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Zehntes Kapitel

Ohne den Mund zu öffnen, stellten sich beide wieder das Wesen vor, das sie vor Jahren verlassen hatten und suchten Atmosphäre zu erneuern, die sie damals verband, aus ihr jetzt rechten Anfang zu gewinnen.

Aber wie sie bei ihm saß, und er ihr an und abschwellendes Fleisch, Raum des Wagens von ihren Düften gefüllt spürte, befiel ihn Taubheit und Schwäche wie auf hohen Bergen.

Aus schneidiger Anspannung schrumpften Muskeln in keuchendes Weichen. Wie in ein Füllhorn stürzte nichts mehr in ihn als Güsse Gewißheit, sie sei nah vorhanden.

Sie aber merkte mit allmächtigem Hebel ihr Inneres angekurbelt, daß über Räder, Spulen und Riemen, aus Kübeln, Tiefen, Höhlen, tausend Schlupfwinkeln ihres Leibs Lawine Leben sich sprachlos und fromm zu ihm ergoß, die sie leerte und schwächte, ihr Gewißheit schenkender Kraft immer stärker hinterlassend.

Vollkommen entgegengesetzte, unerhört größere Lust bisheriger Vereinigungen mit Männern hatte sie: brache Erde besonnte sie, sie troff auf Dürre, düngte Ödland und sei das frühere, schaffende Prinzip.

Aus dieser den ganzen Leib durchpulsenden Offenbarung nahm sie Kraft zur Fühlung äußerer Wirklichkeit und lenkte Situation nach ihrem Willen.

Über Braine l'Alleud waren sie schon nach Nivelles gekommen, als der Chauffeur fragenden Ruck des Kopfs machte, worauf sie durchs Sprachrohr ihm zurief: »tout droit, à la frontière.«

Und wieder sanken sie in stummen Verein des Gefühls, der den Glaskasten, in dem sie saßen, mit Hochspannung eines Geschehens heizte, das Scheiben beschlug, und von dem sie nur wußten, es sei ihnen himmlisch willkommen und sie müßten, Schlacken verschiedener Vergangenheit auszubrennen, in ihm weiterkochen, bis sie sich völlig flüssig und Anmerkung zu sich als überflüssig merkten.

Plötzlich, nach steiler Kurve hielt der Wagen vor einer Herberge der belgisch-französischen Grenzstadt, und der Fahrer meldete Unfall des Motors.

Da griff Eura den Zufall, schlug vor, am andern Morgen aufs Geratewohl Fahrt nach Frankreich fortzusetzen; solange auch äußerlich in wechselnden Kulissen zu bleiben, bis für inneres Verhältnis sich Gewißheit ergäbe. Durch Begriff von starrem Ort um sie nicht inneren Entschlüssen vorzugreifen.

Seinen Bedenken, er habe nicht Geld noch Reiseeffekten mit sich, begegnete sie damit, auch sie besitze weder Seife noch Nachthemd, doch Mittel, die sie einstweilen mit ihm teile, Nötiges unterwegs zu kaufen.

Bevor er zusagte, versicherte er sich aus ihrem Blick, auch sie habe mit ihm kein Abenteuer vor. Im Gegenteil schrecke sie vor oberflächlicher Bindung mit ihm wie er zurück und alles, was sie auf besondere Weise wolle, habe zur Ursache, jedem Gemeinplatz mit ihm auszuweichen und keine Mühe zu scheuen, ihres wirklichen Zusammenhangs Sinn endlich zu begreifen.

Als sie sich zur Nacht die Hand gaben, waren sie bewegt, zu fühlen, Neues lag wie ihnen selbst auch aller Welt zu Grund. Plötzlich wußten sie, sie durften und vermochten mehr, als Mann und Weib sonst miteinander. Aber darum müsse es auch auf immer eigene Weise geschehen, damit von Schöpfung mit ihnen Gewolltes wirklich zustandekomme.

Nicht mehr wie einst schien es Frage, ob Eura sich in jeder Lage auswirke, noch, daß er seiner selbst durchaus gewiß war. Mit allen Trieben wollten sie jetzt ihr Ensemble vollkommen und waren in ihre einzige Gemeinsamkeit verliebt.

In benachbarten Zimmern lagen sie an einer Wand parallel in Betten ausgestreckt. Zehn Zentimeter Mauer trennte sie, doch sie empfanden Gleiches: was sie früher gedacht, gefühlt, durchgemacht und festgestellt, sei unwichtig und unrichtig vor dem geworden, was aus Welt in jeder Nuance wieder neu zu erleben war. Noch kein Effekt, keine gültige Tatsache stehe in ihrem Dasein fest, und man könne Gewesenes unbefangen, als etwas, das kaum mehr gälte, dem andern mitteilen. Könne es verschweigen oder entstellen, weil Wert und entscheidende Wirkung weder vergangenem Tun noch Unterlassen zukäme.

Das erfüllte beim Einschlafen beide: den andern nach eigener Denk- und Lebensart ummodeln, müsse keiner mehr; denn auf anderes käme es mit ihnen an.

Und das war ihnen am nächsten Morgen gewiß: wie sie sich Mitteilungen über Mitwelt, die sie bisher betrachtet hatten, auch machen würden, irgendwie müßten die gemachten Erfahrungen, sollten sie mehr als gleichgültiger Schwatz sein, auf der Wage des im Augenblick neu prüfenden Bewußtseins erst wieder mitgewogen werden, das zu noch unbekanntem Ziel von ihnen bei jeder Regung ein Maß forderte; dessen Arithmetik sie nicht kannten, nach dem sie nur unwiderstehliches Verlangen hatten. Dessen Elemente aber so wohlproportioniert wie die von den Akkorden, logischen Beweisen oder Gebeten Frommer sein mußten.

Und als sie wieder im Wagen saßen, dachten beide, vom Wesen ihrer neuen Seele erschüttert, noch das hinzu: in ihren gemessenen Schwingungen sei nun essentiell: Allerschönstes, weil Zweckmäßigstes und darum im letzten Sinn nur Mögliches müsse immer mit nicht mehr als unbedingt dazu nötiger Kraft aus ihnen erreicht werden. Ihr junges Gewissen sei vor allem ökonomisch. Und: ohne diese natürlichen Voraussetzungen wollten sie fortan überhaupt nichts fühlen, denken oder tun.

 

Während sie nach Frankreich, das er zum erstenmal sah, hineinrasten, merkten sie deutlich, draußen war nicht seit Zeiten für sie als Wald, Feld, Wiese, Dorf und Stadt Welt einfach schon da, zu der sie Urteile und vorgeschriebenes Entzücken als: wie herrlich, echt französisch! oder historisch: hier war zwischen Philipp II. und Heinrich II. die Schlacht von St. Quentin, fertig mitbrachten, sondern sie empfanden sich mit dem jeweiligen äußeren Gesichtsinhalt als niedagewesenes Kombinationswunder, zu dem gleichzeitig auch alle Gesetze aus der Erscheinung und ihnen selbst erst wurden. Die, in Begriffen festzulegen, aber darum belanglos schien, weil sie nur für den einen Fall, da aber durchaus, und sonst nicht wieder galten.

Sie waren sich glücklich bewußt, des Kirchturms von Beauvais plötzliches Auftauchen vor der Fensterscheibe wirkte im Rahmen, den Euras über das Glas gebogene Hand spannte, anders, als wäre sonstwie diese Kirche erschienen.

Nicht nur lebte ohne Euras rosa Haut rotes Dach nicht so eigentümlich farbig, als auch wäre des Gebäudes steinerne Frömmigkeit ohne ihre innere stürmische Lebenszuversicht nicht so lebendig fromm aus Grünem aufgetaucht.

Erst wenn sie sich stundenlang mit »steigender Lerche«, »Männer vor Dorfwirtshaus«, »vor dem Wagen wegfliehende Hühner«, »auf Weide stehende Kühe« plus ihrem jauchzenden Anteil daran an originalem Leben übersatt getrunken hatten, sanken sie außenblind in Wagenpolster und schnurrten, zur Erholung plaudernd, Strecken vergangenen Lebens als ein Gewesenes ab, das sie wie etwas à peu près und Gouachen, weit entfernt von Leuchtkraft jetzt lebendiger Wirklichkeiten mitteilten.

So hörten sie beiläufig und allmählich, was jeder in seiner Vergangenheit noch bis gestern als unbedingt »erfahren« zu haben glaubte, erzählten sich ironischer Betonung »Beobachtungen« und »Feststellungen« über Sozialismus und Militarismus in Deutschland, Konzentration in Frankreich. Er lachte herzlich über ihren ohne Ausnahme sich prostituierenden Anpassungstaumel, aus dem ganz allein als aus fixer Idee ihre Taten und Schicksale geworden seien und bekannte sich einseitigen »Individualismus'« schuldig, den er aus immer beständigem »Selbstbewußtsein« ihrer und Deutschlands Massenanbetung entgegensetzen zu müssen geglaubt hatte; der Ursache ihrer Trennung gewesen sei.

Auch sie hätten auf Grund von Zwangsvorstellungen Jugend Schlagwörtern geopfert und seien noch bis gestern in Ketten gewesen; heute erst wäre der Tag, den sie lebendigen Umständen gemäß verbrächten.

An dieser Stelle warf er ein: was wir von jetzt ab mit uns tun wollen, tat und tut Nation vernünftig, handelt sie gegen Dogmen, Gesetze und Verträge in jedem gegebenen Augenblick trotzdem politisch, das ist aus plötzlich erst vorhandenen, nie vorher festzumachenden Umständen eventuell anders. Und: Neun Zehntel der Menschheit sind durch unbedingt festgemachte »Errungenschaften« in allen Sparten des Lebens elend Gefangene, die, aus Mangel an Mut, eigenes Leben in diesem Sinn politisch zu führen, in Drahtverhauen der Zivilisation krepieren.

Aus diesen Gesprächen verlor Land, das sie durchfuhren, einseitig wissenschaftlich starren Charakter; Leuten, an denen man vorbeifuhr, sah man nicht mehr nur Triebe und Eigenschaften an, die Eura früher mit Begeisterung an ihnen als französisch gemerkt hatte, sondern sie waren zuerst dicke und dünne, schöne, häßliche, stille und bewegte Menschen, die in einem Sommertag gelungene Geschöpfe und nicht nur spitzfindige Probleme darstellten; sich auf ihre Weise famos und ganz apart tummelnd.

Erst aus dieser Mitmenschen vorweg zugestandenen Besonderheit, über die sie an jedem neuen Exemplar nicht genug staunen konnten, gewinnen sie ganz die eigene unbescholtene in einem Maß, daß sie vor Unabhängigkeit rauchten und kaum mehr wußten, wie sich vor Freiheit lassen.

Brillante Welt, die sie am Strand von Dieppe in wunderlichen Kostümen und übertragenen Gesten spazieren sahen, schien ihnen nicht weniger ursprünglich als Bauern, die zwischen dort und Rouen Korn schnitten. Jeder, der an ihnen vorbeikam, schien auf einmal für seine Form und seine Begabung gar nicht erst um Erlaubnis im Sinn eines mit ihm gewollten Modells gefragt zu haben, und Verstimmung in seinen Wohlklang erst aus fremdem Urteil kommen zu können.

Als sie im Hôtel de la Poste in Rouen eine Flasche schäumenden Apfelweins geleert und sich zum tausendstenmal ihr neues menschliches Glück versichert hatten, brachen sie zum Haus Flauberts nach Croisset auf. Nicht einem Auserwählten Verehrung zu bezeigen, sondern den Freund, der mehr als Millionen andere nach ihrem Privatgeschmack Mensch gewesen war, zu besuchen und wissend, er hätte ihre Freundschaft höher als vernagelte Anbetung der Massen geschätzt, er der von Vorurteilen fanatisch Unabhängige, über dessen Werk der Spruch: ne pas conclure, nicht Schlüsse ziehen! gestanden hatte.

 


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