Rudolph Stratz
Die armen Reichen
Rudolph Stratz

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Drittes Kapitel

Vor dem Sternenwirtshaus in Oberpeterswalde standen zwei Automobile, und um sie herum, auf dem Platz mit der uralten Dorflinde, durch deren Geäst die Glut des Sommermittags im Spiel von Licht und Schatten zitterte, scharte sich die Dorfjugend und starrte stumm die beiden feuerrot und elfenbeinern lackierten Wagen, ihre Chauffeure und Insassen an, die Herren und Damen, die von irgendwoher plötzlich in das stille Tal gekommen waren.

Das Dorf, das in ihm lag, hatte nichts Eigenartiges, nichts Romantisches an sich. Friedlich und behäbig lag es in einem breiten, fruchtbaren Gefilde, das zu beiden Seiten die ernsten, tannenbestandenen Höhenzüge des Schwarzwaldes einrahmten. Gottes Segen zitterte über den abgeernteten Ährenflächen und saftgrünen Wiesen und ließ die roten Backen der Äpfel aus dem Laub der Obstbäume leuchten, die die stattlichen, weithin an den Hängen zerstreuten Bauernhöfe umgaben. Da, wo der Kern des Dorfes sich zusammendrängte, stand, weißschimmernd, mit hohem Giebel, das Pfarrhaus und über ihm auf einem Hügel, weithin das ganze Tal beherrschend, inmitten des Gottesackers das Kirchlein. Alles war totenstill. Alle Menschen draußen im Heu. Kaum daß einmal das Gesicht eines steinalten, gelähmten Weibleins hinter einer dunklen Fensterscheibe erschien, während Robert und Barbara Burck nebeneinander durch die Dorfstraße gingen, fern von den anderen, die der Hitze wegen im Wirtshaus rasteten. Sie hatten den Weg nach dem Feldbauerhof erfragt, von dem, nach dem Kirchenbuch des Pfarrers, jener Lambert Burck, ihr Vorfahre, stammte, der seinerzeit nach Polen ausgewandert war. In der Richtung schritten sie nun langsam dahin.

Um sie war die stille Glut des scheidenden Hochsommers, tiefblauer Himmel über der friedlich grünen, wie schlafend daliegenden Welt, ein leises Zittern von Hitzwellen über dem schneeweißen Staub der Straße, die das ganze Tal entlang mit Marterle und blumengeschmückten Kruzifixen und Votivtafeln und kleinen steinernen Heiligen eingefaßt war. Weit aus der Ferne läutete schläfrig ein Kapellenglöckchen. Sie hörten es und unterbrachen eine Weile ihr Geplauder und schauten stumm vor sich hin und stiegen dann seitlings das Tal empor, dem Bergbach entgegen, der atemlos plätschernd über Stock und Stein ihnen entgegenschoß. Mächtige Nußbäume überdachten den Weg. Grell flimmernd lag in den Zwischenräumen ihrer Schatten die Augustglut und ließ Barbaras weißes Kleid wie Schnee aufleuchten. Zu beiden Seiten dehnten sich die Wiesen. Je höher die beiden kamen, desto mehr wurde es auf jenen lebendig vom Volk der Schnitter, von hochgetürmten Heuwagen und grasenden Zugpferden und Nestchen friedlich schlummernder, von kläffenden Stallspitzen bewachter kleiner Kinder im Dämmern des Dickichts am Rain; und ein alter Bauer, der sich, die frisch genagelte Sense auf der Schulter, das wassergefüllte Kuhhorn mit dem Wetzstein hinten festgebunden, dem Paar unterwegs angeschlossen hatte, wies ihnen unter den stundenweit sichtbaren, da und dort zerstreuten Höfen alle diejenigen, die den Burcks, einer der drei großen, seit Urzeiten hier ansässigen Sippen des Gebirgstals, gehörten: In Nähe der Nitzebauer, da drüben der Breidershof, da unten die Schloßmühle, und drüben der Sonnenwirt und gar der Wangler – den konnte man von hier nicht sehen – das war ein Mann – vierhundert Morgen Land! . . . Der brauchte sechs Wochen – der Alte blieb stehen, um seine Aussage zu bekräftigen – sechs Wochen, bis er all sein Heu herein hatte! Ja, die Burcks, das waren hier ansehnliche Leute. Wer hier so hieß, der saß mitten in der Freundschaft drinnen.

»Na, ich heiße auch Burck!« sagte Robert. »Mein Großvater war auch von hier!«

Das freute den Alten, wenn er sich auch auf nichts mehr besinnen konnte. Du liebe Zeit, es waren so viele Burcks aus Peterswalde weggewandert! Er nickte freundlich. »So . . . so . . . da hatte es der Großvater zu etwas gebracht? . . . Da war er wohl gar zu Gelde gekommen?« Robert sagte: »Die Hauptsache ist, daß man's selber zu etwas bringt! Das werden wir auch noch mit Gottes Hilfe besorgen . . .«

Dabei reichte er dem greisen Schnitter, der jetzt einen Feldweg seitwärts einschlug, die Hand zum Abschied und sagte dann, während sie allein weitergingen, ernster: »Ein seltsames Gefühl – nicht, Barbara? Da haben nun die Menschen, die vor uns waren, gelebt . . . jahrhundertelang . . . und die Kette ist zerrissen. Ja . . . da liegt dein Heim! . . . Glücklich, wer eins hat . . . oder sich neu schaffen kann. Durch das Geld . . . Ihr anderen könnt euch das alles um euch herum mit eurem Gelde ja wieder neu schaffen, daß es was Ganzes wird.«

Sie zuckte die Achseln: »Wir bauen auch höchstens an irgendeinem gleichgültigen Ort wie Baden eine gleichgültige Villa und wohnen darin, weil wir doch irgendwo wohnen müssen . . .« Er meinte: »Immerhin . . . Ein Elternhaus ist doch ein Stück Leben! So erinnere ich mich auch aus meiner Kindheit an unseren schönen englischen Familienbesitz. Nachher erscheint es einem wie ein verlorenes Paradies, aus dem man zu Unrecht herausgerissen worden ist. Man kommt dadurch, daß man einmal etwas gehabt hat, was die anderen nie gehabt haben, denen gegenüber in Nachteil. Man ist unnötig gekränkt und gereizt. Das Schicksal hat einem etwas versprochen und dann nicht Wort gehalten. Darüber muß man eben hinaus! Ich bin's, Gott sei Dank, gründlich – nun schon seit Jahren! Das sind ja alles Dummheiten! Da muß man gar nicht drüber reden! . . .«

»Doch. Rede nur!« sagte sie, und der kurze Anflug einer schwermütigen Stimmung war schon bei ihm geschwunden, und er fuhr fort: »Ich entsinne mich: Einmal, wie ich vielleicht neun Jahre alt war, da gingen wir in Brighton am Strand – mein Bruder und ich – zwei wohlerzogene englische Bübchen rechts und links von meinem Vater – der Wagen fuhr leer im Schritt hinter uns, und mein Vater griff da und dorthin an den Zylinderhut, wenn Herren kamen, oder nahm ihn ab, wenn Damen ihn grüßten, und ich fragte: ›Papa – woher kennst du denn all die Leute‹ – Er erwiderte streng: ›Alle anständigen Leute grüßen sich‹ – und ich forschte weiter: ›Papa – wer sind denn die anständigen Leute?‹ – und er: ›Die, die Geld haben, Nobby!‹ Das überlegte ich mir eine Weile – dann fragte ich wieder: ›Papa, werden Eddy und ich auch einmal anständige Leute sein?‹ – Da legte er mir die Hand auf den Kopf und sagte: ›Ihr werdet zeitlebens genug haben und euch nie Sorge zu machen brauchen!‹ Das hat mich Knirps damals so merkwürdig beruhigt, daß ich an dem Abend noch einmal im Bett tief aufsetze, als wäre mir ein Stein vom Herzen gefallen, und dann fest einschlief. Na – das Schicksal hat ja nachträglich im Leben doch dafür gesorgt, daß ich kein Fett ansetzte . . .«

Und nun erzählte er Barbara auf ihre weiteren Fragen, wie es ihm ergangen, nachdem – noch während er ein Junge auf der Schule gewesen – plötzlich das Unheil über sein Elternhaus hereingebrochen war und sie über Nacht die prunkvolle Wohnung in Regent-Street mit ihren Gemäldegalerien, ihrem Palmengarten, ihren Stallungen und Freitreppen hatten räumen müssen – und wie er wenigstens seine kaufmännische Ausbildung auf der Handelsschule in Leipzig habe vollenden können – »das danke ich deinem Vater, Barbara. Er hat damals den Meinigen die Mittel dazu gegeben. Ich habe es erst lange nachher erfahren. Und er hätte noch mehr getan, wenn mein Vater nicht seine Hand zurückgestoßen und ihn vor die Gerichte gefordert hätte –« und dann das düstere Kontor in Hamburg, wo er seine Lehrjahre verlebte – ein »junger Mann« zwischen einem Dutzend anderer. Und dann kam er mit Hilfe des alten Rhenus, der damals noch lebte, als Angestellter nach Glasgow und auf eigene Faust nach London und Manchester. Und dann der Drang in die Ferne – das seltsame farbenbunte Jahr in Oporto und Alicante – im Dienst der Südweinbranche – und zum Abschluß der unselige spanische Typhus, der ihn im Militärlazarett in Gibraltar vier Monate liegenließ und um Stellung und alle Ersparnisse brachte, daß ihm der Konsul das Geld zur Heimreise auf einem Frachtdampfer gab. Und dann wieder mutig ins Leben hinein und in eine neue Stellung in London. Nun ging es schon besser: die Sprachkenntnisse halfen: Englisch, Deutsch, Französisch, Spanisch, Portugiesisch – er konnte wieder sparen und den seit lange gehegten Plan verwirklichen und sein Einjährigenjahr in Deutschland abdienen. Dabei leuchteten seine Augen: Das war die schönste Zeit seines Lebens gewesen – und, nachdem er Deutscher geworden, wieder in englischen Diensten die Expedition nach Polen und, nach dreijährigem Kampf, die Rückkehr nach Liverpool, das hatte er ja gestern schon erzählt. – Er schloß: »Immerhin – man kann froh sein, wenn man in der ersten Hälfte der Dreißig wie ich jetzt aus dem Gröbsten heraus ist. Ich kann jetzt schon dasitzen und abwarten. Ich hab' mein nettes Konto auf der Bank. Jetzt müssen die anderen auch schon ein bißchen mir entgegenkommen. Ich habe die Auswahl unter den Stellungen. Ich hab' verschiedene Wege vor mir – einen, der führt übers große Wasser – nach Neuyork! Vielleicht wähle ich den. Ich weiß es noch nicht . . .«

Er lächelte unternehmungslustig vor sich hin, und Barbara, die an seiner Seite immer weiter das friedliche, bachdurchrauschte Wiesental emporstieg, spürte bei seinen letzten Worten einen leichten Stich im Herzen. Sie fühlte plötzlich, daß es ihr bitter leid tun würde, wenn der Vetter so weit wegging. Sie war ärgerlich darüber – nicht gegen ihn, sondern gegen sich selbst.

Er merkte das nicht. Er hatte ihr in aller Harmlosigkeit sein Leben erzählt, ein rechtes kaufmännisches Angestelltendasein der Zeit, die ihre Kämpfe tagtäglich auf den Börsen und Kontoren und in den Welthäfen schlug. Dies Leben war bewegt gewesen. Aber ihm erschien es in der Erinnerung eintönig, in der steten, sich gleichbleibenden Arbeit um das tägliche Brot, und so meinte er auch zum Schluß zu Barbara: »Du siehst . . . viel hab' ich nicht zu erzählen. Immer aus einer Stellung in die nächste. Für anderes blieb da keine Zeit. Das muß dir komisch vorkommen, wo du gewiß schon so viel mehr auf der Welt gesehen hast . . .«

»Ich? Furchtbar wenig!« sagte Barbara. »Wann hätt' ich denn? Bis zu meinem vierzehnten Jahr in Polen – nun ja – was war da viel los? – Das kennst du ja – und dann haben sie mich auf vier Jahre in Lausanne in das Pensionat gesteckt – und wie ich da fertig war, da kam ich doch gar nicht mehr nach Hause zurück . . . da übersiedelte Papa doch schon gerade nach Baden-Baden . . .«

»Und seitdem bist du nun da geblieben?«

»Fünf Jahre jetzt schon, mit Gottes Hilfe! Zuweilen gehen wir ja auf Reisen! . . . Das heißt, wir trinken unseren Tee statt bei uns im Garten auf einer Hotelterrasse in Luzern, oder man spielt statt an der Achtenthaler Allee auf dem Rigi-Scheidegg Tennis, und Mama ist glücklich, wenn sie ein paar Leute kennenlernt, von denen sie hofft, daß sie adlig oder sonst sehr fein sind – aber was Gescheites kommt bei dem allen nicht heraus, das kannst du mir glauben!«

»Sonderbar, und ich dachte, jemand wie du, der hätte nun alles im Leben!«

Sie zuckte stumm die Achseln. Sie fühlte plötzlich einen Drang in sich, ihm zu berichten, ihm von sich zu erzählen – und was eigentlich bisher ihr Dasein gewesen war. Er war ihr ja doch blutsverwandt. Und doch kannte sie ihn kaum. Erst seit vierundzwanzig Stunden. So blieb das Schweigen auf ihren Lippen, und beide gingen weiter und schauten sich dabei gleichzeitig verstohlen von der Seite an und blickten schleunigst und unbefangen wieder weg, er nach rechts, sie nach links, als wäre nichts geschehen. Nur das Bächlein plauderte und lief, die Insekten musizierten tausendstimmig im Grase, und vom blauen Himmel her wehte ihnen ein frischer Hauch entgegen, als Zeichen, daß sie die Höhe erreicht.

Da lag der Feldbauerhof. Sein mächtiges, moosgraues Strohdach wuchtete auf ihm, weitausgreifend und vorspringend, als wolle es das uralte Haus darunter mit seiner Menge kleiner Fensterscheiben in den Boden drücken. Ein Rundgang mit geschnitzten Holzgewinden lief unter dem Schatten des Firstgebälks rings um die Außenmauern. Auch die Treppen, die Türen, was an altersschwarzem Holze nur da war, zeigte die altväterisch-freundlichen, anheimelnden Verschnörkelungen vergangener Zeiten, und friedlich flammten und blühten davor an jeder Scheibe, bis hinauf zu den Löchern des Taubenbodens unter dem dreifachen päpstlichen Kreuz auf dem Giebel, die Geranien und Fuchsien und Levkojen in ihren Töpfen.

Vor dem Hause stand eine mehrhundertjährige, schon ganz schwarz ausgehöhlte Linde und überschattete die gewaltige, sauber geordnete Düngerstätte. Auf der piepten die Spatzen. Daneben sprudelte eilfertig das ewig geschäftige Bächlein, lief in einen langen Holztrog und auf der anderen Seite wieder hinaus. Sonst war kein Laut zu hören, kein Mensch und Tier zu sehen. Was hier lebte, war draußen auf dem Feld. Der Heuboden, dessen Tor über der steil ausgemauerten Einfahrtsrampe schwarz gähnte, war schon halbvoll von dämmerigen, locker-duftigen Massen. Ganz von oben, vom Berg her, klangen zuweilen Stimmen, ein Peitschenknall, verworrenes Geschrei, dann verstummte wieder alles.

Und die beiden, Robert Burck und Barbara, konnten der Versuchung nicht widerstehen, doch in das Haus zu treten. Erst in die Ställe, die ganz leer dalagen, das Vieh war wohl irgendwo fern oben auf der Sommerweide, dann in den Flur. Es stand alles offen. Man konnte in das Wohnzimmer hineinschauen, mit seiner Rundbank um den Kachelofen – und in die Küche, wo jede Spur von Feuer im Herd sorgfältig gelöscht war, und in die Kammern. Sogar in das Austragstübchen im Oberstock lugten sie durch den Türspalt. Der ganze Raum war farbenbunt von Heiligenbildchen. Alle Wände waren damit bedeckt. Und indem die beiden das lasen, kamen sie sich plötzlich wie Eindringlinge vor, hier in dem Hause, aus dem sie stammten, aus dem ihr Großvater eines Morgens, das Ränzel auf dem Rücken, in Sonne und Tau, in die Ferne hinausgeschritten war, um nie wiederzukehren.

Was sollten sie sagen, wenn plötzlich jemand zurückkam und sie mißtrauisch musterte? Es wohnten jetzt nicht einmal mehr nahe Verwandte im Hause. Robert wußte vom Pfarrer Bescheid. Truspert Burck, der Feldbauer, hatte zwei Söhne gehabt. Von denen war der jüngere, Lambert, ausgewandert und hatte in Polen die Theresia Waldvogel geheiratet. Der ältere, Sales, war auf dem Hof geblieben. Aber er hinterließ nur eine Tochter, die wieder einen Burck, aus einer Seitenlinie in Oberpeterswalde, geehelicht hatte. Von denen stammte, was nun im Hause war.

Nun glaubten sie wirklich draußen Schritte zu hören und schlüpften eilfertig wie ertappte Diebe aus dem Dämmern des Ganges in das helle, grelle Acht draußen hinaus. Da war alles leer und still wie bisher, und nur ein Huhn stand da und sah sie nachdenklich an und hatte mit seinem Gescharr das Geräusch verursacht, und sie schämten sich ein wenig, daß sie das Heim ihrer Väter so auf der Flucht verlassen hatten. Aber nun wollten sie auch nicht noch einmal hinein. Es war wie ein Zeichen gewesen, daß sie da nicht hingehörten. Es lag eine Welt zwischen ihnen beiden da draußen und den alemannischen Bergbauern da drinnen. Sie warfen einen Abschiedsblick auf den Feldbauerhof, wie er so gelassen und behäbig dalag, ein altes Haus, das im Lauf der Jahrhunderte alles gesehen und gehört, was Menschen in Lust und Leid widerfahren konnte – vom ersten Schrei des Neugeborenen bis zum Rumpeln des Sarges über die Torschwelle – alles, alles im ewigen Wechsel und Wiederkehr bei Geschlechter. Dann wandten sie sich zum Gehen, und Robert sagte: »Ich bin doch froh, daß ich da war! Wenn es auch nicht unsere Heimat ist – man hat doch das Stückchen Erde einmal gesehen . . .«

Und sie dachte sich: Gewiß ist das nicht unsere Heimat! Nirgends ist sie. Und doch müssen wir gehen und sie suchen und können sie nur bei anderen Menschen finden, oder eigentlich nur bei einem einzigen anderen Menschen. Dabei kam ihr plötzlich Harry von Rhenus in den Sinn. Und eine unerklärliche Beklemmung lastete auf ihr, eine tiefe Schwermut in all dem Sonnenschein und der Sommerhelle um sie, und eine Gereiztheit gegen den Gefährten neben ihr, über die sie sich keine rechte Rechenschaft geben konnte, aber sie kämpfte das nieder und sagte absichtlich leichthin und spöttisch: »Ein Segen, daß Mama das nicht gesehen hat! . . . Sie schämt sich so schrecklich, daß wir von Bauern abstammen sollen! . . . Sie hat sich schon eine Art Familienlegende zurechtgemacht, wonach wir eigentlich als politische Flüchtlinge nach Polen gekommen seien . . . und der Adel – das deutet sie aber erst in allerletzter Zeit dunkel an – sei infolge dieser bewegten Schicksale von uns abgelegt worden . . . Papa, der lacht immer darüber – auch vor Gästen – dann wird sie wütend . . .«

»Na, meiner würde auch darüber lachen!« sagte Robert. »Den würde das alles hier überhaupt nicht interessieren – nur der Bach da . . .« Er wies mit seinem Spazierstock auf den Quell am Wege.

»Warum denn der?«

»Das lebt doch! Der läuft doch! Aus dem läßt sich doch Elektrizität machen, Barbara! Mit der kann man unten im Tal eine Masse Maschinen treiben, oder alles mit Hochspannung bis zu dem Wald da drüben übertragen und aus den Tannen auf vier Meilen im Umkreis Streichhölzer fabrizieren! So was geht rasch bei Papa! The new Black-Forest Company limited – das rechnet er dir in fünf Minuten in seinem Notizbuch aus, mit Anlagekapital und einem Riesenüberschuß schon im ersten Jahr . . .«

Er lachte gutmütig über dies Wolkenkuckucksheim und fragte dann, ernster werdend: »Hast du meinen Vater eigentlich je im Leben gesehen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein – damals, wie der . . . der plötzliche Umschwung bei euch kam, da war ich ja noch ganz klein, und nachher war ja der Verkehr dann ganz abgeschnitten . . .«

Und nach einer Weile setzte sie leise und mitleidig hinzu: »Dein armer Papa . . .«

Er wandte rasch den Kopf zu ihr und schaute sie überrascht und halb belustigt an. »Mein Vater . . . den bedauerst du?«

»Nun – natürlich . . .?«

»Aber warum denn . . . ich bitte dich . . . einen Mann, der heute abend noch, spätestens morgen früh, wieder Millionär ist?«

»Dein Vater?«

»Mein Vater ist immer im Begriff, morgen früh Millionär zu werden! Wenn du ihn hörst, glaubst du's und schüttelst ihm die Hand und gratulierst ihm. Am nächsten Morgen hat sich die Million auf unbegreifliche Weise um vierundzwanzig Stunden verschoben! Ach was – eine Million! . . . Fünf! – Zehn! Viel mehr als früher! Man muß nur erst im Zug sein! Dabei leuchten seine Augen, und er legt allen Leuten, die ihm helfen wollen, die Hand auf die Schulter und spricht ihnen Mut zu! . . . Sie sollen nur nicht verzagen! Er sei doch noch da und stände ihnen zur Seite . . .!«

Barbara begriff jetzt, woher Robert seine beinahe ungestüme Frische und Lebendigkeit hatte. Er sagte in einem harmlosen Spott, durch den aber doch die Liebe zu seinem Vater hindurchklang: »Man taxiert Papa immer falsch! Er ist einfach ein großes Kind! Meinetwegen ein geniales großes Kind. Aber man muß ihn bemuttern. Na – das tu' ich ja jetzt, so gut ich kann. Seine Visionen von der Ridderfountainmine in Transvaal, mit der er noch einmal den Goldmarkt beherrschen will, und tausend solche Sachen – die bringe ich ihm freilich nicht mehr aus dem Kopf. Die nimmt er mit sich ins Grab! . . . Sieh mal – da sind die anderen . . .«

Sie hatten wieder die Kirche erreicht, und auf dem Friedhof daneben wandelte der alte Burck mit seinen beiden Töchtern und seinem Schwiegersohn, die drei anderen Herren hinter sich, zwischen dem Gewimmel der Holzkreuze. Er sah sich die suchend an. Sie waren alle nicht älter als vierzig, fünfzig Jahre. Nur an der Kirche selbst lehnten ein paar moosbedeckte steinerne Male aus ferner Zeit, und auf dem einen konnte man noch mit Mühe von einer Ruth Schinzigin, einer geborenen Burckin, lesen, die von einem rollenden Heuwagen erdrosselt worden war. Sonst aber war alles Gedächtnis der früheren Geschlechter verschwunden. Nichts wies mehr auf die Stätte, wo einst Truspert Burck, der Feldhofbauer, seine letzte Ruhe gefunden, und es galt von ihm und allen, was da auf dem Grab des Einhornwirtes Alois Burck von Altpeterswalde stand: »Der Mensch gleicht einer Blume – und einem Blatt der Flur – und wehn des Herbstes Stürme – verwehn sie seine Spur.«

». . . verwehn sie seine Spur . . .«, wiederholte der alte Burck, eben als Barbara und Robert zu ihm traten. Er war doch ergriffen. Überall las er da den Namen Burck, dem er fast nirgends sonst auf der weiten Welt begegnet war, und seltsame, anderwärts schon ganz verschollene Vornamen dazu . . . nicht nur die Lamberts und Sales, die Annas und Barbaras, die immer wiederkehrten – auch die Florians und Donats, die Kreszentias und Apollonias. die so gar nicht zu den Namen der Lebenden da oben, den Maurices und Pauluschas, den Augustus und Lizzies paßten. Viele, viele lagen da unten, Männer und Frauen, Greise und Kinder, und da oben standen fremde Menschen – Halbpolen und Halbfranzosen und Halbengländer, und wußten selber nicht recht, was sie auf dem deutschen Bauernfriedhof wollten, über dessen Holzkreuze die scheidende Sonne in immer leuchtenderem, eigentümlich verklärendem Rot flammte, und waren doch in einer seltsamen und gesammelten Stimmung, namentlich Maurice Bürk, den als Pariser die Nähe von Gräbern immer besonders ergriff. Auch auf Augustus von Rhenus' leidenschaftslosem Antlitz lag ein britisch-korrekter, andächtiger Zug, und Onkel Paulusche schaute düster darein, und der Rittmeister machte ein ernstes Gesicht und unterhielt sich nur flüsternd mit seiner Frau und mit Lizzie von Hafner, der, wie sie unmutig und gedämpft murmelte, die ganze Geschichte schon ein Graus war.

So war man bis zum Ende des Gottesackers gekommen, da war noch einmal eine Ruhestätte der Familie Burck, ein großes Kreuz in der Mitte, auf dem stand: »Hier lieg' ich in Gottes Garten – und tu auf meine Familie warten« – und die kam schon. Eine Inschrift daneben besagte, daß hier der ehrengeachtete Jüngling Blasius an der Seite seines Vaters ruhe, und auf der anderen Seite war ein winziges, frisches Grab ausgeschaufelt. Da sollte heute abend noch ein Kind hinein. Es hatte überhaupt nur ein paar Stunden gelebt, sagte der alte Totengräber.

Barbara hörte ihm kaum zu. Sie war in einer verträumten, in sich gekehrten Versunkenheit, in der ihr das alles neu war, der kleine, von blühenden Blumen überwucherte Gottesacker, das weiße Kirchlein, das grüne Tal und der blaue Himmel über den hohen Bergen wie ein Land der Sehnsucht erschien, das gar nicht wirklich vorhanden war, in das man auch gar nicht hineingehörte und das einen doch so altvertraut anmutete, als sei man doch schon einmal vor langer, langer Zeit in ihm gewesen. Aber nicht allein. Sie fühlte, daß diese ganze Stimmung mit Robert Burck zusammenhing, der neben ihr stand und an ihrer Seite blieb, auch als sie jetzt alle den Kirchhof verließen.

Und später, am Abend, kurz ehe man heimfuhr, fand er noch einmal Gelegenheit, sie unter vier Augen zu sprechen. Sie waren einen Feldweg vor das Dorf hinausgegangen. Die Nacht überschattete schon stärker und stärker das Land – hoch oben, über den schwarzen, zackigen Tannenkämmen der Berge stieg der Mond auf, und ihm gegenüber, drüben über der unsichtbar nahen Rheinebene, stand ein einzelner Stern, der Abendstern, unruhig funkelnd am Himmel. Ein leiser Wind hatte sich erhoben. Er brachte von den Halden herunter den köstlichen Geruch des frischtrocknenden Heues. Um sie herum wurde es kühl. Dichte weiße Nebel stiegen aus den Wiesen, in den Bauernhöfen blinkten da und dort freundlich durch das Zwielicht die ersten verstreuten Feuerpünktchen auf, und vielstimmig knarrten und quakten aus allen Tümpeln die Frösche durch die Stille der Nacht.

Sie hatten eine Zeitlang geschwiegen. Dann sagte Robert halblaut: »Ja! Hier ist es schön! Das ist anders, als von wo ich komme – der Rauch und Nebel in London und in Liverpool . . . hm . . . was hilft's . . . Man muß doch wieder in die Tretmühle zurück! . . . 's ist auch ganz gut so! Das hier ist verzaubertes Land! Das ist nicht zum Wohnen! Da wirft man einen Blick hinein und geht weiter. Barbara! Mittags mache ich meinen Abschiedsbesuch.«

»Und wohin gehst du dann?«

»Ein bißchen in die Schweiz!«

»Da könntest du wahrhaftig auch in Baden-Baden bleiben.«

Sie sagte das unwillkürlich so ärgerlich, daß er sie erstaunt ansah. Dann meinte er langsam: »Ich könnt' es natürlich, wenn ich irgendeinen vernünftigen Grund dafür hätte . . .«

Sie kämpfte eine Sekunde mit sich, dann versetzte sie trotzig: »Es ist doch schade – nun hat man sich endlich einmal kennengelernt – und ehe man etwas voneinander hat, muß man schon wieder voneinander und sieht sich Gott weiß wann mal wieder . . .«

Er nickte, so als hätte er dasselbe schon die ganze Zeit gedacht. »Gewiß . . . gewiß . . .«, sagte er und sah sie an. Sie schlug vor dem Blick die Augen nieder.

Und er fragte: »Also – dir wäre es recht, Barbara, wenn ich nicht gleich weiterreise?«

»Bleib doch in Gottes Namen noch ein bißchen!«

»Ja. Gern.«

Das sagte er laut und kräftig. Aber dann dämpfte er wieder, während sie umkehrten und sich auf den Heimweg machten, seine Stimme: »Die Sache ist nur die, Barbara: Wenn ich schon hier sitzenbleib', dann müssen wir uns auch sehen! Sonst hat das doch gar leinen Zweck!«

»Du kannst doch zu uns kommen!«

»Aber nicht zu oft! . . . Denk an den Spruch: ›Bist du wo gut aufgenommen . . .‹« Er lachte. »Und deine Mutter ist mir gar nicht grün! Das hab' ich schon lange bemerkt . . . Sie hat so eine eindringliche Art, einem das zu Gemüt zu führen . . .«

Barbara zuckte die Achseln über ihre Mutter und schwieg. Und er beharrte: »Und überhaupt . . . wenn man da so im Familienkreis herumsitzt und schwatzt, was hat man davon? Und wir wollen uns lieber sonstwo einmal treffen . . .«

Jetzt zögerte sie. Sie hatte auf einmal nachträglich Angst. Er bemerkte das und fuhr fort: »Herrgott . . . wir sind doch Vetter und Kusine . . . da ist doch nichts dabei . . .« Und da sie immer noch zauderte, setzte er hinzu: »Denn für nichts und wieder nichts mein bißchen schwer erkaufte freie Zeit in dem teuren Baden-Baden vertun, das gibst du doch zu, Barbara, das wäre eine Grausamkeit, das von mir zu verlangen . . .«

Nun nickte sie und sagte gepreßt: »Zum Beispiel, ich geh' nachmittags um vier immer zum Tennis. Weißt du, wo der Platz ist?«

Aus der Ferne rief es nach ihnen zur Abfahrt. Sie nickten sich noch einmal schnell zu. Dann mußten sie sich trennen und sahen sich diesen Abend nicht mehr.

 


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