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Siebentes Kapitel

Nicht nur persönliche Stellung in Paris schied sie plötzlich wieder von allem, was sie geliebt hatte, sondern sie sah, hier lebte die Nation nach anderem Maß als die deutsche, und doppelt, als Reiche und Nichtfranzösin, sei sie einer Zugehörigkeit an alle entfremdet, die ihr Glück und ihre Sehnsucht ausmachte.

Gewann sie durch Teilnahme an mondänem Gewühl oberflächliche Geselligkeit mit Fremden wieder, wollte sie doch gerade an Frankreichs Volk so angeschlossen sein, daß ihr nichts von dem, was es täglich betraf und wovon Sphären um sie donnerten, entging, und sie kein peripherisches, sondern zentrales Dasein in ihm führte.

Darum strich sie lüsterner Nüstern über Quais und Boulevards, den Pariser zu fassen, zu schmecken und sich gründlich an ihm zu sättigen. Ganz wollte sie ihn schlingen, kauen und verdauen, um auf Grund seiner sicheren Kenntnis, jede Nuance seines Schicksals mit zu wissen, wie sie vor kurzem besser als jede Deutsche deutsche Art begriffen hatte.

Von fürstlicher Tafel umlungerte sie Estaminets der Kleinbürger und Arbeiter und schielte nach Volk, das gelassen aß, trank und Welt genoß. Aber aus dem Bewußtsein ihrer besseren Kleidung, anderer Luft, die sie umfing, wagte sie sich nicht an seine Tische, Mißklang, den sie brachte, voraushörend. Nur Laute, Bruchstücke des Gesagten und Gelachten fing sie von fern, roch Rüche, witterte Laune und zuckte bei Berührungen getroffen auf. Auf öffentlichen Bänken war die gesuchte Reibung mit des Proletariers Arm ein Schlag, durch den sie nicht sein Element, doch Elektronen, die es umspielten, inneward.

Eine durch alle Blutzellen aufgebrochene Jagdhündin lag sie immer auf Lauer und windete Spezifisches. Pürschte sich an Leute, schlürfte Unaussprechliches und hatte bald die sichere Spur.

Zu Haus wühlte sie sich tiefer in Christine, die ohne der anderen Argwohn war, weil sie wußte, Eura als Herrin wollte gewiß nur Neugier befriedigen. Während die wirkliche Gier an ihr stillte.

Von Christine hatte sie erste Aufschlüsse über das Französische und den einfachsten und wichtigsten: Hier war heute der Mensch nicht wie der Deutsche und mehr oder weniger der Holländer zentrifugal, sondern zentripetal. Es trieb ihn mit keinem leiblichen oder geistigen Atom nach außen, er streute mit Gefühlen und Gedanken sich nicht fort, verschüttete nichts Eigentümliches, sondern kehrte von überall her, wohin tägliche Notdurft ihn auszufliegen zwang, zu sich selbst und dem, was ihn mit Volksgenossen band, zurück.

Natürliche Phänomene allgemeiner Zwänge, die ihn der Menschenspezies einten, waren ihm geläufig; doch nicht wichtig genug, um nicht innerhalb derselben sich am eigenen Drang und der Lust höher zu ergötzen, nicht vielfältig mit allen, sondern einfältig französisch, das heißt, auf seinen besonderen Mittelpunkt zurücktreibend zu sein.

Und diese konzentrische Kraft hatte nicht wie die deutsche exzentrische ein gedachtes Ziel, Kritik und kein Absolutes zum Inhalt, sondern speiste sich tendenzlos von allem Leben an sich.

Sofort fiel Eura ein, wie Christi Lehre, vor allem der Organismus der sich aus Irrfahrten in fremde Welten wiederfindenden abendländischen Menschen, die katholische Kirche für Franzosen so weit, als man historisch diesen Trieb in ihnen zurückverfolgen könne, etwas ganz anderes bedeuten müßte als für Deutsche der Protestantismus, der nicht wie die französische Staatskirche in einem höchsten Symbol verdichtete, was auch ohne ihn Volk schon im Charakter hatte, sondern gegen ein Aufgedrungenes sich wehrte, also negativ und unproduktiv bleiben mußte. Der Katholizismus als Gleichnis aus Welt zur Einheit in sich zurückkehrenden Menschen mußte alles im Franzosen ansprechen, was er auf Erden wollte und, wo er als Religion versagte, als Politik noch die allmächtige Rolle spielen.

Schnell überzeugte sich Eura durch Blick in die Geschichte, daß wirklich über jeden großen Waffentat Frankreichs, seien es die Kreuzzüge, die Bartholomäusnacht oder der Jungfrau von Orleans ekstatische Kämpfe gegen England, des katholischen Christus Fahne geweht hatte, und daß auch gegen Deutschland ewige Kriege von einem fanatischen Klerus mit riesigem Gefolge in den Kulissen gelenkt waren.

Denn im Blut des Franzosen war nicht wie in dem anderer Kulturvölker der Traum von einer außer ihm zu wünschenden Welt, sondern die in ihm und mit ihm vorhandene liebte er mit einer Leidenschaft, von der die Inbrunst seiner in unzähligen Klöstern sich durch Jahrhunderte immer wieder zu sich selbst sammelnden Mönche und Nonnen erhabenes Zeugnis gab.

Nachdem alle anderen zivilisierten Rassen sich längst mit Kraft und dem Mut der Verzweiflung gegen diese, im ursprünglich fremden Katholizismus verherrlichte, unbedingte Bejahung erscheinender Welt empört hatten, nicht zuletzt fanatisch die Deutschen in den Bauernkriegen der Bilderstürmer, gemäßigter in Luthers Protesten, rebellierte schließlich gegen einen Marasmus immer zufriedenen Jasagens, der es mit schöner Lethargie zu töten schien, 1789 auch Frankreich mit riesiger, dekorativer Geste um, als Gewitter die Luft gereinigt hatten, doch feierlich wie nie zuvor in Napoleons Person und mit Symbolen des Einzigenwahns ewiges Bekenntnis zu sich selbst zu erneuern.

Auch Diderot, auch Voltaire hatten bei flammendem Haß gegen eingerissene Mißbräuche nie den himmlischen Kern französischer Welt als der Welt überhaupt bezweifelt, und wenn in Candide Erde vollkommen toll geworden scheint, ist sie nach Pangloß noch immer die beste der Welten. Es leuchtete ihr aber ein, daß die auf Frankreich schwimmende Oberschicht und ihre durch Kapitalskraft für sich in Anspruch genommene splendid isolation im Grund auch keine Gegenbewegung zu dem das ganze Land besitzenden attraktiven Trieb, sondern nur den gleichen, mit anderen Mitteln erreichten, darstellte, und daß also durch Bezahlung gewonnene Abgeschlossenheit aus dem Sinn des Nationalcharakters nicht wie bei Deutschen, als deren selbstgewolltes Ideal die Pflicht und die Anpassung an alle feststand, Entartung bedeute. Daß sich füglich auch noch ausschweifendster Reichtum in Frankreich leicht im Gewissen tragen ließ und, ihn für sich, in einer von jedermann gebilligten Absicht zu verschwenden, keinen sittlichen Mangel bedeute. Aus diesem letzten Schluß gewann sie zuerst für ihre außerordentliche wirtschaftliche Stellung schnell Rechtfertigung und Sicherheit, die ihr bis jetzt gefehlt hatte. Von nun an gebrauchte sie ohne Bedenken Mittel, sich nicht mehr heimlich, sondern auf dem Weg aller für Geld zur Verfügung stehenden Belehrung in des Landes Seele einzukaufen.

Es sprangen ruckweis ihres Hauses Türen auf. Wie sie Briefe nach Deutschland plötzlich französisch schrieb, und die in ihnen ihrer veränderten Lage wegen bisher nie ganz unterdrückte Verlegenheit ruhiger Würde wich, sah sie nicht mehr, was sie vor Franzosen bloßstellen könnte, da ihr Heim, ihr Tisch und ihr um sie bezeugter Wille aus allgemeiner Mentalität korrekt war. Sie war sicher, auch der Umstand, daß hauptsächlich sozialistische Literatur ihre Bücherreihen schmückten, hatte für den voreingenommenen Pariser dadurch nichts Bedenkliches mehr, daß sie in Luxusausgaben in Maroquin gebunden war.

Nicht weniger eifrig unterhielt sie sich jetzt über Gleiches wie in Berlin, nur daß das hier als ein in der Zeit Zufälliges und in ihr sehr Interessantes mit Witz beplaudert, aber als erst aus Verhältnissen Gewordenes und aus Verhältnissen wieder Verschwindendes ganz und gar nicht in den Bereich inneren Lebens mit einbezogen wurde. Sie merkte, wie man all diese Fragen als nicht in des Menschen ursprünglicher Natur nur als Relativitäten nahm, deren Wichtigkeit man nicht übersah. Die aber dann nichts bedeuteten, besann von Mitmenschen fort der Mensch sich auf sich selbst.

Natürlich warf sie, doch nur um Konversation zu machen, alle Einwände ausdrücklich auf, die korrekt so widerlegt wurden: Es sei das Mißverhältnis zwischen ins Uferlose erzeugter Menschheit und der unter einzelnen Himmelsstrichen als Maximum zu produzierenden Rohstoffe gewiß unmöglich. Aber man brauche des Problems Lösung weder so banal zu sehen, daß man Rettung aus zweckmäßiger internationaler Verteilung aller Vorräte gleichmäßig unter alle, noch aus gerechter örtlicher aus der Besitzenden Hände in die der Besitzlosen erwarte. Auch am anderen Ende sei die Sache anzupacken. Nämlich, daß zuerst Menschenproduktion selbst auf das erträgliche Maß beschränkt werde, was nicht nur aus ökonomischen, sondern mehr aus Gründen menschlicher Verantwortung notwendig sei.

Denn welcher Nabob könne als Vater sechs Söhnen gleiche väterliche Sorgfalt wie einem widmen, welche kraftstrotzende Mutterbrust einem Dutzend Kindermündern zu gleichem Heil wie dem einzigen gereichen? Sie sähe doch, in Frankreich, ohne daß für solche Selbstverständlichkeiten Gesetze wären, überlege jeder sich jedes Kind. Das sei nicht, wie die ziffernbesessenen Deutschen meinten, leibliche Schwäche in erster Linie und ein Fleck auf der Statistikenehre des Volks, sondern Beweis seiner hohen Moral. Die erst einmal über die Welt erkannt, wirken müßte, daß übrige Nationen und Deutschland voran, sich ihrer einseitigen und verbrecherischen Sucht begeben würden, nichts als Soldaten zu zeugen; Hekatomben, die sie bei Gelegenheiten sinnlos im Granatenhagel opferten.

Die so sprachen, waren nicht Reaktionäre, sondern Sozialisten, die auch leugneten, ihre Führer seien nach den naturwissenschaftlichen Entdeckungen der Massenanbetung verfallen. Gewiß gäbe es unter ihnen solche, die aus Mangel an Verantwortlichkeitsgefühl und blindem, demagogischem Ehrgeiz der Menge Eitelkeiten kitzelten. Aber nicht auf sie, sondern die wirklichen Lenker komme es an. Und die verstünden unter Sozialismus als Regel unbedingt des Einzelnen ökonomisches Bewußtsein in und für sich, und als Ideal des Individuums sogeartete ökonomische Besessenheit.

Glaube sie das nicht, solle sie den erstbesten Proletarier auf der Straße nur genau besehen. Wünsche sie das Zweite bewiesen, müsse sie Jaurès kennen.

Doch über all das hinaus betonte noch jeder: das sei nur eine Tür in die Welt. Sie müsse erst einmal durch die andere gehen.

 


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