Adalbert Stifter
Das alte Siegel
Adalbert Stifter

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Ob sie ihn auch beobachtete, wußte man nicht; aber wenn sie an seiner Stelle vorüber ging, schien es, als wäre es innerhalb der schwarzen Wolke unruhig.

Bisher war er nur an dem Thore der Kirche gestanden, und wenn nach der Messe, die täglich um zehn Uhr gehalten wurde, die letzte Beterin, die schwarze Gestalt mit ihrem grauen Mädchen heraus gekommen und vorüber war, ging er wieder nach Hause zu seinen Arbeiten. – Einmal aber, da sie langsam in gerader Richtung von dem Thore weg durch das andere Volk fort ging, ging er in sehr großer Entfernung hinter ihr her. Sie wandelte auf den großen sehr belebten Platz hinaus, ging durch das bunte Gewühl, ihren Weg verfolgend, hindurch, wendete sich in die noch belebtere Gasse, in welche der Platz seitwärts mündete, ging in derselben eine Strecke fort, und bog dann in eine zwar schöne und breite, aber sehr leblose Gasse ein, in welcher viele Palläste und große Häuser stehen, die aber schon anfingen sehr entvölkert zu sein, weil ihre Bewohner bereits das Landleben suchten. Die meisten Fenster waren zu, und hinter dem Glase hingen die ruhigen grauleinenen Vorhänge herab. Fast bis gegen die Mitte dieser Gasse folgte ihr Hugo, dann aber wendete er sich um, und ging nach Hause.

So wie er an diesem Tage gethan hatte, so that er nun an jedem der kommenden. Weit hinter ihr gehend folgte er ihr, wenn sie die Kirche verlassen hatte, und sah die schwarze Gestalt durch das Gewimmel des Platzes gehen, sah sie durch einen Theil der belebten Gasse schreiten, sah sie in die einsame einbiegen, folgte ihr beinahe bis in die Hälfte derselben, wendete sich dann um, und ging nach Hause.

Eines Tages, da sie in der einsamen Gasse ging, sah er, daß ihr ein weißes Blättchen entflatterte. Es war wie ein Bildchen, derlei man gerne in Gebetbücher zu legen pflegt. Weil in der Gasse schier keine Leute gingen, so blieb das von dem nachfolgenden Mädchen nicht bemerkte Blatt liegen, bis es Hugo erreichte, der seine Schritte darnach verdoppelte. Er hob es auf. Es war wirklich ein solches Bildchen. Er ging ihr nun schneller nach, bis er sie erreichte. Dann ging er ihr vor, zog seinen Hut, und sagte: »Mir scheint, Sie haben etwas verloren.«

Bei diesen Worten reichte er ihr das Blättchen hin.

Als sich aus den weiten schwarzen Falten die junge Hand hervor arbeitete, um das Blättchen zu empfangen, sah er, daß sie zitterte. Sie sagte noch die Worte: »Ich danke.«

Dann wendete sie sich zum Fortgehen, und Hugo kehrte um.

Er ging an den Häusern der vereinsamten Gasse zurück der oben beschriebenen lebhaften zu. Weit draußen rasselten die Wägen, als wären sie in großer Ferne.

Hugo ging nach Hause, und wie er in seiner Stube saß, war ihm, als sei heute der Inbegriff aller Dinge geschehen, und als sei er zu den größten Erwartungen dieses Lebens berechtigt.

Am andern Tage stand er wieder an dem Thore der Kirche von Sanct Peter. Die Messe war aus, die schwarze altfrauenhafte Gestalt ging heraus, und er sah sie an. Sie ging wieder ihres Weges, und Hugo folgte wieder von großer Ferne, und wendete wieder in der ersten Hälfte der einsamen Gasse um. So dauerte es längere Zeit.

Einmal aber nahm er sich den Muth – er ging schneller hinter ihr, ging ihr in der einsamen Gasse vor, und grüßte sie, indem er den Hut abnahm. Er sah, wie sie den Schleier ein wenig seitwärts zog und ihm dankte.

Dieses geschah nun öfter, und endlich alle Tage. Wenn Hugo in die einsame Gasse einbog, sah er deutlich, wie sie die geliebten Schritte hinter sich schallen hörte, daß sie zögere – und wenn er sie eingeholt und scheu gegrüßt hatte, so zog sie den Schleier empor, und ein sehr süßes Lächeln ging in ihrem Antlitze auf.

Eines Tages, da sie sich wieder grüßten, trat er versuchend etwas näher. Es schien ihr nicht zu mißfallen, sie verzögerte ihren Schritt, und das begleitende Mädchen blieb auch hinter ihr stehen. Er sprach einige Worte, er wußte nicht was – sie antwortete, man verstand es auch nicht: aber beide hatten sie ein neues Gut erworben, den Klang ihrer Stimmen, und dieses Gut trugen sie sich nach Hause.

Der ganze lange leere Tag war nun übrig.

Wie es das letzte Mal gewesen ist, wurde es nun alle künftigen Male. Eine verschleierte schwarzgekleidete alte Frau ging jeden Tages gegen eilf Uhr Vormittags aus der Kirche von Sanct Peter, sie ging über die belebten Plätze, sie bog in die einsame breite Straße der Palläste ein, und dort trat ein schöner Jüngling auf sie zu. Ihr Schleier legte sich zurück, und ein wunderhaft schönes Mädchenantlitz löste sich aus seinen Falten, um zu grüßen. Dann blieben sie bei einander stehen und redeten mit einander. Sie redeten von verschiedenen Dingen, meistens waren es die gewöhnlichen des Tages, von denen alle anderen Menschen auch reden. Dann grüßten sie noch einmal, und gingen auseinander.

Für Hugo war es eine neue Zeit. Ein Vorhang hatte sich entzwei gerissen, aber er sah noch nicht, was dahinter stand. Das blinde Leben hatte auf einmal ein schönes Auge aufgeschlagen – aber er verstand den Blick noch nicht.

Er arbeitete in seiner Stube. Der Tag hatte einen einzigen Augenblick: das Andere war die Vorbereitung dazu, und das Nachgefühl davon.

In dieser Zeit geschah es, daß sich dasjenige in Europa allgemach zu nähern begann, was vor wenig Jahren noch von vielen für eine Unmöglichkeit gehalten worden wäre, und woran manche Herzen doch glaubten, und sich darauf vorbereiteten. Die Anzeichen, daß ein Umschwung der Dinge bevorstehe, mehrten sich immer mehr und mehr. Die Stimmen, diese Vorboten der Thaten, änderten ihre Worte in Bezug auf das, was bisher immer gewesen ist, und wenn ein neuer Krieg, dessen Anzeichen immer deutlicher wurden, ausbrechen sollte, so war nicht zu verkennen, daß seine Natur eine ganz andere werden würde, als sie bisher immer gegenüber dem gefürchteten, allmächtigen und halb bewunderten Feinde war. Der Haß war sachte und allseitig heran geblüht, und die geschmähte Gottheit der Selbstständigkeit und des eigenen Werthes hob allgemach das starke Haupt empor. Es war damal eine große, eine ungeheuere Gemüthsbewegung in der Welt, eine einzige, in der alle anderen kleineren untersanken.

Als die Tage des Sommers vorrückten, lösete sich einmal bei einer der gewöhnlichen Begegnungen Hugos Herz und Zunge. Da die schwarzgekleidete Unbekannte ihren Schleier zurück geschlagen hatte, und grüßte, da man einige der gewöhnlichen Worte geredet hatte, sagte Hugo, daß er jetzt sehr wahrscheinlich nicht mehr lange in der Stadt bleiben werde; denn wenn, wie es den Anschein gewinne, ein neuer Krieg gegen den Landesfeind erklärt werden würde, so werde er in die Reihe der Krieger gegen denselben treten, und weil sich wahrscheinlich viele tausend Jünglinge insgeheim zu diesem Ziele vorbereitet haben würden, so sei es vielleicht möglich, daß man den Feind aus den Grenzen werfen und das Vaterland für immer befreien könne. Zu dieser That habe er sein Herz und sein Leben aufgespart. Er frage sie, ob sie ihm so gut sein könne, als er ihr es sei – sie möchte sich ihm doch einmal, einmal nennen, wer sie sei – – nein das brauche er nicht – sie möchte ihm nur sagen, ob sie unabhängig sei, ob sie, wenn sie ihn einmal näher kennen gelernt haben würde, ihm folgen und sein Loos mit ihm theilen möge – er werde ihr alles darlegen, wer er sei und woher er stamme – nur die That der Vaterlandsbefreiung habe er noch mit zu thun, sie könne ja so lange nicht dauern, weil viele hundert Tausende dazu beihelfen würden – er habe einen traulichen Sitz im fernen Gebirge, dorthin würden sie dann gehen. Oder wenn sie abhängig sei, wäre es denn nicht möglich, daß er zu ihrem Vater, zu ihren Angehörigen käme, sich bei ihnen auswiese, von ihnen kennen gelernt würde, und dann um sie bäte. Sei sie aber frei und ihre eigene Herrin, wäre er denn nicht würdig, ihr Haus zu betreten? Er meine es treu und gut; so lange er lebe, sei keine Faser an ihm gegen irgend einen Menschen falsch gewesen. Sie möchte nun, da er geredet habe, auch reden.


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