Rudolph Stratz
Die armen Reichen
Rudolph Stratz

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Erstes Kapitel

Es war eine Villa in Baden-Baden, größer und vornehmer als die anderen umher, deren Dächer jetzt, im Hochsommer, kaum noch aus dem dichten Grün der Gartenstadt ragten. Die Villa erinnerte schon ein wenig an ein Schloß, mit dem prunkenden Säulenrund, das die steinerne, palmengeschmückte Freitreppe als Hintergrund einrahmte, mit dem hohen Wartturm zur Seite, der doppelten Reihe gotischer Fensterwölbungen in der Hauptfront. Und doch unterschied sie sich eigentlich wenig von ihrer Nachbarschaft. Es haftete an ihr dasselbe Farblose, Unpersönliche, wie an den sonstigen Bauten eines Badeortes. Dieselben Kieswege schlängelten sich in dem weitgestreckten Garten in gesuchten Krümmungen um die gleichen Luxusbeete, alles war so angelegt, daß es der ganzen Welt gefallen und von jedermann benutzt werden konnte. So hatte auch Otto Burck, der alte Großkaufmann, als er vor fünf Jahren seinen Wohnsitz aus Polen nach Deutschland verlegte, das Ganze von dem Vorbesitzer übernommen und seitdem nichts daran geändert. Es interessierte ihn nicht. Er verstand auch nichts davon. Sein Leben war im Kampf um das Geld dahingegangen. Nun er viel, sehr viel davon besaß und seinen Kindern Millionen hinterlassen konnte, war er müde. Müde und verbraucht. Er wußte es selbst.

Der stille kleine Herr saß an seinem Arbeitstisch. Auf den fiel das gedämpfte Licht der Augustsonne durch die geschlossene seidene Gardine und erhellte sein gutes und freundliches, müdes Gesicht mit den klugen, von einem etwas leidenden Ausdruck umflorten Augen und ließ die vor ihm liegenden Papierstöße grellweiß schimmern. Es waren Berichte in deutscher, französischer und englischer Sprache, Zuschriften des Syndikats der polnischen Zuckerrübenindustrie, Briefe aus Italien, wohin er hauptsächlich den rohen Sandzucker seiner vier großen Fabriken exportierte, und lange Zifferreihen, Berechnungen und Entwürfe von seiner eigenen Hand.

Dies schob er jetzt alles zurück, sah auf die Uhr, klingelte und fragte den eintretenden Diener: »Ist noch niemand von den Herren da?« – Und an Stelle des Dieners antwortete, diesen über die Schwelle zurückschiebend und die Tür wieder hinter sich schließend, Otto Burcks Schwager, der Bruder seiner Frau: »Niemand! Nur ich! Aber ich alter Esel zähl' ja nicht mit!«

Onkel Pauluscha, ein Mann von schwerer und großer, von einem rötlich weitläufigen Antlitz beherrschter Gestalt, hatte immer etwas Unheilverkündendes und zugleich Gefaßtes an sich, gleich jemandem, der schwere Unglücksfälle im Leben ungebeugt ertragen hat. Vor vier Jahrzehnten hatte er sich nach dem Tode seines Vaters, eines reichen deutsch-polnischen Stahlindustriellen, im Alter von zwanzig Jahren zur Ruhe gesetzt. Seine Einkünfte genügten ihm. Aber es bedrückte ihn doch, daß man ihn im Kreise der Burcks und ihrer Verwandten, dieser über halb Europa verbreiteten, rastlos tätigen, von Ursprung deutschen Großkaufmannsfamilie nicht ernst nahm, und diese Vereinsamung zwischen den anderen Millionären gab seinem Wesen einen stillen Leidenszug.

»Sieh mal meine Zunge!« sagte er gedämpft zu seinem Schwager. »Ich glaube, sie ist stark belegt . . .«

»Meinetwegen!« Otto Burck blätterte in seinen Papieren, ohne das inzwischen von Onkel Pauluscha zum Vorschein gebrachte Schaustück eines Blickes zu würdigen.

». . . und ich weiß nicht: Mit meiner Verdauung ist's auch wieder gar nicht in Ordnung! Ich . . .«

»Ich hab' jetzt keine Zeit für deine Verdauung!« Otto Burck machte sich ein paar Notizen zu einer Tabelle, die ihm der technische Direktor einer seiner Zuckerfabriken am heutigen Morgen geschickt hatte. Und Onkel Pauluscha seufzte, setzte sich und wischte sich den Schweiß von dem bartlosen, würdevollen Gesicht und der elfenbeinern darüber leuchtenden Glatze; dann fragte er: »Wann essen wir denn eigentlich heute?« Er fügte in hoffnungsvollerem Ton, mit einem warmen Aufleuchten in den Augen, hinzu: »Ich hab' etwas von Bachforellen munkeln hören . . .«

»Wenn du nur vom Essen reden kannst!« Der kleine alte Herr, den schon lange ein Magenleiden quälte, schaute unwillig auf. »Und um elf Uhr vormittags schon! Jetzt ist unsere Konferenz! . . . Schämst du dich nicht?«

»Nein!« sagte Onkel Pauluscha.

Er hatte im Sitzen die Hände über den Bauch gefaltet und sah ergebungsvoll darein: »Erst elf! Verhungern wir also! Wenn du aber während der Sitzung jemand röcheln hörst, dann wundere dich nicht, sondern denke, daß dein armer alter Schwager . . .«

»Still jetzt!« Otto Burck schlug unwillig mit dem Bleistift auf den Tisch. »Und überhaupt . . . tu mir den Gefallen und unke nicht bei der Besprechung wieder in alles hinein, was ich sage.« Dabei nahm er einen Brief zur Hand, den er fern von den anderen auf den Tisch gelegt hatte. Der Brief enthielt viele Seiten. Viele Zahlen waren darauf. Manches Wichtige war drei- und viermal nervös unterstrichen. Der alte Kaufmann seufzte mit einem Zug des Grams auf den müden, freundlichen Zügen und schaute ihn lange an.

»Von deinem Bruder?« fragte Onkel Pauluscha gähnend.

»Ja. Von Joseph«, sagte der alte Burck trübe und tat den Brief wieder in das Kuvert mit dem Londoner Poststempel.

»Was gibt's denn?«

»Was es ewig gibt . . . neue Anklagen – neue Prozesse . . . wie immer seit zwanzig Jahren . . . ach . . . ich hab' es so satt . . .«

»Kümmere dich nicht darum!« riet der alte Junggeselle.

Otto Burck sah ihn an und sagte dann leise: »Mein lieber Pauluscha – das ist eben der Unterschied zwischen uns beiden. Ich hab' eine Frau, ich hab' drei Töchter – ich hab' Enkelkinder – ich hab' mein ganzes Leben lang mich um andere gesorgt und für sie gearbeitet und an meine Nächsten gedacht. Das wird einem dann zur zweiten Natur – auch meinem Bruder gegenüber – trotz dieser furchtbaren Feindschaft – trotz dem, was er getan hat! . . . Du natürlich . . . Wenn du sehen willst, was dich einzig und allein auf der Welt interessiert, dann brauchst du nur in den Spiegel zu schauen . . . Wer ist da?« Er wandte sich an den eintretenden Diener. »Die beiden Herren von Rhenus? Ich lasse bitten.«

Vor beinahe vierzig Jahren hatte Otto Burcks Schwester in London den Frankfurter Senator Dietrich von Rhenus geheiratet, der nach England gezogen und dort gestorben war. Sein älterer Sohn Augustus übernahm sein Bankhaus in der Leadenhallstreet in London, dessen Teilhaber er schon bisher gewesen war. Dem jüngeren Sohn Harry fielen die Besitzungen in Frankfurt zu. Er war dorthin zurückgekehrt. So lebte wieder ein Rhenus, vorläufig noch unvermählt, in seiner Vaterstadt.

Die Brüder, die eintraten und ihren Onkel begrüßten, waren beide um die Mitte der Dreißig. Bei Augustus, dem älteren, hatte die werbende Kraft des Angelsachsentums ihr Werk vollbracht. In London geboren und erzogen, mit einer Britin verheiratet, die ihm eine Menge Kinder geschenkt hatte, war er nicht Deutsch-Engländer geblieben, sondern aus einem Deutschen ein Engländer geworden. Man wunderte sich beinahe, daß dieser zurückhaltende korrekte Gentleman mit dem bürstenartig kurzgeschnittenen, rotblonden Schnurrbärtchen überhaupt noch deutsch sprach. Seinem Bruder Harry konnte man keine bestimmte Nationalität nachsagen. Einen halben Kopf größer als jener, schlank und gut gewachsen, sah er aus, wie irgendwo in Paris, London, Berlin oder Wien ein eleganter und etwas blasierter junger Mann aussehen mochte. Sein länglich-regelmäßiges Gesicht zeigte eine angenehme Klugheit. Aber das Lächeln darauf war stets kühl, von einer leise ironischen Art.

Sein Bruder war nach der Begrüßung zu dem alten Herrn getreten. Der wies ihm stumm den Londoner Brief. Der andere erkannte die Unterschrift sofort. Auf seinem Gesicht erschien ein Zug peinlichen Befremdens, der Widerwille des respektablen Citymannes gegen abenteuerliche und haltlose Existenzen des Londoner Geldmarktes, wie es Onkel Joseph, die seit Jahrzehnten gestürzte Größe der Familie, war.

Harry von Rhenus stand inzwischen im Gespräch mit dem ältesten Schwiegersohn des Hausherrn, dem Rittmeister von Heinrich. Der Rittmeister wurde sonst zu Geschäftskonferenzen nicht herangezogen. Er fühlte sich dabei auch ziemlich unbehaglich. An sich schon klein und mager, das letzte Lot Fleisch von den Knochen wegtrainiert, um möglichst wenig Gewicht in den Sattel zu bringen, das Monokel im Auge, hielt er sich weit zurück, in der Ecke, und plauderte da halblaut mit dem jungen adligen Patrizier über den Frankfurter Poloklub und die dortigen Rennen.

Und wieder öffnete sich die Tür. Maurice Burk – oder, wie er sich nach französischer Gewohnheit nun schon in Deutschland schrieb: Maurice Bürk – erschien, in der Familie kurzweg der »Pariser« genannt, weil er, ein Vetter Otto Burcks, schon in jungen Jahren das Land verlassen hatte, um in Paris eine Filiale der väterlichen Petroleumfirma zu gründen. Dort war er geblieben und hatte sich, im Besitz eines großen Vermögens, spät verheiratet. Nun war er schon betagt, ein eisgraues Männchen mit trübe zwinkernden Augen und einem eigentümlichen Ausdruck stillen Humors auf den grämlichen Zügen. Er war streng nach der letzten Mode der Boulevards gekleidet – das rote Bändchen der Ehrenlegion im Knopfloch. Mit Deutschland verband ihn, außer der Muttersprache, in der er auch schon zuweilen nach Worten suchen mußte, nur noch ein Stück Jugend – die Erinnerung an die fünf glücklichsten Jahre seines Lebens, wo er in Frankfurt am Main im Bankhaus Rhenus u. Co. bei dem Großvater der beiden jungen Männer, die da standen, als Volontär gelernt hatte. Er sagte auch gleich zu Harry von Rhenus, während er ihn begrüßte: »Na, wie ist's? Steht mei' altes Frankfort noch?« Er lächelte dabei still.

Die letzten, die kamen, waren Otto Burcks zweiter Schwiegersohn, Franz Edler Hafner von Hradeck aus einem Alt-Wiener, durch die Eiserne Krone geadelten Kaufmannsgeschlecht, dessen Altväter schon im Gremium der Großhändler gesessen, und sein Oheim Leopold. Von Wiener leichtem Blut und frohem Sinn verriet »der Franzi«, wie er in der Familie hieß, nichts. Er war ein kleiner, blondbärtiger, gedrückt und immer sorgenvoll aussehender Mann. Soviel Geld er auch mit seinen Farbenfabriken verdiente, seine Frau brauchte immer noch mehr. Wo es blieb, wußte niemand. Es ging alles drauf in einer ewigen Hetz', einem Wirbel von Bällen und Wohltätigkeitsbasaren und Gartenfesten, bei denen sich die Räume seiner prachtvollen Wohnung in einem Palais am Schwarzenbergplatz mit Leuten füllten, die er kaum kannte und die ihn, den kleinlaut in der Ecke stehenden Hausherrn, wenig beachteten.

Sein Onkel Leopold aber rechtfertigte noch jetzt, wenn er, ein kinderloser Witwer, nahe den Siebzig, tadellos gekleidet, des Nachmittags auf dem Opernring flanierte, seinen einstigen Namen: »Der schöne Poldi«. Die Zeit hatte ihn freilich beleibt und kurzatmig gemacht. Aber von der weichlichen griechischen Schönheit des Hauptes mit dem noch kaum gelichteten, sorgsam schwarzgefärbten Lockenhaar hatte sie ihm noch genug bewahrt, daß man sein früheres Glück bei den Frauen verstand, ein Glück, das ihn aber nie gehindert hatte, ein träger, aber sehr vorsichtiger und erfolgreicher Geschäftsmann zu sein. Sowie Zahlen genannt wurden, verlor sich bei ihm die Oberflächlichkeit und das heimlich-gutmütige Lächeln. So saß er auch jetzt sehr ernst da – im Halbkreis herum die anderen, und nach einigem Stühlerücken, dem Knistern von Streichhölzern, dem Aufsteigen der ersten Rauchringe und einem leisen Sporenklirren des Rittmeisters hob Otto Burck vom Tisch her an: »Ich danke euch allen, daß ihr gekommen seid! Warum wir beisammen sind, wißt ihr aus unserer vorbereitenden Korrespondenz. So kann ich mich mit der Einleitung kurz fassen. Ich brauche nur zu sagen: Ich bin alt und müde . . . nicht wahr?« Darauf antwortete natürlich niemand – nur Onkel Paulusche nickte zustimmend und murmelte etwas von Zuckerkrankheit – und jener fuhr fort: »Ich will mich zur Ruhe setzen. Aber wem übergeb' ich mein Geschäft? Ich hab' keine Söhne. Von meinen Schwiegersöhnen kommst du, Werner«, er wandte sich an den Rittmeister, der unwillkürlich zusammenfuhr, »überhaupt nicht in Betracht. Du, Franzi, hast gerade genug mit deinen Fabriken zu tun – na – und die dritte, die Barbara, ist ja überhaupt noch unverheiratet . . .«

»Hm . . .!« sagte Onkel Pauluscha aus seiner Ecke, als die Rede auf die jüngste Tochter des Hauses kam. Er sah dabei Harry von Rhenus durchdringend an.

Otto Burck warf ihm einen zornigen Blick zu. Dann fuhr er fort: »Ich würde unter diesen Umständen noch länger auf dem Posten bleiben. Aber einmal verlangen die Zeiten da drüben in Polen gerade jetzt einen ganzen Mann – dem bin ich körperlich nicht mehr gewachsen. Und anderseits halte ich den ewigen Kampf mit meinem Bruder Joseph nicht mehr aus. Ihr wißt, wie er mich seit Jahrzehnten mit Geldansprüchen verfolgt, ihr wißt auch, warum ich als ehrlicher Mensch solchen Ansprüchen nicht Folge geben kann und darf! Da liegt sein letzter Brief. Er droht von London aus mit einem neuen Rattenkönig von Prozessen gegen mich, er will demnächst persönlich hierherkommen: dem bin ich nicht mehr gewachsen. Es wird mir zuviel, und das ist für mich der zweite Grund, weswegen ich meine Unternehmungen in eine Aktiengesellschaft innerhalb der Familie umwandeln will. Mag er sich dann mit der vor Gott und der Welt herumbalgen statt mit seinem leiblichen Bruder – ich hab' dann wenigstens die Last nicht mehr!«

Die anderen nickten zustimmend. Es trat eine Pause ein. Der Geist des gestürzten Londoner Bruders ging durch das Zimmer. Jeder dachte an ihn, in seiner Weise. Leopold Hafner äußerte verdrießlich: »Laßt mich nur endlich mit dem John Burke aus . . . 's wird doch eh nix mit ihm!«

»Ja – aber wie ihn unschädlich machen?« fragte Augustus von Rhenus kühl. Sein Deutsch klang fremdartig, mit einem leichten englischen Akzent.

»Ich kenne gewisse Leute!« sagte endlich Onkel Pauluscha. und seine Grabesstimme unterstrich diese ›gewissen Leute‹. »Ich will keine Namen nennen . . . aber solange Joseph obenauf war und mit einem Scheck auf die Bank von England uns alle, die wir da sitzen, in die Tasche stecken konnte, in der Zeit, wo's in der City hieß: ›Was? Sie sind ein Vetter von John Burke? . . . Bitte – nehmen Sie Platz . . . geben Sie mir Ihren Hut! . . . Darf ich Ihnen die Schuhe putzen?‹ . . .«

»Zur Sache!« sagte der alte Pariser.

»Die Sache ist, daß er vielleicht doch noch einmal in die Höhe kommen kann – und dann . . .«

»Ausgeschlossen!« sagte Harry von Rhenus und zündete sich eine neue Zigarre an.

»So! Weshalb?«

»Wer zwanzig Jahre lang in London am Boden gelegen hat, wie Onkel Joseph, über den sind die Räder weggegangen. Der ist überhaupt fertig! Und sogar wenn – ich hab' mit ihm nichts zu tun – und andere Gentlemen auch nicht . . .«

»Und diese Elastizität, mit der er deinen Onkel peinigt?« beharrte Pauluscha. »Wer seinen Angehörigen noch so auf die Nerven fällt – der ist bei Kräften.«

»Dann mußt du eine eiserne Gesundheit haben!« sagte Otto Burck müde zu seinem Schwager. Harry von Rhenus lächelte kühl. »Solche Leute in zerrissenen Röcken und Stiefeln, wie Onkel Joseph, gibt's da drüben viele. Mit solchem . . . wißt ihr, wie er und sein Anhang jetzt die Kurse auf dem Kaffernmarkt zu bestimmen suchen? . . . Durch Tischrücken!«

»Ach wo!«

»Doch! Da sitzen sie um einen runden Tisch herum – lauter alte, bankerotte Männer. Onkel John mitten darunter – und halten sich an den Händen und beten, bis die Klopfgeister kommen. Die pochen ihnen dann, ob es einen Boom in Rio Tinto oder Rand Mines in der nächsten Woche gibt.«

Die übrigen schüttelten die Köpfe. Dann sagte der Herr des Hauses: »Lassen wir meinen Bruder! Wir kommen da vom Thema ab – der Gründung unserer Gesellschaft, an der ich nur euch beteiligen will. Ich mag keine Jobberei an der Börse mit meinen Papieren. Jetzt ist nur die Frage: Wer soll mein Nachfolger in der Leitung des Unternehmens sein? Gerade weil es eine Familiensache ist, können wir da nicht gut einen Fremden hineinbringen.«

»Hm!« räusperte sich sein Schwager wieder dröhnend mit einem Blick auf Harry von Rhenus. Und jener sagte gelassen: »Onkel Pauluscha hat euch ja eben schon durch ein paar Naturlaute darauf vorbereitet, daß nun wohl die Rede auf mich kommt! Da kann ja nun manches für und gegen geäußert werden – dem will ich lieber keinen Zwang durch meine Gegenwart auferlegen. Ich gehe inzwischen zu den Damen hinunter – also auf Wiedersehen!« Damit verließ er das Zimmer.

»Zu den Damen?« murmelte Onkel Pauluscha zweifelnd. Die anderen lächelten und schwiegen. Otto Burck besaß ja noch eine ledige Tochter. Er hatte da jedenfalls in der Stille schon manches vorbereitet. Aber in diesem Augenblick tat er nichts dergleichen, sondern entfaltete seine Papiere und begann mit eintöniger Stimme die Rentabilitätsberechnungen seiner Unternehmungen vorzulesen, die Arbeiterzahlen in den einzelnen Fabriken, hier hundertfünfzig, dort zweihundert, dort gar vierhundert. die Verarbeitungsweisen von Rohrzucker zu Raffinade, die Marktpreise – und die um ihn hörten zu. Der Rittmeister mit einem dienstlich aufmerksamen Gesicht, die anderen mit dem sachlich-kühlen Ausdruck der Gewohnheit. Harry von Rhenus stieg inzwischen die Treppe zum Erdgeschoß hinab.

Dort befand sich vor den eigentlichen Wohnzimmern ein kleiner, mit Treibhauspflanzen geschmückter Raum. In ihm saß Barbara Burck, die jüngste Tochter des Hausherrn. Sie hatte die Hände über dem Knie gefaltet und schaute gleichmütig vor sich hin, über die grünen Wipfel und Hoteldächer und Villentürme von Baden-Baden bis zu dem altersgrauen Schloß auf der anderen Seite der Stadt. Sie veränderte, während sie langsam den Kopf nach ihrem Vetter drehte, weder ihre Haltung noch ihre Miene. Und in ihm setzte plötzlich ein heftiges Herzpochen ein, und während ihrer beider Augen sich, noch aus der Entfernung, prüfend trafen, schoß es ihm durch den Kopf, daß sie doch wirklich schöner sei als ihre beiden Schwestern zusammen, die auffallend hübsche Frauen waren. Der frostige Schein, der eigentlich immer über ihren jugendlichen Zügen lag, dies zweifelnde, dies stille Mißtrauen, als ob sie jeden, der ihr nahte, als ihren Feind betrachtete, erhöhte für ihn noch ihren Reiz.

»Guten Morgen, Barbara!« sagte er. Sie reichte ihm stumm die Hand. Er setzte sich ihr gegenüber. Beide lächelten befangen. Das kam bei Harry von Rhenus selten vor. Aber jetzt war er wirklich verlegen vor Erregung. Und sie half ihm und fragte absichtlich leichthin: »Nun – was macht ihr oben – in eurer Konferenz?«

»Bisher haben sie wieder einmal über Onkel Joseph gestöhnt!« sagte er, froh, zunächst von etwas Fernerliegendem reden zu dürfen. »Es ist doch keine Familienzusammenkunft bei uns denkbar, wo nicht dies Skelett aus dem Schrank hervorgeholt und von Hand zu Hand gereicht wird! . . . Widerwärtig . . .«

Dabei war auf seinen glatten Zügen ein Schimmer von Ekel – der Hochmut der zweiten, in sorglosem Reichtum geborenen Generation eines Großkaufmannsgeschlechts gegen von Armut und Unglück verfolgte Leute. Die Alten, die Väter, die fast alle selbst schon einmal schwere Krisen im Leben durchgemacht – die schlaflose Nächte und heitere Verstellung vor der Familie und unerschütterliche, erzwungene Ruhe vor den Geschäftsfreunden und Angestellten und Kunden aus eigener, glücklich überwundener Not her kannten, die Alten mochten noch Mitleid mit den Gestürzten haben – die Jungen, ihre Erben, nicht. Die wußten nicht mehr, wie das tat.

»Sonderbar!« sagte Barbara. »Eben hab' ich in der Fremdenliste auch den Namen Burck gefunden – wie durch Zufall – ich schau' mal immer hinein, ob nicht jemand Bekanntes angekommen ist . . . nein – da vorne bei ›Stephanie‹ und ›Regina‹ darfst du nicht suchen – es war in einem von den kleinen billigen Hotels innen in der Stadt.«

Sie hatte ihm das Badeblatt gereicht, und er las: »Robert Burck, Kaufmann, London«. – Er sagte: »Na, ja – da haben wir's! Das ist Onkel Josephs Sohn!«

»Kennst du ihn?«

»Nee – Gott sei Dank!« sagte der junge Kaufmann behaglich. »Das heißt: So vor zwanzig Jahren, wie wir noch Buben waren – noch vor der Geschichte – da haben wir uns ja wohl in London manchmal gesehen. Seitdem nicht mehr. Es geht ja doch wirklich nicht mit der Familie! Der eine Sohn, der ältere, ist ein vollkommener Lump, die Tochter hat einen halben Lumpen geheiratet, die sind ja nun glücklicherweise in Argentinien oder sonstwo verschollen . . .«

»Aber der da – der Robert, soll doch ein ganz anständiger Mensch sein . . .«

»Soweit man das mit diesem Vater vermag . . . mir ist wenigstens sonst nichts Nachteiliges über ihn bekannt.« Harry von Rhenus legte das Blatt zur Seite. »Er ist irgendwo Angestellter – jetzt, glaub' ich, bei einem großen Kammgarnmenschen in Liverpool – drei Pfund Sterling die Woche oder so . . . In den letzten Jahren hatten sie ihn, glaub' ich, mit einem Dutzend anderer junger Leute nach Polen geschickt – ich erinnere mich: da war eine Höllenrauferei im Gang zwischen dem englischen Import und den polnischen Fabrikanten.«

»Aber was mag er nur hier wollen?«

»Deinem Vater das Leben sauer machen, im Auftrag unseres lieben Onkel Joseph.« Harry von Rhenus lachte. »Ich kann's wirklich dem alten Herrn nicht verdenken, wenn er sich von den Geschäften zurückzieht. Augenblicklich beratschlagen sie oben über mich, ob ich sein Nachfolger werden soll. Na – wenn sie mir das Schicksal ihrer Aktien anvertrauen wollen – ich bin bereit . . .«

»Ja – natürlich!« sagte Barbara.

Ihr Vetter fuhr fort: »Ich will, wenn die oben sich auf mich einigen, heute abend noch nach Polen abreisen, um mich dort vorläufig ein bißchen zu informieren. In vierzehn Tagen bin ich, denk' ich, zurück und dann . . .«

Er fühlte zu seinem Ärger, wie eine verräterische leise Röte sich über sein Gesicht verbreitete. Er gab sich einen Ruck und kämpfte die Verwirrung nieder. Es mußte jetzt zu den entscheidenden Worten kommen, und so sagte er so ruhig wie möglich: »Natürlich, Barbara. Ein Opfer ist's ja, wenn man sich so sechs Monate im Jahr vergraben soll. Dafür muß man in der zweiten Hälfte des Jahres wenigstens hier oder irgendwo sonst in Westeuropa das finden, was ein Mann, wenn er einmal in meinen Jahren ist, vom Leben erwartet. Ich meine ein eigenes Heim . . . und . . .«

Er wollte fortfahren: ». . . und eine Frau . . .«, aber er brach ab. Es war ja nicht nötig. Sie verstand ihn auch so. Sie wußte ja so genau wie er, warum sie beide sich hier gegenübersaßen. Das alles war ja schon seit Wochen in der Schwebe. Nur daß sie überhaupt dasaß, war ihm ja eigentlich schon eine Gewähr für den erhofften Ausgang . . .

Von oben scholl gedämpftes Stimmengewirr. Es klang wie Widerspruch. Wahrscheinlich hatte Onkel Pauluscha sich wieder irgendwie unmöglich gemacht. Barbara war aufgestanden und schloß die nur angelehnte Tür nach dem Treppenhaus. Das war wie ein Zeichen, daß niemand das, was nun kam, zu hören brauchte. Dabei verriet sie keinerlei Erregung, im Gegensatz zu Harry von Rhenus, der sein Herz immer heftiger hämmern fühlte. Auf ihrem feingeschnittenen, schmalen Antlitz war der alte Zug stillen, aber beharrlichen Mißtrauens, den er so wohl kannte. Er wußte, wie verschlossen sie war, und so erstaunte er doppelt, als sie, sich wieder ihm gegenübersetzend, sagte: »Ich möchte vor allem einmal ganz offen mit dir reden, Harry – und zuerst nicht von dem Jetzt, sondern von etwas, das früher war . . .«

Er schwieg und sah sie sehr ernst und gespannt an.

»Siehst du, gerade in dem Zimmer, wo wir beide jetzt sitzen, Harry, da hab' ich vor dreieinhalb Jahren auch einmal eines schönen Tages gesessen, genau auf demselben Platz, bald nachdem wir nach hier übergesiedelt sind und ich ganz herangewachsen war . . .«

Er machte eine unwillkürliche Bewegung. Sofort verstärkte sich auf ihrem Gesicht der Argwohn, und sie fragte schnell: »Kennst du am Ende die Geschichte schon?«

»Wahrscheinlich, Barbara.«

»Woher denn?«

»Neulich . . . da erzählte mir deine Mutter so etwas . . .«

»Natürlich . . . Mama . . .« Sie kräuselte bitter die Lippen. »Ich hätt' es mir denken können! Sie kann ja nichts bei sich behalten . . .«

»Ich versichere dir: sie hat mir ganz unaufgefordert . . . ich hätt' es auch lieber von dir selbst gehört . . .«

Sie machte eine beinahe verächtliche Handbewegung, irgendwohin in die Richtung, wo ungefähr ihre Familie war. »Schließlich ist's einerlei . . .«, sagte sie. »Also du weißt's! . . . Da hab' ich gesessen, und drinnen war er beim Papa, und die Geschichte dauerte viel länger, als ich dachte. Ich hörte, wie er dann aufstand und mit dem Fuß aufstieß und schließlich ganz laut sagte: ›Nein – verehrter Herr Burck – zum letztenmal: Mit einer bloßen – wenn auch reichlichen – Zulage ist mir nicht gedient. Ich muß durchaus auf einer hohen Barmitgift bestehen. Und ohne das müßt' ich schmerzlich bedauern‹ . . . Ich hab' ihn noch quer über die Straße gehen sehen, die Hände im Mantel, mit langsamen Schritten . . . und dann nie wieder . . . Und ich hab' ihn doch geliebt! . . . geliebt . . . sag' ich dir . . .!«

Er sah sie erstaunt an. Es leuchtete plötzlich wie ein Feuerblitz aus ihren braunen Augen, daß sie ihm ganz fremdartig erschien. So hatte er Barbara Burck noch nie gesehen! Aber nun war das auch schon vorüber und auf ihren Zügen der Frost von sonst. Sie sagte im gewöhnlichen Ton: »Einerlei! . . . Aber damals . . . ist etwas in mir abgestorben . . . Das war eine Stunde der Erkenntnis – von der hab' ich mich nie wieder so recht erholt . . .«

Sie hatte die Hände über dem Knie verschlungen und sah ihrem Vetter ruhig in die Augen, so unbefangen wie einem Arzt in der Sprechstunde. In ihm stieg eine unbestimmte Erbitterung auf gegen dieses leidenschaftslose, kameradschaftliche Vertrauen, in dem so gar keine Liebe, sondern nur Kühle war. Sie sagte: »Ich hätte anders werden können, wenn der Rechte gekommen wäre. Und ich hab' auch dagegen gekämpft – dreieinhalb Jahr hab' ich gewartet und gehofft: Es kommt doch noch einmal einer . . . Nun – es sind viele gekommen. Ich bin bei keinem die Gleichgültigkeit und den Argwohn losgeworden.«

Nun hatte sie sich doch in Erregung gesprochen. Sie atmete schwer, und ihre Wangen waren blaß. Aber sie fand bald ihre Fassung wieder und sprach rasch weiter, wie jemand, der sich die Worte vorher genau überlegt hat. »Nun hab' ich allmählich die Hoffnung verloren, daß sich das je noch ändern könnte. Darüber geb' ich mich keinen Illusionen mehr hin. Ich bin bald dreiundzwanzig. Alte Jungfer zu werden hab' ich keine Lust. Es ist auch nicht sehr amüsant, hier noch lange im Hause herumzusitzen. Papa ist alt und lebt mit Mama mehr wie Katz' und Hund als je – und Mama – na . . . du kennst sie ja . . . Darum möcht' ich fort aus dem Haus und durch die Ehe ins Leben . . . Ich will in Gottes Namen eine Vernunftehe schließen – aber dann auch eine wirklich vernünftige, bei der beide Teile ihre Rechnung finden . . .«

Sie brach ab. Harry von Rhenus schwieg auch nachdenklich eine Sekunde, dann faßte er einen Entschluß, rückte seinen Stuhl näher zu dem ihren heran und sagte eindringlich: »Wenn nun aber ein Mann kommt, der dich wirklich liebt . . . wirklich, Barbara . . . wirklich . . . glaubst du's?«

Es mag sein . . .«

». . . und der doch selber reich genug ist, daß er dein Geld gar nicht braucht . . . nicht wahr?«

Sie schaute ihn prüfend an, mit einem spöttischen Schimmer ganz hinten in ihren Augen. Aus dem konnte er, wenn er wollte, lesen: »Dabei willst du doch der Direktor der neuen Aktiengesellschaft werden, die Papa gründet . . .« Er biß sich ärgerlich auf die Lippen und fuhr scharf fort: »Ein Mann, wiederhol' ich, bei dem es gar keine Rolle spielt, ob er sein Kapital und seine Arbeitskräfte da oder dort verwertet, hier oder anderswo – irgendwo muß er's ja schließlich tun, wenn er nicht müßig gehen will – das gibst du doch zu . . .?«

Sie nickte mit einem stillen, eigensinnigen Lächeln, das ihre Kopfbewegung Lügen strafte.

». . . und nun außerdem, Barbara, zwei Menschen, die nahe miteinander verwandt sind – die sich von Kindesbeinen an kennen – wo keiner dem anderen etwas vormachen kann – das alles trifft sich doch so gut und glücklich . . . und . . .«

Er verstummte auf eine leichte Handbewegung von ihr hin. »Gewiß trifft's sich gut!« sagte sie. »Und ich sitz' ja auch hier, und wir sprechen darüber. Ich will nur Klarheit, darum hab' ich heute von mir geredet, was ich sonst nie tu' – und wiederhole noch einmal offen und ehrlich: Liebe ist bei mir nicht dabei . . .«

Sie war aufgesprungen und schritt im Zimmer auf und ab. Das weiße Sommerkleid rieselte in langen, weichen Falten um ihre schlanke Gestalt. Durch den Gardinenspalt flimmerte, als sie stehenblieb, ein Sonnenstrahl über sie hin und erhellte ihr Gesicht. Harry von Rhenus, der sitzengeblieben war, dachte wieder, wie schön sie sei. Und ihr Auge begegnete dem seinen und wich ihm nicht aus. Sie wiederholte: »Verwandtschaft ja – und Freundschaft – und Vertrauen – natürlich – sonst tät ich's nicht – aber keine Liebe . . .«

»Noch keine Liebe . . .« Der vor ihr stand langsam auf und betonte nachdrücklich das erste Wort.

Sie schwieg.

Und er sagte es wieder, leiser: »Noch keine Liebe . . . aber die Liebe kann kommen . . .« Er wollte ihre Hand ergreifen. »Und sie wird kommen. Das hoff' ich! Das weiß ich! Dafür bin ich da . . .«

Aber sie gab ihm ihre Rechte noch nicht, ja, sie trat einen halben Schritt vor ihm zurück: »Nun brauchen wir beide noch Zeit . . .«, sagte sie. »Ich – nachdem ich das gesagt hab', was ich noch nie jemandem gesagt hab'« . . . und du, nachdem du's gehört hast . . . darüber mußt du erst mit dir ins Reine kommen, ehe du dich entscheiden kannst . . .«

»Ich habe mich entschieden!«

»Trotzdem! Heute, das war nur ein Gespräch zwischen uns! Nun geh auf die Reise! Und wenn du zurückkommst, in ein paar Wochen, dann sag mir, was du mir zu sagen hast.«

»Ich weiß schon jetzt, was es sein wird!«

»Nun – um so besser! Und für jetzt, für die da oben, ist's begraben . . .«

Oben schlugen Türen. Man hörte Stimmen. Die Konferenz schien zu Ende. Und zugleich mahnte mit einem sanften, sich allmählich verstärkenden Donner der Gong zum Lunch. Jeden Augenblick konnte auch hier unten jemand eintreten. Harry von Rhenus ging auf Barbara zu. Er hatte die unsichere Hoffnung, daß sie sich vielleicht doch von ihm küssen lassen würde. Dann waren sie doch verlobt, trotz alledem. Aber sie streckte ihm nur die Hand entgegen zu einem freundschaftlichen Druck. Er neigte den Kopf und preßte einen stummen Kuß darauf. Dann öffnete er ihr die Tür, und sie gingen hinüber zu den anderen.

 


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