Adalbert Stifter
Die Mappe meines Urgroßvaters
Adalbert Stifter

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Welch' seltsame sonderbare Dinge! Da waren ganz unnütze Blätter, dann andere, auf denen nur ein paar Worte standen, oder ein Spruch – andere mit ausgestochenen Herzen und gemalten Flammen – meine eigenen Schönschreibbücher, ein papierner Handspiegel, von dem aber gerade das Spiegelglas herausgebrochen war – Rechnungen, Recepte, ein vergelbter Prozeß über eine Hutweide – dann unzählige Blätter mit längst verklungenen Liedern, Briefe mit längst ausgebrannter Liebe, nur die schön gemalten Schäfer standen noch am Rande und stellten sich dar – dann waren Schnitte für Kleider, die jetzt niemand mehr trägt, Rollen Packpapiers, in das nichts mehr gewickelt wird – auch unsere Kinderschulbücher waren da aufbewahrt, und das Innere der Deckel trug noch die Namen von uns allen Geschwistern; denn eines hatte sie von dem andern geerbt, und gleichsam als sei es das letzte und ewige, hatte es den Namen des Vorgängers mit fester Linie ausgestrichen, und den seinigen mit der großen Kinderschrift darunter gesetzt. Daneben standen die Jahreszahlen mit gelber, schwarzer und wieder gelber Dinte.

Als ich so diese Bücher heraus legte, und der Blätter, auf denen viel hundertmal die Kinderhände geruht haben mochten, sorgsam schonte, daß sie mir nicht auseinander fielen, kam ich auch auf ein anderes Buch, das diesen gar nicht glich, und von jemanden ganz andern herrühren mußte, als von einem Kinde. Durch Zufall lag es hier unter den Büchern der Kinder, aber es war von einem Greise, der längstens gelebt hatte, und der längstens schon in die Ewigkeit gegangen war. Das Buch bestand aus Pergament, hatte die Höhe von vier an einander gelegten Schulbüchern, und war eigentlich aus lauter ungebundenen Heften zusammen gelegt. Ich schlug sie auf, aber nichts war da, als die Seitenzahlen, mit starken Ziffern und rother Dinte hingemerkt, das übrige war weißes Pergament, nur von Außen mit dem gelben Rande des Alters umflossen. Im einzigen ersten Hefte war ungefähr die Dicke eines Daumens mit alter, breiter, verworrener Schrift besetzt, aber auch die Lesung dieser Worte war gleichsam verwehrt; denn immer je mehrere der so beschriebenen Blätter waren an den Gegenrändern mit einem Messer durchstochen, durch den Schnitt war ein Seidenband gezogen und dann zusammen gesiegelt. Wohl fünfzehn solcher Einsieglungen zeigte der Anfang des Buches. Die letzte leere Seite trug die Zahl achthundert fünfzig, und auf der ersten stand der Titel: »#Calcaria Doctoris Augustini tom. II.#«

Mir war das Ding sehr seltsam und räthselhaft, ich nahm mir vor, nicht nur das Buch in die Wohnung hinab zu tragen, und bei Gelegenheit die Blätter auf zu schneiden und zu lesen, sondern auch von den anderen Sachen dasjenige, was mir gefiele, zu nehmen und zu behalten; aber ehe ich dieses thäte, mußte noch etwas anderes ausgeführt werden; denn bei Herausholung dieser Pergamente war mir augenblicklich das alte Lederbuch eingefallen, in dem der Vater vor mehr als fünfundzwanzig Jahren immer gelesen hatte; ich dachte, daß dieses offenbar der erste Theil der Calcaria sein müßte, und wollte sehen, ob ich es nicht auch in diesen Dingen finden könnte. Das andere war aber nicht lose, sondern in dunkelrothem Leder gebunden und mit messingenen Spangen versehen gewesen, was uns Kindern immer so sehr gefallen hatte. Ich nahm nun Blatt für Blatt, Bündel für Bündel heraus, löste alles auf, und durchforschte es; allein ich gelangte endlich auf den Boden der Truhe, ohne das Gesuchte zu finden. Aber als ich alles wieder hineingelegt hatte, als ich den Knecht rufen wollte, daß er mir die Truhe sammt den Papieren in mein Zimmer hinabtragen helfe, und als ich sie zu diesem Zwecke ein wenig näher an das Licht rückte, hörte ich etwas fallen – und siehe, es war das gesuchte Buch, das an der hintern Wand der Truhe gelehnt hatte und von mir nicht bemerkt worden war. Tiefer Staub und Spinnenweben umhüllten es – der Vater, den ich noch so deutlich vor mir sitzen sehe, als wäre es gestern gewesen, modert nun schon ein Vierteljahrhundert in der Erde – tausendmal hatte ich die Mutter um das Lederbuch gefragt, sie wußte es nicht, und sie hatte vergebens oft das ganze Haus darnach durchforscht. Wer mag es hieher gelehnt, und auf ewig vergessen haben?

Ohne nun die Einsamkeit des Bodens zu verlassen, da mich unten niemand vermißte, und gewiß alle in ihre Gespräche vertieft sein mochten, nahm ich das Buch vor, ich reinigte es zuerst ein wenig von dem schändenden Staube, der wohlbekannte rothe Deckel kam zum Vorscheine, ich drückte an die Federn, mit veraltetem Krachen sprangen die Spangen, die Deckel legten sich um und ich sah hinein. Das ganze Pergament war beschrieben, die rothen Seitenzahlen liefen durch das Buch, aber hier nur bis auf fünfhundertundzwanzig, es war dieselbe alte, breite, verworrene Schrift, schlecht aus lateinischen und deutschen Buchstaben gemischt, dieselbe seltsame Feßlung der Blätter mußte auch hier statt gehabt haben, aber gelöst worden sein; denn an allen Rändern war deutlich der gewesene Messerschnitt sichtbar, und als ich das erste Blatt umschlug, stand der Titel: »#Calcaria Doctoris Augustini tom. I.#« – Ich blätterte vorne, ich blätterte hinten, ich schlug hier auf und dort auf, überall dieselbe Schrift mit den starken Schattenstrichen und den in einander fließenden Buchstaben, und die ganzen großen Pergamentblätter waren von oben bis unten voll geschrieben. Aber auch etwas anderes kam zum Vorscheine: ich fand nemlich viele zerstreute Blätter und Hefte in dem Buche liegen, die sämmtlich die Handschrift meines verstorbenen Vaters trugen. Ich sah sie näher an und dachte mir: also darum war nichts von ihm in der Truhe zu finden gewesen, weil er alles hieher gelegt hatte und weil alles vergessen worden war.

Bevor ich in dem Buche las, wollte ich eher diese Dinge des Vaters anschauen, Blatt nach Blatt ging durch meine Hände, da waren Lieder, ferner Bemerkungen und Abhandlungen – auch ein Mährchen war da – Erzählungen aus seinem Leben – Worte an uns Kinder – ferner ein morsches zerfallendes Kalenderblatt, darauf mit zerflossener entfärbter Dinte geschrieben stand: »Heute mit Gottes Segen mein geliebter erster Sohn geboren.« – – Ich las in Vielem und es däuchte mir, das Herz, dem ich zwanzig Jahre nachgejagt hatte, sei gefunden: es ist das meines Vaters, der vor Langem gestorben war. Ich nahm mir vor, von diesen Schriften der Mutter nichts zu sagen, sondern sie in mein Denkbuch zu legen, und sie mir da auf ewig aufzubewahren.

Ich konnte nun in dem Lederbuche nichts lesen – es klangen mir längst vergessene Worte in den Ohren, von denen mir die Mutter erzählt hat, daß er sie einstens gesagt: »ich darf es dem Knaben nicht zeigen, wie sehr ich ihn liebe.« Ich ging in den Hof hinab und sah trotz des Regens, der niederströmte, auf jedes Brett, das er einst befestigt, auf jeden Pflock, den er einst eingeschlagen, und im Garten auf jedes Bäumchen, das er gesetzt, oder sonst mit Vorliebe gehegt hatte. Die Kiste mit den Büchern des Doctors und mit den anderen Dingen hatte ich in mein Zimmer hinab bringen lassen.

Als ich wieder in die Wohnung zurück kam, saßen die Mutter und die Gattin noch immer in dem Hofstübchen beisammen, und redeten. Die Mutter erzählte mir, wie so gut meine Gattin sei, daß sie nun schon so lange hier sitzen und von allem Erdenklichen geplaudert haben, und daß sie gar nicht geglaubt hätte, wie eine Stadtfrau gar so gut, lieb und einfach reden könne, als sei sie hier geboren und erzogen worden.

Spät am Abende, da sich die Wolken zerrissen hatten, und, wie es gewöhnlich in unserer Heimath ist, in dichten weißen Ballen über den Wald hinaus zogen, als schon im Westen hie und da die blassen goldenen Inseln des heitern Himmels sichtbar wurden, und manche mit einem Sternchen besetzt waren, saßen wir wieder Alle, auch der Stiefvater und der Schwager, die am Morgen weggefahren und nun wieder gekommen waren, in der Wohnstube an dem großen Tische beisammen, man zündete nach und nach die Lichter an, und ich erzählte ihnen von meinem Funde. Kein Mensch in unserem Hause hatte von der Truhe gewußt. Die Mutter entsann sich wohl, daß ein solches Ding, da wir noch kaum geboren waren, immer auf der Diele gestanden, und daß alter Kram darin gewesen sei; aber wie es fortgekommen und was damit geschehen sei, könne sie sich nicht erinnern, habe auch in ihrem ganzen Leben nicht mehr an die Truhe gedacht. Wer das Lederbuch hinzu gelehnt, sei ganz unbegreiflich, wenn es nicht etwa der Großvater gewesen, der es in der ersten Verwirrung bei des Vaters Tode, um es den Augen der Mutter zu entziehen, an die Truhe legte und dort vergaß. Auch auf die Bildsäule kam die Rede, und als ich um ihren Ursprung fragte, wußte ihn niemand, sie sei eben immer in dem Gange gestanden, und keiner habe darauf gedacht, warum sie da stehe, und auf welchem Untersatze sie stehe. Nur könne sie aus keiner unsrigen Feldkapelle herrühren, weil unsere Felder nie eine Kapelle gehabt hätten.


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