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Zweites Kapitel

So sieht man sie in Aufführungen zeitgenössischer Dichter und hört sie in Zwischenakten sich kritisch vernehmen. Was alle Welt zu Ibsen sagte, unterstrich sie mit geöltem Wort. Endlich verlange mit dem Mann Weib gleichen Anteil an Lebensproblemen. Aus diesem Dichter sei wieder Lockerung von Widerständen, Eingehen auf die Moderne zu hoffen. Gleiten in den allgemeinen Wasserfall, bei dem es auf Bewegung selbst, nicht auf Weg und Ziele ankomme. Überhaupt habe der Mann von jeher mehr auf Richtung, Frau auf unbeirrtes Schreiten gesehen, bei dem Instinkt sie hinreichend führe. Alle vom männlichen Willen errichteten Schleusen logischer, sittlicher und ästhetischer Wehr seien Attentate auf wirkliche Lebensdichte, und Noras und Hedda Gablers Schreck vor des Manns Bedenklichkeit fühle sie hingerissen mit, nur, daß, was Nora wollte, ihr nichts Wunderbares, sondern Natürlichstes auf der Welt sei. Die war mit ihrem Geschlecht besser in Lebens Handlung gestellt als der mit Zwangsvorstellungen geplagte und dressierte Gatte, und ihr Recht des Impulses sei das endlich von Zeitgenossen begriffene Höhere, auch für Kultur und Politik. Die Forderung Gerhart Hauptmannscher Menschen, sich für ihre aufdringlichen Naturalismen zu interessieren, leuchte ihr als Symbol für die tiefere Wahrheit ein, jedermann wolle nur mit seiner Gänze an der durch Naturwissenschaften bewiesenen allgemein artmäßigen Gleichheit unbedingt teilhaben.

Solcher Forderung Anerkennung beanspruchte eine Nation, die lange genug im Kulturleben der Völker gestanden hatte, zu wissen, was sie, mit europäischen Nachbarn Schritt zu halten, von sich verlangen müsse. Und wiederum war es jungen Mädchens Sache nicht, zu prüfen, ob dieser Anspruch an sich selbst genügte. Sondern Eura, die diese Mentalität nur besonders kraß vor sich hingestellt hatte, gab sich ihr auch besonders inbrünstig hin, weil sie spürte, wo von überallher, seitens der Politik, der Künste und Wissenschaften nichts so sehr als der bloßen Tatsache, naturwissenschaftlicher Mensch zu sein, Glanz, Ruhm und brausende Verherrlichung bezeugt wurde, die Absicht, sich der Vergötterung, die die Masse offiziell genoß, etwa durch menschliche Besonderheiten zu entziehen, an dem Tag schweren wirtschaftlichen Schaden in sich schließen müsse, an dem die durch öffentliche Geistigkeit vergötterte Menge ihre praktische Rechnung präsentierte. An deren Begleichung man, als nicht Zugehörige, dann nicht mehr teilnehmen dürfe.

Diese gründlich erfaßte Wahrheit schützte Eura vor Verlockung, den eingeschlagenen Weg zu verlassen. Die übrigens nicht häufig und nur einmal kraß war, als sie Carl Wundt traf, der trotz der Lächerlichkeit maßlos aufgetragenen Schismas zu aller Welt eine Lebenskraft für sich geltend machte, die sie packte und wie mit Düften der Dschungel berauschte.

Sie trafen sich in einer Premiere Wedekinds, und als mit ihr der Saal sich an den vom Dichter tragisch gemeinten Stellen in Lachsalven bog, und des freisinnigen Weltblatts Rezensent geistvoll ironische Anmerkungen zu des Dichters unheilbarer, von ihm oft festgestellter Verblödung machte, trat in des Nachbars fremdländisch geschlitzten Blick solcher Haß zur Umgebung, daß sie wie von einem Hieb getroffen war. Bei des Zuschauerraums Wiederverdunklung haranguierte sie des Mannes Fuß im Drang, die in ihm aufgeschleußte Kraft möchte sich in ihre Nerven entladen und ruhte nicht, bis männliches Fleisch für sie Partei nahm.

Mit ersten an sie gerichteten Worten bestätigte er ihren Sieg, als er sagte, mit Atmosphäre aus ihr habe sie vom Augenblick des Nebenihmsitzens seinen Menschenhaß schlapp und ihn elend gemacht. Denn grauenhaftes Dasein trage er nur durch die Sprengkraft tödlicher Abneigung gegen Allzumenschliches um ihn.

Aus dieser Anrede stellte sie den Feind fest, den sie keinen Augenblick ernst nahm, da er, ohne Zusammenhang mit einem ziffernmäßig mächtigen Zeitgeist, ihr nichts Wirkliches, aber aparte Verirrung schien, aus deren Kenntnis wie von Gewürzen man Genüsse ziehen könnte.

Auf Spaziergängen ließ sie ihn das Herz ausschütten und hörte gutmütig seiner Empörung zu. Suchte ihn zu belehren, die eben sei die Marke, mit der er, sich selbst zu kennen, doch im großen Strom mitschwimme. Eitelkeit verböte ihm, seine eigene Anbetung der Massen anzuerkennen. Das sei Schwäche, die er überwinden müsse.

Der Zweiundzwanzigjährige wehrte sich gegen solche Unterstellung, wie er konnte. Doch da er zu jung war, zu wissen, wie viel für ihn und sie von seinem Sieg abhing, ließ er's zum Schluß der Gespräche wieder gut sein. Ihr Händedruck brach zum Teil seine Widerstände, und er flog ihr zu. Zu Haus freilich stellte aus innerem Bedürfnis er Abstand zu dem Mädchen wieder her. Einst im Museum gelang ihm vor dem Frauenkopf im weißen Tuch des Roger van der Weyden dem Problem so nah zu kommen, daß sie erstarrt stand. Arme wie Flügel schleudernd, hatte er sich heiß gesprochen, ohne eigenen Sinn ihr hinnageln zu können. Da war ihm ein Wort entflogen, und plötzlich beleuchtete vom Bild her Glanz unwiderstehlich seine Aussage: die da, die Gemalte, schien höchstpersönlich mit eigenem Glück und Verzweiflung. Oder –?

»Warum nicht?« sagte unsicher Eura.

»Das widerspricht ihrem Evangelium, das, ›sich an Allgemeinheit hingießen‹, heißt; Bedeutung in unpersönlicher Hingabe sucht, im Mimikry, in Selbstvernichtung.«

»Aber ihre Person war nicht Endzweck. Sie bediente sich ihrer zu eben meinem Ziel.«

»Warum sah dann der Künstler ihr Besonderes gerade – warum erschüttert uns beide nur das?«

Feindlicher Regung sah Eura zum Porträt zurück. Jetzt aber strahlte das nicht mehr Unvergleichlichkeit, sondern nur ein fabelhaft gemaltes Frauenbild hing da, und Carl spürte, der Augenblick, gläubig einem Phänomen zu erliegen, sei für lange dahin.

Es geschah ihnen aber: Leiblich gewöhnten sie sich aneinander, an Luft, die sie umstand, an einen Stimmklang, und während jeder seine Überzeugung pries, ein Wille dem anderen wehrte, sank Nerve zu Nerve und liebkoste. Je gehässiger sie mit Worten stritten, um so heißer drängte Blut zueinander, und auf Märschen erlagen sie nicht geistigem, aber körperlichem Weh. Wunden, die sie sich verstimmt und zornig schlugen, heilte zum Schluß noch duftender Tumult.

Er blieb ihr gegenüber göttlich gerecht. Nichts bewies ihm seiner unzeitgemäßen Ahnungen Überlegenheit noch höheres Recht. Aber er spürte, für ihn selbst hing von seiner richtigen geistigen Steuerung mehr als für sie ab. Ihr eigentlicher Sinn, ihr Anlaß auf Erden, habe mit Sieg oder Niederlage ihrer Erkenntnis nichts zu schaffen; echter müsse sie sich offenbaren. Nur wußte er nicht anzudeuten, wie. Überzeugt war er, er wisse besser um sie Bescheid als sie selbst, und sie biete ihm aus ihr nur eine Fremde. So daß er ihr sich inniger vereint fühlte, war sie nicht da, und er durfte seiner Spur mit ihr folgen. Sie aber, die ihm alle andere Freiheit, die er sich nahm, nicht wehrte, verübelte ihm, wie er sie stets leidenschaftlicher mit einer Vorstellung von ihr betrog, die sie nicht wahrhaben wollte. Denn hier sah sie zum erstenmal von ihm Überlegenheit ein: Sie mußte, wie er sich gab, ihn nehmen und hatte keine Macht, an seinem Willen hinsichtlich seiner selbst vorbeizugehen. Er schuf ihr den Carl, den er wollte. Während es ihr nie gelang, ihm die Eura zu befehlen, die sie zu sein behauptete und gerade für ihn bedeuten wollte.

Während mit tausend täglichen Beweisen Leben ihr immer recht gab und ihn entkräftete, sie stets alles bewies, und er nichts beweisen konnte, vergewaltigte aus unerklärlichen Befugnissen er sie immer spezieller zu seinem Glück, während sie mit der Auflösung seiner Worte, Taten, seiner Leiblichkeit immer mehr in ihr Dasein hinein, von ihm doch nicht besaß, was sie im Tiefsten wollte.

Je geringer zwischen ihnen Abstand wurde, um so mehr entrückte in ihm ihr Unfaßliches. Doch je heftiger sie ihm einen Kern in ihr versperrte, um so sicherer und gewisser griff er danach.

Schließlich fühlte sie, sie verfügte über die Welt, ohne über sich noch zu verfügen. Châteaubriands Mémoires d'outre tombe hatte er ihr gegeben und fragte sie nach dem Eindruck. Sie hob hervor, wie sie Stil, straffen Aufbau und trotz Romantik praktische Politik im Buch schätze. Worauf er sagte, sie verstelle sich oder habe der Schrift Wesentliches, wodurch sie sich aus dem Plunder der Epoche, ja von Jahrhunderten hebe, nicht verstanden.

Und als sie hochmütig fragte, was er meine, gab er diesmal prompt zurück: diesem Mann gelingt aus eigenen Rhythmusses Kraft, Napoleon und seinen für den Geschmack der Massen aufgemachten Spektakel als für des Vaterlands organischen Aufbau nicht vorhanden aus Wirklichkeit zu streichen und den Korsen trotz aufgewandtem Pathos zu einem Schatten des Jahrzehnts neben elementaren Gefühlen und Begriffen zu erniedrigen. Napoleon und seine Syntax materiell mechanischer Kräfte scheine Null vor eines Herzens Hinschwung an einen Jüngling, den es sich allein in der Nation zu seinem König von Frankreich macht, zu dem es über Hindernisse pilgert, und den vor einer Welt erschütterter Zuschauer es doch grüßt: Henri V.

Während sie »Unsinn!« sagt und wütend dreinschaut, greift ihre Hand seine Hand und, ihren Blick schief erwidernd, strickt er Finger in ihre.

Aber sie waren sich nach diesen Worten feindlicher, als sie sich liebten. Jeder hing auf seine Weise an sich selbst, an eigenem Wesen mehr als am andern, und beide wollten hitzig Schlacht, die sie zum Sieger über zärtliche Schwäche machte. Aus gleichem Trieb begannen sie, den Platz zu suchen, an dem Entscheidung fallen mochte. Tasteten Tag und allen Raum nach ihm ab. Traten nirgend mehr wo hin, ohne zum Kampf bis an die Zähne gewaffnet zu sein. Jeder aber schickte sein Geschlecht auf Vorposten und plänkelte bis zur Tollkühnheit.

 

Aber stets im entscheidenden Moment, waren sie sich in der Sinne Auflockerung nah, nach heftigen Erschütterungen durch Kunst, mehreren Gläsern Wein, und des Bluts Trubel wollte beginnen, trat nicht nur vor sein, auch vor ihr prüfendes Bewußtsein das Bild von Weibern, die er alle Tage hatte. Nicht neu würde Euras Nacktheit sein, nichts Himmlisches ihre gefallenen Kleider zeigen, und ihrer Hingabe Bild würde ihm nicht unvermittelt kommen. Von Zugriff und Hinfall hielt Furcht sie zurück, kitschige Umarmung käme heraus, die aus Romanen ihnen geläufig und teilweiser Abscheu war. In dieser persönlichen Sache mit ihm, fühlte sie, wich sie von aller Anpassung ab; wollte keine Übereinstimmung und keinen Vergleich. Während er, das drückte er aus, überhaupt Vorstellung von sich schob, sie könne wie Frauen sonst von ihm besessen sein.

Bei jeder kecken Geste von ihr wuchs beiden Gänsehaut. Ein Wäschestreif, irgendwie ihr Fleisch wirkten als Witz. Ihr fehlte, als Weib aufgemacht, ihm gegenüber jeder geschlechtliche Reiz.

Als das feststand, versuchten sie es mit Frechheit. Sagten und sprachen Dinge aus, bei denen sie vor Ekel bebten, ohne Berge, die zwischen ihnen standen, zu versetzen. Sondern über Worten loderte aus ihren Blicken Versicherung, der sie lieber glaubten.

Da – als sie sich dem Mann, der von Natur irgendein Recht an sie hatte, als das betroffene Weib nicht ausdrücken kann, fiel ihres Haars einmalige Ursprünglichkeit ihr ein. Mit Satz ist sie zum Bett hinaus am Spiegel und begreift, mehr als ein Jahr müsse vergehen, bis der kupferne Mantel, aus dem der Kamm Entladungen weit ins Zimmer gesprengt hatte, zu den Knien wieder gewachsen sei.

Er aber, durch den unnatürlichen Zustand zwischen ihnen zur Raserei gebracht, explodierte am nächsten Abend mit dem Geständnis, im Augenblick könne nur Flucht ihn retten. Monate hindurch habe er sie zu ihrer Offenbarung gedrängt. In schnödem Zeitgeist zu tief befangen, sei sie zu sich selbst nicht zu erlösen gewesen, und er rate nicht, wie es bald geschehen könne. Der Welt müsse er lassen, was an ihr weltlich sei. Fast alles vielleicht. Das Wenige, das sie selbst bedeute, und das er in der Seele mit sich nähme, würde sich auch bald verlieren; und während sein Atem, Blick, Handschlag Protest und Verwünschung bleibt, ist hinter zugeworfener Tür er verschwunden.

 

Ihr war der Knall Lebenswende. Warnung vor dem einzigen Fehltritt, der dem Zeitgenossen droht: Romantik. Die schon als Ahnung weh tut. Nur das Bedürfnis hatte sie noch: Soziale Anpassung, die sie als Sinn der Epoche vielfach beweisen mußte, sich gründlicher und wissenschaftlicher zu bejahen. Nachdem sie Carl verloren, aus mitmenschlichen Zwängen erstes Opfer gebracht hatte, wollte sie dessen Sinn herrlicher für sich aufgehellt.

Hatte sie sich erst zu gleichem Ende praktisch bewiesen, warf sie sich jetzt mit Inbrunst an alle Theorie. Sah historisch den Deutschen aus Träumen mystischer Welt, grünem Wald, von Tälern weit und Höhen in die Niederung großer Städte ankommen und dort gegen Aberglauben protestierend, bewußt Kirchen des zum Gemeinwohl arbeitenden Volks, Fabriken und eine allumfassende praktische Wirtschaft gründen, die er, als sie der Nachbarn Neid erweckte, mit dem Schwert verteidigte. Er war es, der damit aus des Jahrhunderts größter Entdeckung, des Menschen wissenschaftlich bewiesener Herkunft vom Säugetier und seiner natürlichen und engen Bindung in alle Schöpfung, notwendige Folgerungen gezogen und dem einzig berechtigten, biologischen Kampf ums Dasein aller wirtschaftliche Grundlagen gegeben hatte.

Aus Instinkt war es für sie stets natürlich gewesen, in diesem von vornherein unpersönlichen Wettkampf selbsttätiger Entwicklung käme man unscheinbar, äußerlich am gesetzmäßigsten gebildet, am besten an. Genuß aber bereitete ihr, zu erkennen, wie seit mehr als einem Jahrhundert alle Geistigkeit in Deutschland unter mannigfachen Aufschriften und oft unfreiwillig immer zum gleichen Ziel gearbeitet hatte, und daß die kleine Schar Nachzügler, die man mit Betonung schon Romantiker nannte, den allgemeinen Sturmlauf zum neuen Ideal nicht hatte aufhalten können.

Aus dem Herzensbedürfnis, über Carls Verschwinden sich zu trösten, nahm Eura religiöses Feuer und gab sich mit kleiner Mühe nicht zufrieden. Was sie zufällig und ungeordnet bis heute gewußt hatte, bekam Zusammenhang, und weit über bisherige Horizonte gelang ihr, zu erkennen. Unverdrossen arbeitete sie auf Schulen und Seminaren, und über einer Menge kleinerer Erscheinungen sah sie endlich Kant am Anfang neuen deutschen Denkens. Aus seiner Lehre Entwicklung mußte sie den Kalender herrschender Mentalität aufdecken können.

Sein auf Moralisches angewandter kategorischer Imperativ, seine Pflichtmaxime machte nach logischer um 1800 auch sittliche Welt zu einem Kanon, obwohl er gerade des Menschen Freiheit von der Natur Ungebärdigkeit hatte beweisen wollen, indem menschlicher Vernunftwille, das Gewissen, alle natürlichen Verhältnisse zwingen und bestimmen sollte. Aber nicht jedes Menschen eigene und am Objekt täglich neu geprüfte Idee sollte sittliches Naturgesetz sein, sondern ein absoluter (kantischer) Wille die »sittliche Freiheit« geboren haben, weil, wie der neue Religionsstifter sagte, allerdings die Freiheit eines jeden an die Bedingung der Freiheit auch jedes anderen geknüpft sei, und jeder so handeln müsse, daß sein Wille zugleich als Prinzip allgemeiner Gesetzgebung gelten könne. Hatte vor Kant der Mensch manche Erfahrung aus sittlicher Bewußtseinswelt schon gelten lassen, mußte erst dadurch, daß nun kritische Norm, eine im Ethischen wurzelnde absolute Schätzung ein für allemal und für jedermann aufgezeigt wurde, der Zeitgenosse (wie bisher nur im denkerischen) jetzt auch noch im moralischen auf eigene Person zu verzichten und in Anpassung an »Unbedingtes« beste sittliche Position suchen.

In Schiller sah sie den erster volkstümlichen Erläuterer gewonnener Weisheit, wird jedes rebellische Gewissen, alle selbstwollende Person von ihm mit geflügelten Worten auf Staats- und Gesellschaftskomment schnell wieder verpflichtet und von mitmenschlicher Schuld besonders im fünften Akt entsühnt. Für sie stand der geniale Schwabe um soviel höher als seine Nachfolger bis Kleist als er, ursprünglich an seinem Lehrer entbrannt, das Evangelium lauterer vermittelt hatte.

Als dann die so gelähmten deutschen Mitmenschen in Fesseln des Gewissens, unter Hegels geistiger Führung einen Vorstoß machten, gelang er bis zu diesen neuen Erkenntnissen etwa: Nirgends ist unsere von vornherein ohne Rücksicht auf Entwicklung fertige Idee von der Welt entscheidend; sondern erst die an ihrer intensiven Beobachtung erworbene höhere Vernünftigkeit, für die es nichts Ewiges, nur Werden gibt, macht uns zu sehen fähig, wie überall und immer das Wesentliche, Gute und Vernünftige von selbst entsteht. Nicht durch unser Wollen, aber durch Hingabe an den Stoff, indem wir uns der Welt verschmelzen, erkennen aus Geschichte wir das Notwendige. Welt soll nichts von uns aus. Sondern aus Welt müssen wir deren so geartete Notwendigkeit und eigene Lebensaufgaben in weltgeschichtlicher Entwicklung begreifen.

Aus Unfreiheit durch Ketten der Ideen sah sich der Deutsche durch Hegel also in die Schlinge einer einzigen Idee, eben der aus wirklicher Welt abzusehenden »Notwendigkeit« gefesselt. Und auf der Basis dieses anderen Absoluten, alles Vorhandene notwendig zu finden, wurde es höchste Pflicht, auf Anderssollen irgendwelcher Wirklichkeit reinen Herzens zu verzichten, und in denkender Nachschöpfung des realen historischen Entwicklungsprozesses bis zu dem Punkt zu gehen, wo diese Nachschöpfung in des Menschen von Erkenntnis geleitete Tat zugunsten des vernünftig Wirklichen, des Staats und der vorhandenen Gesellschaft umschlug.

Alle Materie war im Grund also von unserem Denken und Wollen unabhängig, das aber abhängig von aller Materie geworden. Fort vom Innern war auf Außenwelt unser Kompaß gestellt, und des eigenen Ichs Hinwurf an Mitwelt so gut wie vollendet.

Allerdings gestattete diese vernünftige Demut dem geistig Begabteren noch, manches für eigene Entwicklung vorauszusehen, sich nicht völlig auf andere zu verlassen, sich eher als Minderbegabte zu orientieren, eigenen historischen Beruf gewissermaßen besser zu erkennen und zu erfüllen.

Erst durch Karl Marx fiel um des neunzehnten Jahrhunderts Mitte dieser letzte Vorteil des Höherbegabten. Denn in dessen konsequenten Materialismus ließ auch mit größter Vernünftigkeit sich nicht mehr profitieren. Sondern nach ihm bewegt mit allem andern sich der Mensch und menschliche Gesellschaft nach ehernen Gesetzen, ohne Gelegenheit für genialen Eingriff fort, und nichts als Unterwerfung unter Naturgesetze und die in ihm hauptsächlich wirkende Bewegungstendenz bleibt.

Durch Marx wird größte und schwerste »Notwendigkeit« über den deutschen Menschen verhängt: kausale. In ihr lebt alles technisch, psychologisch Vorauszusetzende; aber gar nichts vorzugsweise Vernünftiges, an sich Wertvolles, oder gar Metaphysisches mehr. Nur das Gewisse.

Und es stirbt der Mensch, daß Menschen leben. Vor Darwins praktisch bewiesenen Entwicklungsgesetzen hatte Marx sie schon theoretisch für die Menschheit gefordert.

Dann aber wird nach dem Schema wirklich gewonnener Naturerkenntnis der Mensch und menschliche Gesellschaft vollends bestimmt, und auch seine Zukunft ist nur noch aus Mechanismen vorauszusehen; nicht mehr zu gestalten. Nach Darwin schwärmten Philosophen und Weltanschauungen, Wissenschaften und Wirtschaftslehre, politische, künstlerische und strategische Theorien nur noch universelle Mechanik, Hinführung aller Geschichte in die Natur, bis die soziale Revolution, des Menschen Auffassung als einer sozialen, in nichts als Umwelt und Gesellschaft wurzelnden Kreatur in jedem Unterbewußtsein durchgesetzt war.

Zu gleicher Zeit mit dieser Erkenntnis ging Eura im Gegensatz zur deutschen Entwicklung der Sinn französischer Umwälzung von 1789 auf. In Frankreich war eine christliche Moral, die vor Gott zwar Menschen gleichmachte, den Menschen aber von aller Schöpfung schied, in fünf letzten Jahrzehnten von einer Oberschicht, die aus menschlichem Stolz und noch stärkerem Geltungswillen auch persönlichere Ansprüche hatte, Schritt für Schritt, gesprengt, und schließlich hatte ein Adeliger höchstes Recht der Persönlichkeit sogar vor Gott gefordert: Voltaire. Wie ein Graf zuerst Leben für die Idee persönlicher Freiheit vor allen Himmeln und Erkenntnissen eingesetzt hatte: Mirabeau.

Im gleichen Jahrzehnt, in dem zu Paris unter solcher Führung Menschheit gegen Unterworfenheit sogar unter ein jenseitig Moralisches mit dionysischer Freude protestierte, begann im hohen Norden zu Königsberg ein bürgerliches Hirn, das durch Folgen des Dreißigjährigen Kriegs noch immer nicht wieder festgemachte deutsche Bewußtsein einem allgemeinen politischen und sittlichen Zwang zu unterwerfen, und welche angeblich entgegengesetzten Standpunkte geistige Nachfolger einnahmen, der Satz: nicht des Menschen Bewußtsein und Wille bestimmt Welt, sondern die sind von Welt und seinem gesellschaftlichen Sein in ihr abhängig, wurde allgemein herrschend.

Um 1890 war der gewaltige Prozeß, alle première matière nur als ökonomisch wichtig, und denkerischen, sittlichen und künstlerischen Akt seitens des Menschen mit ihr als überflüssig und schließlich sinnlos zu zeigen, vollendet; jeder Mensch nicht nur, sein winzigstes Molekül war unterschiedsloser Weltstoff geworden, über den im vornherein mit dem Ganzen von eingesetzten Stellen und Behörden verfügt war. Eura begriff, wieviel folgenschwerer dieser von Deutschen durchgesetzte Weltumsturz war als alles, was je zuvor Menschheit bewegt hatte.

Nun war klar, wie richtig, triebsicherer als Umgebung, sie über sich schon entschieden hatte. Dem Versucher, der in süßer Gestalt mit allem Zauber des Temperaments sie von mitbürgerlicher Pflicht, ihrem gesellschaftlichen Sein zu ihrer romantischen Verklärung, dem Bewußtsein gelockt hatte, hatte sie widerstanden und turnte jetzt frei im lebfrischen Elan.

Nun verwischten sich völlig Begriffe von Halt und Grenze. Sie jagte nicht in Eisenbahnen und Automobilen, ohne Rasen überstürzen zu wollen. Beim Gedanken an Hindernisse stand Herz still. Hirn überforderte der Räder Takt. Bei jedem in der Landschaft sich stellendem Bild, konnte sie sein Zustandekommen nicht abwarten. Sie komponierte schneller. Des Gegenübers Gespräch rundete sie vor seinem Ende ab. Nicht, was es sprach, war wichtig, nur, daß gesprochen war. Denn es stürzte doch mit ihr und allem in größeres Geschehen. Auch Tat ihres jedesmaligen Gegenspieles wurde von ihr eher zu Ende geführt. Erstaunt sah sie auf, klappte der mit Auflösung nach. Doch berührte sie die nicht mehr, weil sie längst bei anderem war. Für sie blieb alles Geschehens zu merkender Sinn, der sonst in Ursachen und Zwecken bestimmt war, das in ihm erreichte Tempo der Entwicklung. Alle Empfindung spannte sie für dessen beste Innewerdung und bekam für jedes Zeitmaß reizbarstes Membran. Nur das entzückte sie überall. Das traf sie aus Gemälden, Musik und Dramen, doch auch aus Kavallerieattacken und der Feuerwehr Auffahrt. Jedesmal in einem Schubertschen Presto schrie sie bei Synkopen vor Entzücken auf, doch auch, sprach das entscheidende Wort der Schauspieler so in ein Lautloch hinein, daß aus Takten Knall zustande kam. Als Proportion in Dahindonnern hinein, war ihr Pause Ekstase.

Kam sie in Hast Weg hinangelaufen und warf sich mit Ruck irgendwohin zur Ruh, war sanfter Atem nach der Lunge Stöhnen so unfaßbar liebliches Entzücken, daß Tränen flossen. Oder sie sieht Sonne auf ein Weltbild zielen; im Lauf hält sie Nebelwand, schon schlitzt Licht wieder durch Löcher – noch widersteht ein Schleier – da aber reißt alles Scheidende ein –

Dann war auch sie in Verschmelzung mit hineingerissen. Nur daß, nicht von wem speziell wozu, daß heftig und wie Blitz gelebt wurde, Schornsteine rauchten, Buchflut wuchs, Massen wurden, Gehirne dampften, Meere, Lüfte pfeilschnell durchflogen wurden, war wichtig. Sie peitschte der anderen Marsch und eigenen und war, Hand am Hebel, immer bereit, schnellste Übersetzung einzustellen; mit Sporen Wirklichkeit in Galopp zu bringen. Allen Anstoß in Deutschland bejauchzte sie. Gleichgültig war, wie für Bewegung Vorwand hieß. Sie würdigte keinen Ausgangspunkt der Überlegung, keine Gesinnung der Verfasser. War überzeugt, alles andere als Menge der in der Arbeit gezeichneten Energie war belanglos. Der Deutschen formidabel Motorisches sah sie, und genoß kurze Reisen in die Heimat, dort wiedergefundene Schläfrigkeit der Holländer, um bei der Rückkehr für Berlins geladene Luft frisch zu sein. Weiningers Fanfare, Freudsche Aufrufe, Schelersche Kommandos, medizinische, chemische, physikalische Evolutionen, politische Explosionen – alles nahm den alleingültigen revolutionären Charakter des Gleichtritts in einem Aufmarsch an.

Ohne daß sie von anderen Ländern Kenntnis hatte, wußte sie, im ganzen Umkreis Deutschlands verdichtete sich feindlich, was als Prinzip entgegenstand. Und ihr Haß gegen Nichtdeutsches war kraß, weil für sie betriebsnotwendig.

Nachdem sie in Ereignissen mit Carl ihres eventuellen Selbstanlasses Hürde glatt genommen hatte, flog sie in einen Orkan männlich-weiblicher Beziehungen. Auch dort war sie nur Flamme aus Lust am Brennen. Nicht Weib oder Mann war zu bedenken, schonen und zu steigern, sondern gerade da war Apotheose der Verschmelzung, Läuterung in Retorten.

Ihr Verhältnis zum Mann wurde vollends eindeutig. Sie sah sich Zündstoff für Bewegung, und fuhr so stracks in ihn, wie man das Streichholz passend anlegt. Des Feuerfangens Augenblick war ihre heißeste Genugtuung, zu der noch kurze Zeit ihr Mädchentum diente.

Als sie aber kräftigeres Brennen in ferneren Momenten ahnte, verbrannte sie sich in ihnen spontan mit dem ersten Besten, mit Männern, deren Namen sie nicht merkte. Von solchen Ereignissen, die sie nicht suchte, doch die da waren, ging sie gewärmt und lebendiger neuer Bewegung zu.

Die, die sie hatten, wunderten sich trotz langer Erfahrung mit Weibern über sie. Ohne Wucher tat sie es strikt, gewillt und gestillt. Hörte kein Stichwort, kein Kommentar des Partners und brach, war Peripetie da, den Akt ab. Auf Ausstattung, Kulisse und Kostüm kam nichts an. Orchester störte. Sie war nicht Oper, nicht Operette, kein Drama und keine Komödie. Aber doch ein Stück mit Höhepunkt und raffiniert Kontrapunktischem.

Einer meinte, sie sei ein Volkslied. Gassenhauer, verbesserte sie. Er sagte: Jedenfalls kein Couplet.

Bei solchen Gelegenheiten merkte sie, wie schwer es sei, mit Sprache wieder auszudrücken, was man als Sinn heutiger Welt schon in Fleisch und Blut hatte.

 


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