Charlot Strasser
Reisenovellen aus Russland und Japan
Charlot Strasser

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Der Gefangenentransport,
die Schamanan
und
die Elefantenbändigerin

(1906)

Wenn ich meine Erlebnisse in Ssamara im gleichen Kapitel mit denen aus Sibirien zusammenbringe, geschieht es, weil ich die Erinnerung an Kiryll und Ada nicht vermengen wollte mit den regnerischen, aber doch so freundlichen Tagen in Ssamara.

Wir hatten, dank der Sandbank, den sibirischen Express verfehlt und waren gezwungen, drei Tage in einer russischen Provinzstadt zu sitzen, die trotz ihrer hunderttausend Einwohner einem dürftigen Dorfe glich.

Es war Sonntag, und mein Reisegenosse schlug vor, in die deutsche lutherische Kirche zu gehen. Ich will uns nicht frömmer hinstellen als wir waren, – mein Reisegenosse bezweckte durch diesen Kirchenbesuch lediglich, irgend einen ihm sympathisch aussehenden Deutschen um einige Auskünfte über Ssamara anzusprechen. Ich muss aber ganz ehrlich gestehen, dass ich selten schönere Worte gehört habe über das Kapitel der Liebe, wie dort in Ssamara, von der Kanzel des baltischen Pastors Baron Engelhardt.

Unter die artigsten Bekanntschaften aus dem Zarenlande reihe ich den jungen Deutschrussen, einen einfachen Apothekergehilfen, welchen mein Reisegenosse nach der Predigt vor der Kirchentüre stellte. Er fragte ihn, ob die Eisenbahnbillette auch im Voraus gelöst werden müssten. Der Balte gab brummig, misstrauisch Antwort und ging so bald wie möglich seiner Wege. Wir waren nicht wenig erstaunt, als er nach einer Stunde uns im Hotel aufsuchte, erzählte, dass er auf dem weit entfernten Bahnhofe 42 gewesen sei und uns ganz genauen Bescheid geben könne. Von Stund an widmete er uns alle freie Zeit, noch mehr, lud uns auf seine Junggesellenbude zu einem opulenten Mahle ein und brachte zum Abschied in den Bahnwagen nicht nur eine mächtige Flasche Rotweins, sondern sogar sein weißseidenes russisches Hemd, das er mir zum Andenken mitgab, weil ich es am Tage zuvor an ihm so kleidsam gefunden hatte. Seinen Namen aber konnten wir nicht ausfindig machen. Er wollte ihn um keinen Preis nennen.

Das Leben in solcher Provinzstadt, wie Ssamara, entbehrt jeder äusseren Anregung. Man denke sich zurück in ein Dorf des Mittelalters, in das man elende Anklänge an den Luxus der Weltstadt von heute gebracht hat. Die Häuser sind aus Holz und einstöckig; die Strassenpflaster mehr Löcher als Steine; eine Kanalisation meist noch nicht vorhanden. Vertiefungen, kaum Gräben zu nennen, rechts und links der Strassen, versehen den Dienst. Die Fußsteige sind dem Weg entlang gelegte Bretter.

Für den Handel mit den Wolgavölkern ist die Stadt natürlich sehr wichtig. Auch gibt es einige grosse Fabriken, unter welchen eine Bierbrauerei hervorragt. Das geistige Leben schien mir gleich null. Im Bädeker stand etwas von Musik, abends um die siebente Stunde im Sstrukowski-Garten. Wir steuerten auf den langentbehrten Genuss glückselig zu. Fürchterlich war aber der Effekt, den die Dilettantenstadtkapelle auf unsere Ohren machte, und ich schreibe eine energische Verdauungsstörung viel weniger dem vorzüglichen, gepressten Wolgakaviar zu, als diesen musikalischen Hors d'œuvres. 43

Aber eines in Russland gibt es, das über alles Leid und über alle Langeweile hinweghilft: Den summenden Samowar. Er fehlt in keinem Hotelzimmer, auf keinem Kontor, bei keinem Krämer, keinem Studenten, keinem Arbeiter und keinem Bettler. Und es lässt sich etwa gleicherweise, wie zu den knisternden Funken eines Kaminfeuers, träumen zu seinem stimmungsvollen Gesang und seinen tanzenden Rauchwolken. Dazu der köstliche Karawanentee, ein schwacher Zitronenduft und der Qualm einer Bogdanowzigarette, – vergessen ist die blutige Wirrnis, die ringsherum wütet.

Übrigens habe ich im Vorherigen meist nur über das berichtet, was ich von politischen Kämpfen und Schrecknissen selbst miterlebt hatte. Dennoch muss ich zugeben, dass man daraus eine falsche Vorstellung über das Leben in Russland sich bilden könnte. Es drängt sich auf dem Papier so sehr zusammen, was zeitlich, und örtlich besonders, unendlich weit auseinander lag. Wir machten uns ja niemals einen richtigen Begriff von der ungeheuren Ausdehnung des russischen Reiches und von der Winzigkeit der eng zusammengedrängten Spalte, wenn wir beim Morgenkaffee die Depeschen über die Unruhen in Russland lasen. Wir glaubten es auch damals in unserer Phantasie nach den russischen Studenten, die wir in der Heimat gesehen hatten, und nach den meist sensationell gefärbten Zeitungsberichten kolorieren zu müssen und konnten doch weder die Studenten, noch die Meldungen verstehen, bis wir nicht die schrecklichen Bilder in unfassbaren, unbegrenzten, herrlich freien Weiten hatten verblassen sehen. Alles war so eigenartig und neu, so ganz verschieden von dem, was wir im Westen Europas erlebt hatten, dass ich 44 mich geradezu schämte, mit solcher Positivität früher über die Lage in Russland gesprochen zu haben. Es mag sein, dass die Eigenart des Zarenreiches zum Teil nichts anderes war, als ein Zeichen seiner primitiven Entwicklung, seines mittelalterlichen Aussehens, aber seine Eigenart besteht doch mehr noch darin, dass nirgends die individuelle Freiheit so gross ist wie hier. Nicht die politische, ja nicht, – aber die des Einzelnen, sei es nun des Armen und Schwachen oder des durch Geld, Geburt und Wissen Mächtigen. Es ist so ungeheuer viel Raum im Reussenland. Die Kleinlichkeit des spiessbürgerlichen Denkens verliert sich in diesen unbeschränkten Gebieten. Und eben das war es, was mir die schwulstigen Reden der russischen Studenten mit einem Male begreiflich machte, und ebenso ihren Stolz und ihre bis zur anarchistischen Weltanschauung sich verlierenden Prinzipien. Es gibt in Russland Möglichkeiten, die für unsere Verhältnisse undenkbar sind.

* * *

Nachdem wir von Pontius zu Pilatus gelaufen waren, das heisst von unserem Apothekergehilfen zu einem Arzte, der uns eine Empfehlung an einen Freund des Stationvorstandes geben konnte, weil er diesen Freund gerade behandelte, und nachdem wir von besagtem Freund des Stationsvorstandes uns einen langen Brief an den Bahnhofsbeherrscher selbst geholt hatten, war uns von diesem garantiert worden, dass wir einen Platz im nächsten sibirischen Expresszuge bekommen sollten. Wir atmeten auf, bekamen den Platz und fuhren dem Uralgebirge, Sibirien und Asien zu.

Sechs Tage und sieben Nächte ununterbrochene Eisenbahnfahrt von Ssamara bis Irkutsk. Mitten durch 45 das Reich, von dem in unseren Zeitungen zu lesen stand, dass Mord und Greuel darin geschahen, dass Gesetz und Sitte zerstört und dass Revolution und blutiger Terrorismus herrschten. Und als wir durchreisten, waren wir erstaunt, so wenig davon zu bemerken. Sechs Tage und sieben Nächte durch endlose Ebenen, durch grüne Felder, durch dunkle Wälder, durch weite Öden, – und war noch nicht einmal ein grosser Teil des Landes.

Wir befinden uns mitten im westeuropäischen Luxus, sicher, nein, fast so sicher wie zu Hause, und gleiten dahin in den prächtigen, russischen Wagen, als sollen wir systematisch zum sorgenlosen Nichtstun erzogen werden. Ein einziges fehlt während der ganzen Woche solchen Fahrens, – die Bewegung. Aber an den Stationen rennt man hinaus auf den Bahnsteig, und männiglich beginnt mit grotesken Schritten auszugreifen, mit den Armen schwedische Gymnastik zu treiben und die Glieder gelenk zu machen nach langem, steifem Sitzen.

Und bunte Bilder auf den Bahnhöfen: Soldaten, schmutzig, in Fetzen, aus der Mandschurei nach Hause kommend, – Prügelszenen zwischen chinesischen Händlern und betrogenen Kirgisen, wobei der unter dem Filzhut aufgewickelte Zopf herunterrollt und Blut aus Nase und Mund strömt, – bettelnde Tscherkessenjungen, mit riesigen weissen Pelzmützen, mit Siebenmeilenstiefeln, und endlich zerlumpte Bauern und Bauernweiber in unbeschreiblichen Schmutz- und Farbenskalen.

Das handelt, feilscht, bettelt und freut sich seines armseligen Lebens.

Dann wieder die Fahrt durch endlose Ebenen, endlose Wälder, unter endlosem Himmel. 46

Ein Gedanke aber kehrt immer wieder in all dem Unbegrenzten! Die Bewunderung für Männer, die solches Menschenwerk zu Ende geführt haben, einen Vierteil des Erdumfanges in eiserne Fesseln zu legen, zehntausend Kilometer weit eine Bahn zu bauen und eine Welt zu erschliessen, da Milliarden von Menschen noch im Überfluss Platz finden werden.

Hätte doch Stephenson die Reise mit uns machen können!

* * *

Ein Chuligan hat von draussen durchs Fenster hereingeschossen, gerade, wie wir im Speisewagen sassen und uns Glasscherben in die Suppe gebrockt.

Sonst ist weiter nichts geschehen, als dass der Zug ein paar Stunden liegen blieb, weil eine hochnotpeinliche Untersuchung angestellt wurde. Da ging ich hinaus ins Dorf, – ein Pferd war ohne Mühe zu bekommen, – und ritt über das Meer der herbstlichen Felder, wohl so in der Mitte der Ebenen zwischen den Strömen Ob und Jenissei. Und als die Sonne unterging, – davon möchte ich lieber in Versen reden:

– – – und dann Sibiriens Sonne! Lange spannte
ein schwarzer Wolkenarm den grauen Flor,
bis auch die Wolke selbst in Flammen brannte.

Jetzt schleichen lange, blaue Schatten hin,
endlos, die Felder durch und Birkenwälder,
und haschen sich und ducken sich und fliehn.

Nun sinkt die Sonne in die tiefsten Ketten
der Wolken ein und Funken sprühen hoch
am Himmel auf, die Welt in Glut zu betten. 47

Und leise wird das Dunkel, fern und still.
Ein letztes Leuchten durch die Gräserdolden,
als ob das Licht die Erde segnen will. – –

* * *

Als ich zum Bahnhof kam, war es Nacht. Ein neuer Zug stand neben dem unsrigen, schwarz, mit wenigen hellen Fenstern, und als ich näher hinzutrat, sah ich die eisernen Gitter. Soldaten schritten auf und ab, mit geladenem Gewehr und aufgepflanztem Bajonett.

Ich schaue in die Wagen hinein: Einige flackernde Kerzen zu bleichen, bleichen Gesichtern. Sie drängen sich an die Gitter und starren hinaus in Dunkel und Freiheit.

Politische Gefangene!

Kleine Kinder sind mit in den Wagen; die ganze Familie zieht aus in die Verbannung; die Kleinen fangen an zu singen, und von dünnen, feinen Stimmen klingt die ins Russische übersetzte Marseillaise durch die erschrockene Nacht. Ein junger Mann steht von seinem Schragen auf und fährt mit den Händen über der Kinder Locken. Von seinen Armen klirren die Ketten in den Gesang. Ein stolzer junger Mann, mit stolzem, willensstarken Gesicht. Ich kann nichts für ihn tun, als ihm ein paar Zigaretten hinwerfen, und schon droht mir der wachende Kosake.

Und eine Studentin sitzt an einem andern Gitter, den Kopf in die Hände gestützt, – schwarze, kurze Locken fallen über die weisse Stirne, – schwarze, zusammengezogene Brauen werfen dunkle Schatten um die dunklen Augen. Und der feine Mund hat bittere Falten. Ob sie wohl nachdenkt, weshalb sie büssen muss? Hat sie aus Rachsucht ein Verbrechen 48 begangen, aus Leichtsinn, aus irgend einem niedrigen Motiv? Hat sie denn nicht nur um ein Ideal gestritten, um ihren Glauben, um die Erlösung ihres Vaterlandes? Und hat ihr Leben zerstört und hingeworfen!

Langsam rollen die Räder des Zuges, weiter hinein nach Sibirien, – und wie ein furchtbarer Hohn klingt das begonnene Lied der Kettenbelasteten in die Nacht, – das Lied auf die Freiheit Russlands!

* * *

So angenehm auch die Reiserei im sibirischen Express war, in dem man schliesslich lebte, wie in einer grossen Familienpension, so sehr freute ich mich doch, wieder einmal nicht rollenden Boden unter den Füssen zu haben und in einem richtigen, wenn zwar im wilden Osten auch recht wild belebten Bette zu schlafen.

Ich will nun nicht des Breiten erzählen, was Bädeker von Irkutsk zu sagen weiss. Im Grunde gleicht es einem riesigen Dorfe, in dessen Strassenkot man ohne überkniehohe Stiefel unrettbar versinken muss. Lieber Strassenkot, wie danke ich dir, dass du so tief warst, dass mein Iswoschtschik, mein Kutscher, welcher wie rasend auf die Pferde einhieb, darin stecken blieb und ein kleiner Kirgisenjunge, der aber, wie sich später herausstellte, den sehr burjatischen Namen Dschjanka trug, mit uns kollidierte. Die Bekanntschaft machte sich folgendermassen: Mein Kutscher und ich steckten tief im Dreck und konnten nicht vor- noch rückwärts. Das war aber hart an einer Hausecke, und als ein Kirgisenjunge, in hellem Galopp in unsere Strasse einbiegend, uns in unserer Bedrängnis wahrnahm, war das Unglück schon geschehen. Er konnte sein Pony nicht mehr zurückhalten und prallte mit grosser 49 Gewalt auf unseren Wagen. Das Pferd stürzte, der Junge fiel in den Schmutz und krabbelte verzweifelt darin herum, aus einer Stirnwunde heftig blutend. Ein Taschentuch tat den Dienst einer Binde; mein Kutscher hatte unterdes den Karren herausgebuddelt; wir fuhren weiter. Der Kirgisenjunge wusste erst nicht, wie ihm geschehen war, schaute mir sehr lange nach, schrie dann etwas, folgte auf seinem über und über mit Lehm bedeckten Pony hinter mir her. Ich kehrte ins Hotel zurück. Nachmittags gegen vier Uhr kam mein Traktirschtschik, mein Gastwirt mit sehr verlegenem Gesicht und meldete, es seien da Bauern draussen, die mich sprechen wollten. Sie wurden natürlich vorgelassen und erwiesen sich als Dschjanka, der Kirgisenjunge, und dessen Vater, der sich für das Taschentuch bedanken wollte und fragte, ob er es wirklich behalten dürfe. Bis ich aber alles verstanden hatte, was er wollte, war viel Zeit vergangen, denn seine Sprache war nichts weniger als russisch, – ich konnte übrigens nicht erfahren, wie die Idiome der Kirgisen und anderer Nomadenvölker da draussen genannt werden, – es muss aber ein Gemisch von mongolisch und russisch sein. Kurz, ich sicherte dem edlen Kirgisenvater den Besitz des Taschentuches und benutzte die Gelegenheit, zu erkunden, ob es möglich wäre, einmal in solch Kirgisenlager mitgenommen zu werden. Ja, es war möglich. Der Vater fühlte sich hochgeehrt durch die Nachfrage und lud mich mit stolzen Gebärden ein, am andern Tage in das vierzig Werst entfernte Lager mitzureiten.

Ich nahm an. So ein Ritt durch die ungeheure Ebene und Steppe hat etwas einzig Grossartiges. Alle Gedanken werden weit und frei in dir, sie fliegen 50 empor, hinaus über den unbegrenzten Horizont und lassen die täglichen kleinen Kämpfe des Lebens, unseres zivilisierten, europäischen Kulturlebens, vergessen. Es ist einer der seligsten Zustände, aller Bedürfnisse ledig, im Vollbewusstsein seiner Kraft und Gesundheit, ins Unbekannte, Wunderbare zu reiten!

Die Kirgisen sind, wie die Tungusen und weiter östlich und nördlich die Ostjaken und Samojeden, nomadisierende Völkerstämme mongolischer Abstammung und im wahren Sinne des Wortes Halbwilde. Von den Russen ist ihnen das orthodoxe Christentum aufgezwungen worden; die meisten sind aber in Wahrheit Buddhisten oder Fetischanbeter. Heiden! (Wie schlecht das Wort doch auf die Buddhisten passt!) Gegen Abend näherten wir uns – wir waren unserer zwölf Kirgisen, mein russischer Begleiter und ich, mittags in Irkutsk aufgebrochen – dem grossen Lager. Schon eine Stunde vorher waren wir an grossen Pferdescharen vorbeigekommen, auch zweimal an Kameelsherden, an jenen kostbaren Lasttieren vorbei, die zwischen ihren zwei Höckern die beste unter allen Teesorten, den Karawanentee, auf dem Landwege nach Russland und von da, wenn etwas übrig bleibt, ins westliche Europa hinübervermitteln. Dann tauchten kleine, runde Hügel vor uns auf, weit in der Ferne, wie Maulwurfshügel, und in der Nähe entpuppten sie sich als mit Rasenstücken und Rinderfellen bedeckte Hütten des Kirgisendorfes. Das wandernde Völklein, das hier zusammenwohnte – es waren an hundertfünfzig Männer, Frauen und Kinder, – rannte natürlich von allen Seiten zusammen und staunte mich an wie ein Wundertier. Sie befühlten den Stoff meines Anzugs, fuhren mir in die Taschen, um zu sehen, wie das 51 genäht sei, aber keiner von ihnen stahl oder bettelte. Darin unterschieden sie sich von den Bauern. Mein russischer Begleiter konnte kaum Atem schöpfen, so musste er dem Fragesturm, der seinet- und meinetwegen anhub, entgegenstehen.

Im übrigen waren sie sehr hässlich diese Kirgisen, aber das Orientalische und Verhudelte ihrer ungeschlachten Kleidungsstücke machte sich doch malerisch. Das offizielle Gastrecht sicherte man uns in der Hütte des Ältesten zu. Dort nämlich wurde feierlich niedergehockt und Brüderschaft getrunken mit Kumyss, gegorener Stutenmilch, ähnlich dem in Medizinerkreisen so sehr beliebten Kefir. Ich kann nicht behaupten, dass es gut geschmeckt habe. Abends wurde zu meinen Ehren ein grosses Tanzfest veranstaltet, wobei der Wodka, das Wässerchen, in Strömen über die Gurgeln floss und Hammelfleisch am Spiess gebraten wurde, was alles erst ein Ende nahm, als die Sterne am ungeheuer weiten, dunkelblauen Himmel verblichen. Der Morgen brachte eine erwünschte Überraschung. Etwa zwanzig Werst entfernt vom Kirgisenlager hatte ein wandernder Burjatenstamm seine Erdlöcher gegraben und nun Gesandte zu den Kirgisen herübergeschickt, die verhandeln sollten, dass man sich nicht gegenseitig ins Gehege kommen wolle mit den Weidegründen und um heimlich mitzuteilen (denn die Fetischgottesdienste mit Pferdeopfer und Bluttrinken wurden von der russischen Regierung, wenn sie davon Wind bekam, schwer geahndet), dass heute abend von den Schamanen geopfert würde. Sieben von unsern kirgisischen Gastwirten wollten denn auch das Heil im Götzendienste versuchen, und, da wir ihr Vertrauen gewonnen hatten, mein Begleiterdolmetscher 52 und ich, ritten wir gegen Mittag los, um im spätern Nachmittag wieder die Maulwurfshügel, alias Sommerzelte der Burjaten, vor uns zu sehen. Sie waren wesentlich niedriger als bei den Kirgisen und ganz mit Rasen bedeckt, dafür aber ziemlich tief in die Erde eingegraben. Wir wurden zuerst vom Häuptling oder Bürgermeister, oder wie man ihn nennen will, in grosser Audienz empfangen. Alsbald setzte man uns auch einen Topf ihrer Lieblingsspeise vor. Was es war, möge niemand fragen, »noch Wissen Wünsche tragen,« – ich erfuhr nur nachher, dass das Gericht mit dem berühmten Ziegelsteintee angemacht worden war, was da heissen will: Man nehme die schlechtesten Abfälle bei der Teeernte, werfe sie in eine Flüssigkeit, die aus Rinderblut besteht, und lasse das Gemisch zusammenpressen, bis es zu einer schwarzen, ziegelsteinharten Masse wird. Alsdann gehe man zu den Burjaten und lasse sich ihr Lieblingsgericht vorsetzen, in dem der Teeziegelstein wieder mehr oder weniger aufgelöst, mit Fleisch und anderen Dingen vermischt, sich befindet. Man fahre mit der fünffingerigen Gabel in die Brühe und definiere, wenn sie herausgezogen, was daran klebt. – Ich fand, ausser einem schokoladebraunen Geschmier verschiedene Abarten von Küchenschaben und Kakerlaken daran haften, wie anderes Ungeziefer mehr. Lieber war es mir dann schon, als ganz insgeheim zum Schamanengottesdienst gerufen wurde. Auf einem sorgfältig abgegrenzten, kreisrunden Platz, der weit in der Runde mit Wachen umstellt war, standen die Männer des Stammes. Der Kultus, dem sie huldigten, ist ein heidnischer und wird von den schon erwähnten Schamanen, dazu erkorenen Priesterfamilien, ausgeübt. Diese Schamanen 53 sind aufs Bizarrste geputzt, mit Amuletten, Vogelfedern und bunten Lappen über und über behängt, und ihr Kult besteht in dem kunstgerechten Opfern eines Pferdes, dem Verteilen des Pferdeblutes an die anwesenden Gläubigen, die dazu in ein infernalisches Geheul ausbrechen, und einem wahnsinnigen Wirbeltanz, einem heulenden Derwischgetobe um ein oder mehrere kleine, primitive Götzenbilder herum, bis die Kräfte nachlassen, weisser Schaum vor die Lippen tritt, und die ganze andächtige Gemeinde aufs Neue in ein fürchterliches Geheul ausbricht. Ich war doch froh, als wir am nächsten Morgen wieder hinaus in die unbegrenzte Ebene ritten, ohne Weg noch Steg, immer der Kompassnadel entlang und der Karte, und des Abends, nach anstrengendem Ritt, Irkutsk, mehr um des Glückes, als um des Verstandes willen, fanden.

Irkutsk spiegelt sich in der klaren, reissenden Angara, die aus dem Baikalsee strömt und von einer langen Schiffsbrücke überführt ist. Die Stadt wirkt bunt und überraschungsreich, ein Atelier aus der Bohème, was man von den meisten russischen und sibirischen Städten behaupten kann, da sie in ihrer Primitivität etwas Improvisiertes, eine herrliche Freiheit und Nonchalance haben, und das freudige Allerlei wird durch den Brauch, die Hausdächer mit grüner oder blauer Ölfarbe anzustreichen, noch erhöht. Ein Teil der Stadt liegt auf einem Hochplateau, und als ich eines Tages da hinaufkletterte, um weit über die Hütten und die Angara in die unendliche Ebene mich zurückzusehnen, entdeckte ich das Kleinod der Stadt, einen Friedhof, eine Wildnis von alten verfallenen Grabsteinen, von hölzernen 54 Andreaskreuzen, an denen verblichene Bilder der Verstorbenen angebracht waren, hohe, uralte Föhren, vermischt mit einigen kümmerlichen Cypressen, – und alles überwuchert von purpurroten Heiderosen. Ich hätte dort begraben sein mögen!

Nachdem ich einen Nachmittag unter den Blumen verträumt hatte, bot mir der Abend einen seltsamen Kontrast. Es hatte unterdessen ein Zirkus seine Zelte aufgeschlagen, gerade der Kasanschen Kathedrale gegenüber, und einen Zirkus in Sibirien durfte man sich auf keinen Fall entgehen lassen. Die ganze Hauptstadt sass darin, Offiziere und Soldaten, Herrschaften und Bauern, Gorodowois (Polizisten) und Vagabunden, deren es unheimlich viele gab, sowie aufgetakelte Damen der Gesellschaft, die sich schwer von denen der Halbwelt unterscheiden liessen. Aber alle lauschten und folgten sie andächtig den primitiven Genüssen, die da geboten wurden. Reiterkunststücke kaukasischer Kosaken! Mit riesigen Pelzmützen belastete Kerle, verwegene, aber nichts weniger als elegante Reiter, sitzen sicher, mit heraufgezogenen Knien, auf ganz hohen Sätteln, stehen im einen oder andern Bügel auf, lassen sich im schärfsten Galopp zur Erde nieder, heben Taschentücher und Ringe aus dem Sand. Weiter: Elephanten! Achttausend Kilometer mit der Bahn zur Zirkusvorstellung hergereiste Elephanten! Eine dicke über und über mit Brillanten besäte Elephantenbändigerin, auf die ich später noch einzutreten habe. Dergleichen Genüsse bot also der Zirkus.

Der Direktor feierte infolge solcher Leistungen auch, jedenfalls zum tausendstenmal, natürlich gerade sein fünfundzwanzigjähriges Jubiläum, und liess unermüdlich, wenn ihm der ohnehin nicht endenwollende 55 Applaus zu früh endigte, ein versilbertes Teeservice hereintragen, das Jubiläumsgeschenk seines Personals, das er mit erstaunt-erfreuter Miene entgegennahm. Dann war das Publikum überhaupt nicht mehr zu halten. Und als gar der jüngste Sohn des Direktors, ein vierjähriger Knirps, einige Purzelbäume machte, geriet sich das Publikum um ein Haar in die Haare, denn die Einen waren mitleidig ergriffen über die Evolutionen des kleinen Artisten, und schrien »dowolno! – genug! genug!« – während das den Andern gerade Spass machte und sie den mitleidigen Ruhestörern »tischsche! tischsche! ruhig!« – zuriefen.

Einen andern Abend war ich unter die Wohltätigen geraten, die für die Abgebrannten Irgendwo sich amüsierten. Wie vermeinte ich doch an einem Unterhaltungsabend der russischen Studentenkolonie zum Beispiel in Bern zu sein! Die übliche Schar festlich gekleideter Damen mit grossen Schleifen und Rosetten, – nicht abzuwehren mit ihren liebreizenden Offerten an Schokolade, Bonbons, Ansichtspostkarten und Blumen, und mit dem unabweisbaren Aufschlag und Verheissen der schwarzen, wunderbaren Augen. Dazu eine gute Theateraufführung, denn fast jeder Russe hat Talent, sei es nun im Leben oder auf der Bühne, sich dramatisch zu gebärden, – und ein begeistertes Publikum, das beim leisesten, politischen Schlager aus dem Häuschen geriet. So bunt, wie im Innern das Publikum aussah, so bunt waren auch seine Kleider. Da Einer im Frack und weisskarrierter Hose, mit mächtiger, roter Lavalière zur ausgeschnittenen Ballweste; dort Einer im Gehrock und Wasserstiefeln; ein Dritter im roten Arbeiterhemd; – Damen in Balltoilette, andere im Strassenkleid, wieder andere im 56 Touristenkostüm, – aber alle froh, mit wallenden Locken und meist interessanten Gesichtszügen, – war ich an einem Russenball in Bern, oder an einem Wohltätigkeitsfest im fernen Osten?

Wenn man nach solch spät in die Nacht dauernden Anlässen dann durch die Irkutskerstrassen schritt, so schien nicht alles geheurer, – es war viel die Rede von Raub und Mord, doch waren die Schuldigen nicht Revolutionäre, sondern Banditen, die sich die Machtlosigkeit der Regierung zu nutze machten. Wir hielten den Dolch bereit in der Manteltasche und waren schliesslich froh, als wir dem düstern Himmel Sibiriens entschlüpften und der aufgehenden Sonne entgegenfuhren, mit der imposanten Baikal-Umgehungsbahn über Tschita, Mandschuria, Charbin nach Wladiwostok.

* * *

Charbin, der Knotenpunkt, von dem aus die ostchinesische Bahn gegen Wladiwostok und die südchinesische gegen Mukden und Port Arthur sich wendet, ist durch den letzten Krieg wie ein Pilz nach dem Regen emporgewachsen.

Es schien, als ob an diesem Punkte der ganze Auswurf Westeuropas sich ein Stelldichein gegeben hatte, und dass alle die Laster der grossen Städte vor allem dazu geeignet seien, durch ihre gemeine Scheinlebenslust zu den traurigen Folgen des Krieges ein ekelerregendes Gegenbild hinzustellen. Der Schminke auf den Damen der Stadt wäre nicht zu wenig gewesen, sämtliche Bilder einer grossen Berliner Kunstausstellung zu übertünchen, während der Schmutz der zerlumpten, ihres Vaterlandes wegen 57 verkommenen Soldaten genügt haben würde, sämtliche Fürstensäle ihrer Herren für Jahrhunderte zu verpesten.

Statt alles weiteren Geredes eine kleine Episode: Seine Exzellenz, der kommandierende General, hatten seinen Salonwagen im selben Zuge, in dem auch ich die Ehre genoss, mitzufahren. Seine Exzellenz reisten zu einer kleinen Erholung nach Wladiwostok. Die ganze Generalität, die Stabs- und Gardeoffiziere, waren in mehr oder weniger sauberen Uniformen (der mehr oder weniger grossen Entfernung von zu Hause, den jeweiligen Schulden und dem Grad der Betrunkenheit entsprechend) am Bahnhof versammelt; die Damen und Halbdamen, die Hunde und Schosshunde der anwesenden Herren ebenfalls. Ein Transport leichtverwundeter und kranker Soldaten, die schon sechs Tage von Wladiwostok nach Charbin unterwegs waren, stellten die traurigen Statisten zum erwähnten, prunkvollen Aufzuge. Ein Unteroffizier, der die Hand in der Binde trug, und dessen Brust mit zwei Tapferkeits-, mit zwei silbernen Georgskreuzen, geschmückt war, trat ganz bescheiden und ängstlich zu einem der Offiziere, legte die gesunde Hand an die Mütze und schien in demütiger Haltung etwas zu melden. Ich konnte nur soviel verstehen, dass seine Leute tagsüber ihre Rationen nicht bekommen hätten und dass er um gütige Fürsorge bitte. Der Offizier, ein blutjunges, aber schon verschwommenes, hochnäsiges Gesicht, zuckte mit den Achseln, beugte sich über seinen Windhund und kraute ihn hinter den Ohren, drehte dem in Achtungstellung Stehenden des Rückens untere Hälfte zu und murmelte in sein bartloses Kinn etwas wie Bettelpack, griff dann aber, als täte er eine edle, grossmütige Tat, in die Tasche und gab dem 58 Soldaten, ohne sich wieder umzuwenden, wie man einem Kellner sein Trinkgeld gibt, dreissig Kopeken in die Hand. Der Unteroffizier schleuderte ihm die Münzen vor die Füsse, – der Offizier hetzte den Hund auf ihn, – unsere Lokomotive pfiff, zog an und, – ich will doch, bevor ich weiter erzähle, was dann vor sich ging, erwähnen, dass wir an einem Hospitalzug vorbeifuhren, durch dessen Fenster wir die elenden, bleichen Gesichter verwundeter Soldaten sahen, und dass wir ferner einem Transportzug begegneten, vollgepfercht mit aus dem Felde zurückkehrenden Kriegern, deren Schmutz sich nicht beschreiben lässt (sehr viele waren übrigens betrunken von ihnen, und mehr als einer lag um keines Kopfes Breite als Alkoholleiche von den Schienen entfernt, über die unser Zug fuhr) – also seine Exzellenz grüssten väterlich die in Charbin Zurückgebliebenen, schüttelten dann unwillig das Haupt über das Elend, an dem wir vorüberrollten, und wandten sich unverzüglich der Fräulein Elephantenbändigerin zu, um alle Sorgen in Sekt und auch in ihren muskulösen Armen zu vergessen. Wir hatten nämlich das Glück, mit dem Personal unseres Irkutskerzirkus mitzufahren und die besagte Elephantenbändigerin war der von allen umworbene Stern desselben, – ihr monatlicher Gehalt, so erzählte man sich flüsternd in den Seitengängen des Zuges, belief sich auf über viertausend Rubel und sie selbst prahlte oft und gern, dass die Schmucksachen, die sie auf sich trüge, und die sie in Charbin und Mukden von verliebten Offizieren erworben hätte, über zweihunderttausend Rubel wert seien. Die Summe war jedenfalls nicht stark übertrieben. Seine Exzellenz aber lachten wie ein gutgelauntes, sorgloses Kind, – Charbin, die verwundeten 59 und hungernden Soldaten lagen weit hinten, und lustig knallten die Champagnerpfropfen, perlte der Schaumwein. –

Das Leben sah damals aus, wie ein böse, pessimistische Satire. –

Derselbe General soll, wie man mir dann in Wladiwostok berichtete, acht Tage später bei einer Orgie im Palais des Gouverneurs das Todesurteil über fünfunddreissig chinesische Räuber, Tschungusen waren es, unterzeichnet haben, weil sie einen russischen Hauptmann überfallen und ausgeplündert hatten. Was sollte dem geschehen, der Hunderte und Hunderte vor seinen Augen verkommen sieht und keinen Finger für sie rührt, trotzdem es in seiner Macht läge, sondern die Rationen die ihnen zukommen, zu seinem Vorteil verkauft, den Sold, der für sie bestimmt ist, in die Tasche steckt, mit Dirnen und Elephantenbändigerinnen verprasst?

Diesen hier jagte nach Jahresfrist eine Bombe in die Luft.

 


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