durch das Zimmer und drückte die Tür ins Schloß, die ihre Mutter offen gelassen hatte. Inzwischen fuhr jene fort: »Wenn man bedenkt . . . diese angesehenen Familien . . .« – sie betonte stark das Wort »angesehenen« –, »die Burcks . . . die Bauknechts . . . die Rhenus . . . diese anständigen, netten Schwiegersöhne . . .«

»Ja, das dritte ›von‹ bleibt nun aus!« sagte Barbara. »Da kann ich dir nicht helfen, Mama!«

»Und da mitten hinein ein Angestellter . . . Otto . . . ich versteh' dich nicht . . .«

»Ach, laß schon«, sagte ihr Mann müde.

»Ich habe dich von Anfang an nicht verstanden! . . . Ein Angestellter . . . Otto, nun hast du deinen Lohn! Die Strafe ist hart, aber gerecht! . . . Wo man doch die Auswahl unter den anständigen jungen Leuten hat . . . eine wahre fin fleur . . .«

»Fine fleur, Mama!«

»Sei still! . . . Sich da mit einem Angestellten zu befassen, der hinter dem Ladentisch steht . . .«

Otto Burck seufzte, und seine Tochter sagte: »Nicht einmal das, Mama! Er fegt nur aus im Kontor und schleppt die Kohlen zum Kamin!«

Frau Konstanze Burck warf ihr einen kalten Blick zu. Barbara lachte bloß. Und nun sagte jene: »So? Du willst noch Späße machen, Barbara! . . . Aber dir wird die Heiterkeit vergehen! Es hat ein Ende mit dieser Nähgarnepi . . .« Sie war sich nicht ganz klar, ob es wirklich Episode hieß, und schloß lieber: »Mit dieser Nähgarngeschichte! Es muß etwas geschehen, Otto! Sitze nicht so da und drehe die Daumen umeinander. Das hilft ja nichts . . . Es ist schrecklich, wenn man dazu einen Mann hat, daß er im entscheidenden Augenblick . . .«

Aber da stand Otto Burck auf und schnitt ihr mit einer Handbewegung das Wort ab. Sie verstummte augenblicklich. Sie hatte wieder Angst vor ihm. Und nun versetzte er leise und nachdrücklich: »Barbara, dein Vetter Robert hat erklärt, daß er, entgegen meinem ausdrücklichen Wunsch, hierbleibt . . .«

»Ja, natürlich bleibt mein Bräutigam hier, Papa . . .«

Frau Konstanze wollte bei dem Wort »Bräutigam« wieder gereizt auffahren. Aber ihr Mann setzte schon seine Rede fort: »Infolgedessen, Barbara, wirst du das Haus verlassen. Du gehst schon in den nächsten Tagen von hier fort!«

»Wirklich, Papa? Wohin denn?«

Otto Burck achtete nicht auf den herausfordernden Klang ihrer Antwort. Er klingelte nach dem Diener: »Ich lasse meine Töchter bitten!« Bald darauf traten Frau von Heinreich und Frau von Hafner ein. Sie hatten unten im Salon gesessen und sich, als sie Robert weggehen sahen, schon ungefähr zurechtgelegt, daß der Bruch da sei. Sie machten beide besorgte und erregte Gesichter.

Der alte Herr wiederholte: »Barbara muß auf der Stelle von hier weg, damit sie sich ihre Dummheiten – ihr wißt schon, was ich meine – aus dem Kopf schlägt! Willst du sie für einige Zeit zu dir nehmen, Anna?«

Frau von Heinreich, die Älteste, machte ein unglückliches Gesicht. Sie, die magere, kleine Offiziersdame, fürchtete wenig auf der Welt so sehr als eine Erschütterung ihrer Stellung in der Garnison. Bisher ging dort alles so nett. Wenn sie auch bürgerlich war – der Vater reicher Rentner in einer schönen Villa in Baden-Baden – damit gab sich jedermann zufrieden und Polen war weit und unbestimmte Andeutungen von großen Ländereien, die man dort besaß, genügten als Antwort auf neugierige Fragen und waren noch dazu wahr. Aber nun dieser Vetter! Natürlich fuhr der Unglücksmensch doch hinter Barbara her. Und dann Szenen in diesem Krähwinkel, wo nichts verborgen blieb . . . Eine Wolke von Nähgarn und Sandzucker verdunkelte schon vor ihrem geistigen Auge die Garnison, in der sie gerade übernächste Woche, nach den hiesigen Rennen, den Divisionskommandeur zur Jagd erwarteten . . . Es ging wirklich nicht, und sie murmelte etwas von den Kindern . . . und viel Dienst . . . und bald das Manöver . . . und überhaupt. Ihr Vater ließ sie kurzerhand stehen und wandte sich an Lizzie, und diese, die viel Gutmütigere und Leichtlebigere, besann sich auch nicht lange. Sie war eigentlich immer mit allem einverstanden. Sie schlug nie jemandem etwas ab. Bei ihr im Hause war doch eine ewige Hetz'. Da würde man die Barbara schon aufmischen. Jetzt erst noch vier Wochen auf dem Lande, im Salzkammergut, dann daheim. Ihren Mann – Frau von Heinreich hatte an den ihrigen zuallererst gedacht und ob das nicht seiner Karriere schaden könnte –, den fragte Lizzie gar nicht erst! Sie sagte ohnedies zuweilen, wenn von ihm die Rede war: »Ein armer Narr, mit Käs bestreut!« und lachte dazu. Der Franzi durfte bloß keine blauen Fingerspitzen von seiner Farbenfabrik mit in den Salon heimbringen und überhaupt von der dort nicht viel reden, dann war schon alles gut. Und so trat sie denn zu Barbara, die so gelassen dastand, als ginge sie die ganze Sache gar nichts an, und legte den Arm um ihre Taille und tätschelte sie mitleidig auf die Backe: »Armes Hascherl . . . Du sollst's schon gut haben bei uns . . . Aber Kinder!« Sie wurde plötzlich ernst. »Das bitt' ich mir aus. Erst nach den Rennen! In einer Woche! Nein, nein, Papa, so weit geht mein Opfermut nicht . . . das mach' ich zur Bedingung, die große Woche muß ich mitnehmen! Auf die spitz' ich mich eh' schon das ganze Jahr! Zwei Koffer voll neuen Kleidern – extra für hier . . . na . . . und dem Franzi sein Gesicht bei der Rechnung . . . ja . . . was denkt ihr denn . . .?«

Sie machte dabei eine Miene, als sei man im Begriff, ihr das schwerste Anrecht zuzufügen. Otto Burck sagte zögernd, aber doch innerlich froh, daß sie überhaupt bereit war: »Meinetwegen also erst in einer Woche . . . ich hätte es freilich viel lieber sofort gehabt.«

»Es wird's auch so tun!« tröstete Lizzie, die sich selber sehr lieb und wichtig vorkam. Nun machte sich Barbara von ihr los und sagte gleichmütig: »Ja, aber glaube nur ja nicht, daß ich mit dir komm'!« Sie ging, ehe jemand eine Antwort fand, zur Tür und hinüber in ihr Zimmer. Sie kümmerte sich wenig darum, daß das Mädchen draußen klopfte und zum Abendessen bat, und daß andere pochten und etwas von ihr wollten – sie gab gar keine Antwort. Sie hatte die Hände unter dem Kopf verschränkt und starrte zur Decke und dachte an Robert Burck.

Und zu gleicher Zeit stand der unten in seinem Hotelzimmer am Fenster und dachte an sie.

Draußen vor den Scheiben war schon die dunkle Nacht. In der leuchteten viele Lichter. Rundherum und drüben die Höhe empor, wo sich von allen Seiten die Hänge gegen die Badener Altstadt senkten. Dort suchte er die Richtung, in der die Burcksche Villa liegen mußte. Er konnte sie nicht genau erkennen. Aber er wußte: unter den Hunderten hellen Pünktchen, die da glänzten, kam ein Schein auch aus Barbaras Zimmer. Das stimmte ihn ganz andächtig. Er schaute mit einem ruhigen und hoffnungsfrohen Lächeln um die Lippen zu den Lichtern hinauf, die drüben am Berge tröstend brannten . . .

 


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