Adalbert Stifter
Das alte Siegel
Adalbert Stifter

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Sie hatte ihn das vorige Mal gar nicht um seinen Namen oder etwa um andere Verhältnisse gefragt, sie that es auch heute nicht. Er aber erzählte ihr freiwillig, daß er ein fernes Haus auf sehr schöner grüner Halde habe, um die hohe Berge mit ehrwürdigen Häuptern stehen – er erzählte ihr von seiner Jugend, die er so vereinsamt verlebt habe, und in der er so glücklich gewesen sei, er erzählte ihr von seinem Vater, der ihn unterrichtet und mehr geliebt habe, als er verdiente, er erzählte ihr von dem Abschiede von diesem Vater, von dem Tode desselben, und von dem Schmerze, dem er sich über diesen Tod hingegeben habe. Von der Mutter könne er ihr wenig erzählen, er habe sie kaum gekannt, aber der Vater habe öfter von ihr gesagt, wie sie gut gewesen, und wie sie für sein Glück viel zu frühe gestorben sei – aus diesen Reden habe er sie auch lieben gelernt, und sei manchmal, nicht blos mit dem Vater, sondern auch allein zu dem Hügel Erde hin gegangen, unter dem ihre Glieder ruhten. Er erzählte ihr dann ferner, wie er in diese Stadt gekommen sei, wie er sich hier eingerichtet habe, womit er sich beschäftige, und was seine Absichten für die Zukunft seien. Von der Veranlassung, durch die er sie kennen gelernt, so wie überhaupt von dem, was darauf gefolgt ist, sagte er kein Wort.

Sie hörte ihm aufmerksam zu, hatte die Augen auf seine redenden Lippen geheftet, und in dem Angesichte war etwas, wie Rührung, oder beinahe, wie Wehmuth gezeichnet. Sie sagte ihm, sie könne ihn aus ihrem Herzen versichern, daß sie eben so einsam, vielleicht noch viel einsamer auf dieser Erde sei, als er. Sie habe bisher niemanden gehabt, der eine anhängende Neigung gegen sie bewiesen habe, außer Dienstboten, die ihr gut gewesen seien, ihm war ein Vater zur Seite gestanden, an den, wenn er ihn auch verloren habe, er sich erinnern könne. Sie habe nie jemanden gehabt. Jetzt kenne sie nur ihn. Sie habe ihn beim ersten Sehen gleich als gut erkannt, und als verschieden von allen andern. Und wie sie bemerkt habe, daß er auf sie schaue – und wie er vor der Kirchenthür gestanden sei, und wie sie erkannt habe, daß er nur darum da stehe, daß er einen Blick auf sie thun könne, so sei die außerordentlichste Freude in ihr Herz gekommen. Sie habe schwere, schwere Schicksale erlitten.

Beim Abschiede bat sie Hugo, sie möchte ihm ihre Hand reichen. Sie hatte schon damals, als er ihr in der einsamen Gasse das verlorne Blättchen darreichte, keine Handschuhe gehabt, später, da sie ihm aus dem schwarzen Aermel hervor zum ersten Male die Hand gab, hatte sie auch keine, und eben so hatte sie die beiden Male keine, da er sie besuchte. Sie reichte ihm die Hand, und wie er dieselbe in seine beiden faßte, herzlich drückte, und zum Kusse an seine Lippen führte, rannen reichliche Thränen über ihre Wangen herab.

Wie das erste Mal führte ihn das Mädchen durch die Vorzimmer hinaus, er ging die Treppe hinab, sah den alten Thürsteher, ging über den Sandweg des Gartens hinvor, und schritt durch das Eisengitter auf die Straße hinaus. Der Gegensatz des Alltäglichen mit dem, was er so eben erlebt hatte, drängte sich ihm auch heute auf. Sie war wieder sehr schön gewesen, und in dem schlanken zarten dunkelgrünen seidenen Kleide, das die kleinen Fältchen auf dem Busen hatte, sehr edel. Es war ihm, wie ein Räthsel, daß sich die Pracht dieser Glieder aus der unheimlichen Kleiderwolke gelöset habe, und daß sie vielleicht sein werden könne.

Er kam, wie es verabredet worden war, am dritten Tage nach diesem Besuche wieder. Es war, wie die beiden Male. Das Eisengitter war eingeklinkt, er öffnete es, ging über den Sandweg, sah den Pförtner sitzen, ging über die Treppe empor, fand das gewöhnliche Mädchen in den Vorzimmern, trat von diesen in die Wohnung ein, und fand dort sie. Sie empfing ihn jedes Mal, wie zu Anfangs, mit derselben Befangenheit. Ihre Kleider, wie sie auch wechselten, waren immer sehr rein, sehr schön und sehr einfach. Vorzüglich liebte sie Seide. Jedes Kleid schloß sich am Halse. Dann war, wie wir oben sagten, das Haupt mit den großen glänzenden Augen. Ihr Sinn für Reinheit erstreckte sich auch auf den Körper; denn das Haar, das sie einfach geordnet als einzige Zierde um das Antlitz trug, war so gänzlich rein gehalten, wie man es sehr selten finden wird. Auch die Hände und das Stückchen Arm, das etwa sichtbar wurde, waren rein und klar. Sie trug nie Handschuhe, an keinem Finger einen Ring, an dem schönen Arme, der sich, wenn die Aermel weit waren, am Knöchel zeigte, kein Armband, und auf dem ganzen Körper kein Stückchen Schmuck. Unter dem langen Schoße des Kleides, wie sie häufig die vornehmeren Stände haben, sah die Spitze eines sehr kleinen Fußes hervor.

Sie saßen, wenn Hugo kam, beisammen und sprachen. Sie lernten sich immer mehr kennen – und sie, die auf der Gasse eigentlich schon viel bekannter gewesen waren, waren im Zimmer viel schüchterner, viel fremder, und mußten das Geschäft gegenseitigen Erkennens beginnen. Wenn er fort ging, standen sie wohl im zweiten Zimmer, wo er sie zum ersten Male hier gesehen hatte, und wo der Marmortisch ist, eine Weile bei einander stille, hielten sich an den Händen, und wünschten sich dann eine recht freundliche gute Nacht.

Sie sprachen von verschiedenen Ereignissen des Tages. Am liebsten fragte sie ihn, was er in der Zeit, als sie ihn nicht gesehen, gethan habe. Er erzählte ihr mit der Unbefangenheit, die die Natur seines Wandels ihm eingab, wie er gelebt habe, wohin er gegangen sei, und was er in seiner Stube an seinen Arbeiten vollbracht habe. Sie horchte ihm bei diesen Schilderungen recht gerne, weil er vielleicht bei ihnen am reinsten und klarsten erschien. Einmal sagte sie ihm, sie habe ihn auf seinem Pferde gesehen, wie er durch die Stadt gegen das Freie hinaus geritten sei. Er erröthete heftig bei dieser Eröffnung; denn obwohl er sie in der Kirche und in jener einsamen Gasse gesehen, und auch gesprochen hatte, hatte er dieses fast vergessen, und konnte sich sie nur in dem Lindenhäuschen, nicht in der Stadt vorstellen, wie sie etwa gehe, oder fahre. Wenn sie so von seinen Arbeiten oder, wie man sie besser nennt, von seinen Vorübungen sprachen, geriethen sie nicht selten auf die Begebenheiten, die eben in jener Zeit vorfielen. Sie fragte ihn um seine Meinung, er setzte sie auseinander, und sie stimmten immer in ihren Ansichten überein. Vorzüglich hegte sie den Glauben und den Wunsch, daß die deutschen Waffen einmal sich vereinen, sich mit andern verstärken, schnell den Sieg und die Entscheidung erringen, und den goldenen sehnlich erwarteten Frieden herbei bringen möchten. Er sagte dann, daß er nicht blos den Wunsch habe, sondern, daß das ein Ereigniß sei, welches ganz gewiß eintreten müsse, daher er seine Lebensrichtung auf dasselbe allein genommen habe. Was sie sonst über die Dinge der Welt und der Menschen, über die Natur und ihre Schönheit sprachen, lautete bei beiden gleich oder ähnlich.

Obwohl er, seinem Versprechen getreu, nie um ihre Verhältnisse fragen zu wollen, sich auch die Frage nicht erlaubte, ob er denn nicht öfter, als nur jeden dritten Tag kommen dürfe, weil er diese Frage für eine verlarvte andere hielt, die das Wesen ihrer Verhältnisse berührte: so konnte er es sich doch nicht versagen, als sie wieder einmal Abschied nehmend bei einander standen, sich an den Händen hielten und sie ihn bat: »Kommen Sie doch nach drei Tagen wieder« – die Worte auszusprechen, daß es ihm eine sehr große Freude, ein Glück sein würde, wenn er nicht blos in drei Tagen, sondern öfter, ja täglich ihr Angesicht sehen und ihre Worte hören könnte.


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