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Achtes Kapitel

Durch diese andere, begriff Eura, träte sie in Leben ohne Kritik, Erfahrung und ohne Nachdenken über es.

Und da frohlockte sie! denn zum letztenmal durch die in einem Jahrzehnt unentbehrlich gewesene geistige Brille sehend, wußte sie, als Mann wäre ihr aus dem vollzogenen völligen Umschwung Bitternis und übler Nachgeschmack geblieben. Denn der stand in einer Zeit, ihrem Ablauf, Erfolgen und Katastrophen, abhängig. Frau aber war stets; und innerhalb aller männlichen Problemstellungen durch ihr Wesen an sich ausdrücklich von logischer Entwicklung ausgenommen.

Daß sie begeistert sich gänzlich veränderter Entwicklung hinwerfen könne, sei innerhalb der Wissenschaften Beweis, trotz aller männlich-geistiger Versuchung sei sie echtes Weib geblieben. Wie einen Mantel, der nicht mehr wärmen muß, warf sie Spekulatives ab und stand nackt als Wesen mit Brüsten und Organen, die aufzunehmen, bereit waren und nichts beformeln, sondern von allem beformt werden wollten.

Auf dem Sofa lag sie froh; bog riesige Schenkel auf und träumte Danae, der Goldregen in den gespreizten Schoß tropft und das zum Zerquetschen aufgereckte Gesäß der »Nacht« Michelangelos am Juliusgrab.

Das Strömen empfand sie nun auf sich zu. Aus einer Kanne, die bis zur Selbstentleerung gegossen hatte, war sie Loch geworden, in das es floß und endlos fließen konnte.

In vorgefühlter Wollust stöhnte sie. War eines Empfangenkönnens gewiß, das ohne Gleichen war, und sah aus dem Herzen durch blaue Ader einen Blutstrom sich zum Oberarm ergießen, der wie ein Schwurmal war.

Wiehernde Stute trat sie ins Geschirr. Wollte Richtung und Ziel des Laufs nicht wissen, doch gefahren sein. Sie wölbte die Kruppe. Denn dort und nicht mehr vom Hirn mußte sie gestoßen sein.

Christine sah der Herrin Verwandlung zuerst. Deren Aufmachung wechselte. War sie bis jetzt in dunklen Farben zugeknöpft erschienen, schlitzte sich jetzt überall Gewand.

Ein Brüstepaar der Frau wuchs aus dem Kleid, das kaum der Ausschnitt an völligem Aufruhr hinderte. Lippen, grellrot geschminkt, waren obszöner Vergleich, und das ummalte Auge zeigte Hysterien der Sinne an. Fanfare, schrie sie unter Männern und spornte zu riesigem Angriff. Vorbei an Klischee und Marke brach sie in die Brachen des Bluts und forderte Opferung und krasse Entscheidung.

Sie wußte, sie hatte versäumt und mußte Ströme Gefühls nachtrinken, Gerüche, Dämpfe, Ekstasen der Wollust schlürfen, an andere Quellen des Lebens zu finden.

Da verschwand erst ganz der Franzose, und nur der Mann war da. Mit Schönheit und Geld erlegte sie ihn in Scharen, schmauste und erschnüffelte seine tiefste Spur. Erst als sie ganze Witterung hatte, holte sie Atem und wollte Nuance.

Doch nicht nur Urmännliches, auch das Urweibliche hatte sie genug geschmeckt und brauchte als Frau aus sich selbst das Eminente.

Lachend nahm sie eines Abends Christine am Ohr. In einer Wolke Tüll hüpfte sie mit ihr vor ein Ensemble Spiegel, zeigte Fleisch im Glas in Schleifen und Battist; warf plötzlich alle Hülle von sich und es blieb: des Leibes Blaß und leuchtend rote Puschel des Kopfs.

Christine schrie ein Ach der Überraschung, lief mit Bürsten und Kämmen herbei und fing, das Haar zu locken und mit einer Hingabe zu pflegen an, die ihrer Überzeugung entsprach, mit der Trophäe sei die Herrin auch unter Wundern in Paris noch Gipfel, und sie selbst, das Phänomen betreuend, müsse an Würde und Person gewinnen.

 

Also ließ Eura sich von Erscheinungen packen, ohne nach deren Anlässen und Zusammenhängen zu fragen und ohne sie anders, als wie dicht und mächtig sie manifestierten, zu schätzen. Und wie sie sich einst hemmungslos an alles außer sich verschwendet hatte, ließ sie vorurteilslos alles in sich verschwinden und merkte Einzelfall nicht mehr daran, wie arithmetisch schnell das Tempo in ihm war, sondern wie wesentlich und mit welcher Wucht er wurde.

Nun hatte Welt keine starre Form mehr für sie, doch sie selbst war Form für alles, was sich regte, und empfing es hungrig und durstig ohne Unterlaß. Und wo sie ging, war sie Teig, in den sich alles drückte, daß bis ins Mark sie es empfand.

Besamte, bewässerte Wiese war sie, aus der Millionen Wurzeln in innere Erde weiterreichten und Lebkraft in Quellen schwemmten.

Trank sie Situation aus Straßen und Stuben, Landschaft, allem Lebendigem, Hohem, Niedrigem, Klugem und Dummem, spürte sie Mitmenschlichkeit stärker, und meinte, jetzt erst wirklichen Sozialismus zu fühlen.

In diese unmittelbaren Wahrnehmungen fiel ihr das größere mittelbare Erlebnis französischer Kunst des neunzehnten Jahrhunderts. Aus ihr wurde plastischer klar, wie, als polare Seelentemperaturen, sich »deutsch« und »französisch« ausschlossen.

Hatte an Philosophien gelehnt, deutscher Parnaß hartnäckig stets ein Ideal außerhalb des Daseins gepriesen, durch gegenspielende Imperative Weg in Freiheit versperrt und zu Leistungen gespornt, die nur mit dem gleichen, gegen sich und andere gerichteten militärischen Drill erreicht werden konnten, war mehr als je französischer Kunstwille im letzten Jahrhundert nur Spiegel von Wirklichkeiten gewesen, der blank und weit wie Himmel Abglanz sämtlicher Lebendigkeit ohne Kritik war.

War von Malern und Dichtern des achtzehnten Jahrhunderts, noch von dem göttlichen Stendhal Auslese so gehalten worden, daß nicht zwischen Gut und Böse, doch zwischen wichtig und unwichtig politisch unterschieden wurde, fiel 1830 mit des Bürgerkönigtums Beginn auch diese letzte geistige Schranke, stürzten Reste bevorzugter Bewußtseinsinhalte, Allegorien der Romantiker Delacroix und Géricault, Mussets und selbst Châteaubriands in Trümmer; da rüttelte Goncourt an Balzacs kaum noch sentimentaler Hemmung, als er die fille Elisa, ein Mädchen, das davon lebt, in seines Volks sichere Vorstellung hob, und ihm mitmenschlich vereinigte. Da schleuderte Flaubert die letzten geistig Mühseligen und Beladenen in das Blickfeld der Nation.

Durch ihn mußte das bisher Unscheinbarste und Unwahrscheinlichste auch noch erlebt und mitgeliebt werden, und sein Ruf: Nicht Schlüsse ziehen! riß den Mächtigsten des Riesengeschlechts, Maupassant, so hoch, daß neben der politischen Nichtsnutzigkeit des Krieges von 1870 plötzlich ein Koloß menschlicher Liebeseinfalt »Yvette« stand. Die, als in ihr keusches Gewissen die Mutter, als Hure entlarvt, tritt, im Strudel des Äonen lang gezüchteten Abscheus ertrinken will, bis steil anbrechende Begeisterung für Welt und Leben, wie es ist, Gespenster der Moral in Winde sprengt. Über die letzten Sätze der Novelle selig ausgeschluchzt, war Eura wie nie werktätig gefühlter Lebendigkeit aller Menschen gewiß.

Hier überall war Leben nicht Lesen, Denken, Systembildung zur Erziehung und einem Sichverhalten. Durchaus keine Prätension, eitle Hingabe besserer Erkenntnis an Befangene, sondern aller Mannigfaltigkeit Hinnahme, Gefühl für das schlechthin Seiende und seine milliardenfache Zusammenstellung.

Nicht Verengung und Zuspitzung von Horizonten, keine Erträglichmachung von Formen, keine Ideologie; aber abgöttische Idolatrie der Schöpfung, wie sie jeden Augenblick ist.

Gesinnung, die Absichtslosigkeit hieß.

Wie wenn sie beim Schlafengehen in mildem, von Bettwäsche und abgeworfenen Kleidungsstücken der Frau zerglänztem Licht Christine nahekam, sie faßte, herzog und am überall duftenden Weib die Stelle zum Kuß suchte, die roch, schmeckte und sättigte.

Wozu keine Einstellung auf geistigen Wert, kein Pathos nötig war, sondern, was es geradezu ausschloß.

Oder dagegen revoltierte. Was Rivalität Gottes bedeutete und nicht nur Hirn, auch Nerven und Mark entflammte. Als Christine mitten in dienender Verrichtung – sie trocknete der aus dem Bad gestiegenen Herrin die rauchenden Beine – das Tuch hinwirft, der über alles Fleisch Errötenden an den Hals fällt und aus Liebesnot mit Küssen überallhin bedeckt, wo Schönheit ist.

Reicher war Raum und Zeit gefüllt, suchte man nicht, aber fand, was am Geringsten unvergleichlich war, und das man mit Respekt verehrte.

Gegen nichts Wirkliches gab es Protest.

In Gottes Schatzkammer, die man mit Andacht durchschritt, hatte jeder seine Lieblinge frei und nannte sie. Rief ein Mann sie jetzt mit Liebesnamen, fühlte sie, er verglich sie keinem Muster, aber vergaß über ihrer schon wieder flatternden Mähne, in der er wühlte, Welt.

 

Weil diese Gewißheit wichtig wie einst die Kleinschmidtsche Programmtafel für sie war, schrieb sie auf:

»Von einer Bank in den Champs Elysées. Pavillon Ledoyen rechts, links von mir kleinbürgerliche Taverne. Vor einem Nabob ausgesuchtes Mal, an dem er ißt; bei ihm korrekte Mätresse.

Am Kneipentisch der Proletarier trinkt seinen Rotwein, schnalzt und schiebt in dampfendes Gigot die Gabel.

Vom Teller sehen beide plötzlich hoch, lassen in Blättern der großen Kastanie, die in beider Gasthäuser Mitte steht, das Auge ruhen.

Ein Mädel geht vorbei. An ihrem Rock springt der Männer Blick Rücken hoch zum Zopf und verweilt miteinander. Einträchtig besitzen sie die Kleine, nehmen eines vorbeifliegenden Vogels Bild noch mit, seufzen gleichen frohen Seufzer gehabten Genusses und kehren zu sich zurück.«

Und sie setzte hinzu:

»Revolution von einem zum andern ist schwer zu denken. Entscheidendes, alle aus Schöpfung angebotenen Bewußtseinsinhalte haben sie ohne Einschränkung gemeinsam, wie verschieden ihre äußere Lage ist. Unbeschreiblicher Reichtum auf beiden Seiten. Geld spielt, weil Kauf der Sache nicht die entscheidende Inbesitznahme ist, keine Hauptrolle.

Gegen das allenthalben real Gebildete verschmähen sie Eingebildetes, an das der Deutsche sein Verlangen hängt.«

Germanin fühlt sie mit den ums Sein betrogenen Blutsverwandten schon Mitleid, das oft in großen Wonnen, die sie lebte, Schatten warf.

Nirgends fand sie der schon in zahllosen Denkmälern niedergelegten, jauchzenden Lebenslust der Franzosen, Versen Beaudelaires, Verlaines und Jammes, den Romanen Charles Louis Philipps, Bildern Manets, Renoirs, Dégas, Cezannes, Gauguins, Matisses, Débussys Musik, bei Deutschen und Holländern, nirgends in Germanien Entsprechendes.

Doch in zahllosen Abhandlungen, Broschüren, Statistiken, intellektuelles Reden und Feststellungen über Phänomene, die sie nie empfunden, kaum gesehen hatten. Mißstimmungen, denkerische Ressentiments, Ehrgeize und Machtwillen, besser zu wissen und zu können was sie nicht im Blut nur im Gehirn erlebten.

Und kein einziger hatte versucht, Barrikaden, mit denen Bezirke des ungedachten, sich wahrhaft ereignenden Lebens zugebaut waren, niederzureißen. Im Gegenteil: Der Prozeß, für Leben an sich zu seiner schnellen, gefühlsmäßigen Erledigung und Brauchbarmachung als Broschürenmaterial den Nenner Eins zu setzen und mit sich selbst so oft zu multiplizieren, wie hoch für Volk seine Wichtigkeit angesetzt werden sollte, machte reißende Fortschritte und führte das Kapital, seine sinnfällige Verkörperung in allen Sparten öffentlichen und privaten Geschehens zur Allmacht; mußte es schließlich zum einzigen Bewußtseinsinhalt dieser Völker in dem Sinn machen, daß höhere oder niederere Geltung jeder Mensch vom Stand seines Bankguthabens und dem Inhalt seiner Börse ablas.

Eines Morgens sah sie in der Rue Rivoli im Schaufenster ihres Buchhändlers ein Buch, das sie packte, ehe sie die deutsche Aufschrift entzifferte; dessen gelesener Verfassername sie aber erschütterte.

Mit dem gekauften Buch lief sie nach Haus, schloß sich ein und las:

» Der Rheinländer«

Eine Erzählung von Carl Wundt.

Wolff Schwarzbergs Herkunft war dunkel. Feststand, durch Abstammung besaß er preußische Staatsangehörigkeit, wenn auch viel dagegen sprach. Denn unpreußischer als polnisches und jüdisches Gesindel seiner schlesischen Heimat erschien er, und finstere Sammetaugen machten unter Blau- und Braunäugigen ihn fremd. Aber auch der Glieder Mißverhältnis, großer Kopf, flauschige Hände und Füße an zartem Rumpf schieden ihn von jedermann. Schwarzes Haar, nicht borstig oder gelockt, schien von Rosenöl gesalbt.

Da von früh auf Umgebung vor ihm scheute, bildete er Kampfnatur in sich aus. Auf der Schule schon war ihm durch alle Klassen ein Dornstrauch die Welt, und er verwundete sich, wohin er griff. Man glaubte Preußentum, Christentum und kaum sein Menschtum ihm. Auf blonden, rotgebäckten Schülermassen schwamm er ein dunkler Tropfen. Des eingesessenen Adels Söhne juckten sich an seiner Seite.

Als er mit Finnen, Mitessern, strengem Geruch und wollenem Flaum auf Lippen Jüngling war, hielt Begeisterung für allen Trotz ihn gepackt. Religiöser und politischer Freigeist gegen Dogmen und Obrigkeit in jeder Form war er, empörte sich gegen alles Ausgemachte, stand auf dem Sprung und hatte Schaum am Mund. Verhaßt war ihm Herkunft, Zukunft alles. Nichts bestand; jetzt erst war Anfang der Welt und frühester Aufruf zu tätigem Geist.

Ohne Eltern lebte er von einem Erbteil bei Verwandten. Er wollte noch ein wenig auf Hochschulen lernen, notwendige Tricks kennen, um zerstören und in die Sterne als Befreier, Sendbote, eine Detonation und ein Verkünder sich sprengen zu können. Er hätte jetzt schon zu tönen vermocht; doch wollte er nichts überstürzen, sondern abströmen erst Vergorenes, um blendend zu glänzen.

Gründlich glaubte er, sich zu kennen. Hörte er in sich hinein, brauste Musik; hoch wogte er in Dickicht. Zu einem Ziel verklärt, war er nicht klar. Doch würde durch Erkenntnis über ein Weilchen er blank sein. Die wollte er auf Schulen suchen. Er meinte, auf überall freies Meer mit geblähten Segeln sich schon hinausblasen lassen zu können, als etwas geschah.

Ins Zugabteil, das Sonntags ihn aufs Land ins Grüne bringen sollte, stieg er. Ihm gegenüber saß Vater, Mutter und Tochter einer Familie, die, was im Leben auf der anderen Seite steht, verkörperte. Doch während sonst Fremdartiges ihn feindlich reizte, giftig anblies, war er hier in zitternder Andacht unvermittelt hingeschwächt. Unlogisch zerrissen die Erscheinungen ihn bis ins Eingeweide, und augenblicklich blühte er zärtlich an Fremdes hin. Es schien ihm der Vater erhaben, himmlisch die Mutter; aber mit Sternen im Angesicht das Mädchen eine Engelin.

Über Instinkte, die in ihnen die natürlichen Gegner, Ausbeuter niederen Volks auf Grund des Herkommens witterten, ließ in nicht geahntem Maß von allen dreien er sich immer von neuem entzücken und wie von Frühlingswettern erschlagen. Es spreizte des Mannes irdische Gewißheit, der Frauen überirdische Zuversicht ihn mit so fröhlicher Kraft, daß er merkte, sein Trieb bis heut sei Ressentiment, des Fuchses Verzicht auf saure Trauben gewesen, und sein plötzlich geöffneter Erdmund verlange wie sie gleiche Speise.

Orakel orgelten des Alten Anweisungen, und Antworten von Mutter und Tochter echoten harmonisch. Jetzt schämte er sich von Zank und Gegensatz der Vorstellung, und heliotrop schien Atmosphäre. Rosen stiegen von allen Seiten, und goldene Vögel schwirrten.

Dann aber hatte es einen Ruck, knirschendes Krachen gegeben. Vom Sitz war er geschleudert worden, hatte einen Augenblick das Mädchen bei sich gefühlt und Halt suchend und gebend Arme um ihr Weiches geschlungen; sich mit berauschender Fremdheit aus ihr vollsogen.

Als der Zug stand, und es ein durch des Maschinenführers Geistesgegenwart verhindertes Unglück zu schauen gab, war mit der Reisenden Verschwinden der Strich unter sein bisheriges Leben gemacht, er auf neue Voraussetzungen gestellt.

Nun war andere Sehnsucht im Blut. Was aus Witterung ihn bisher schimpflich und erbärmlich dünkte, schien aus Kenntnis ihm wirklich verehrenswert. Zu sein aber wie jene, in allen Hoffnungen und Gewißheiten mit ihnen übereinzustimmen, ihnen auch äußerlich zu gleichen, war noch sein einziger Wunsch. Nun zügelte er und vergewaltigte in sich Gewalten, die er aufgepeitscht hatte, verabscheute Musik, wie sie chaotisch in seinen Abgründen brauste, floh vor Urwald und Dickicht in sich; erbleichte Marx und Nietzsche zu kennen, verwünschte ihre finsteren Sprüche, schleuderte seinen Bakunin in die Ecke. Mochte Bier und Branntwein nicht mehr und verbrachte über Schillers und Kleists Lektüre in Konditoreien Freizeit.

Kam doch Versuchung und schwül scharlachene Glut über ihn, schloß er die Augen und bildete in duftenden Stulpenstiefeln mit Hirschhaken an der Uhrkette den Herrn, mit Granatschmuck auf tüchtigen Brüsten im Jettkleid die Dame und jenes Mädchen sich ein, an dem nichts liederlich fortstand, sondern alles prall und mit Hornknöpfen in das svelteste Jackett geknöpft war.

Wie an verwildeter Hecke schnitt er an sich herum; viereckte Haar an Schläfen, riß bis in den Nacken den Scheitel. Sein fliegender Schlips verknirpste zu zierlichem Schmetterling, und Nägel an Händen und Füßen schrumpften ein. Wie abgeknabbert starrte gewölktes Bärtchen, und zwischen Armende und Handgelenk deckten Manschetten den Abgrund.

Nicht mehr lief er träumend auf Trottoirrändern halb im Rinnstein, sondern ging, Welt ins Auge fassend, in Bürgersteigs Mitte, suchte Bekannte hartnäckig mit breitgerändertem Bewußtsein zu grüßen. Entzückt spürte für eingebildete, böswillige Welt er die Wirkliche heiterer sich gestalten.

Eine kleine Flatternde, mit der er erste Ausflüge in die Liebe gewagt hatte, mit der es jedoch mehr Kugeln über Erde und in Dunkelheiten als in Befreiung gewesen war, verstieß er. Räumte gemalte Nacktheiten über dem Bett fort und badete Mittwochs und Sonnabends.

Über immer ausgewähltere Vertreter der herrschenden Klassen erklomm er des Glückes Leiter. Schwärmte für den bebänderten Studenten und die in frischen Windeln hertürmende Jungfrau. Erbebte vor Regierungsassessoren und wußte von der Suso und Brentano Mystik nichts, doch von der, die in Jünglingen sich regt, springen in der besten Weinstube der Stadt am Tisch von Kürassieroffizieren Pfropfen aus Champagnerflaschen.

Trotz Anpassung an das Strengpreußische verlor er aber schlechtes Gewissen nicht, das in keinem jetzigen Unterlassen von ihm, sondern in seiner Vergangenheit Abgründen Ursachen hatte. Wie er oft rauhes Gurgeln in seinen Tiefen noch vernahm, glaubte er, immer müsse über äußere Aufmachung seine Unzugehörigkeit der preußische Mitmensch erkennen.

So streng er vorm Spiegel forschen Blick, straffe Haltung und der Mundwinkel überlegenes Hängenlassen übte, begriff er allmählich immer besser, auf die Dauer seien solche Dinge nicht vorzutäuschen, sondern im Blut zu erleben. Es sei um sie duldend zu dienen. Erst müsse von alten Zwängen jedes Molekül frei sein, ehe Neues in ihm nisten und aus ihm blühen könne.

Darum schoß er einen Studenten, der ihn »den Montenegriner« genannt hatte, stracks durch den Arm, wie sehr beim feierlichen Vorgang Angst in ihm das Unterste zu oberst gekehrt hatte. Dieses ersten Opfers Lohn blieb nicht aus. In bessere studentische Verbindung nahm man ihn auf und schlug ihm griffige Schmisse in die Backe. Als Soldat durfte er sich Knöpfe, dann Litzen um Kragen und Ärmel des Waffenrocks nähen. Auch war ihm vergönnt, bei Meldung an Offiziere, stramme Haltung annehmend, zu merken, daß jene fast kameradschaftlich sich neigten. Las er Fürstentelegramme an Feldherrn und Staatsmänner, schäumte Feuchtigkeit in Schleimhäute und trat als Träne zu Tag. Bei Kommersen, Kindtaufen, Hochzeiten und Begräbnissen toastete er, von allem Launigen und Traurigen berührt und rieb unsinnig Salamander.

Doch blieb bewußt: Auch in seinem markantesten Träger konnte Schlesien jenes Vorbild eines schieren Preußen nicht an ihn bringen, von dem seine Schwärmerei Konturen auf Blondgrund stickte, und an dem Träume wie an betäubendem Rauschtrank nippten. Nach allem, was er gehört und gelesen hatte, konnte nur in den Rheinlanden an den Ufern des Flusses das Idol lebendig wandeln.

Dort überfloß Kultur. Da von den Römern bis zum heutigen Tag hatte Vorbildliches sich gehäuft. Da war Ur- und Stammland seines Volks, da heilige Flur. Da hügelab gestuft, blühte über cäsarischem Schutt der Blonde, der Weinstock. Da füllte mit Gütern seit Jahrtausenden der Fluß des Bewohners Speicher. Da hatte, von Schöpfung begünstigt, das Ganzerlesene sich gezüchtet. Durch Historiker und Denker war dort des deutschen Menschen sonst vielfach noch Zufälliges zu fester Technik und ehernem Begriff geschmiedet. Dort stand man nicht mehr in psychologischem Aufruhr, des Unterbewußtseins furchtsamen Schauern. Dort in geprüften Geleisen wirkte Leben mit Gewißheit sich aus; da zu wohnen sei

»Stolz und Gewährung und Glück herztröstlich«. Da kurz Kanaan.

 

Darum bezog er entschlossen die Universität Bonn. Hier sollte Letztes stattfinden, entscheidende Schleier zerreißen, von seinem Irdischen der Rest Qualm wehen.

Vom Bahnhof flatterte er in die erstbeste Bude. War doch auf heiligem Boden überall gut sein, und schoß als Hörer literarhistorischer Vorlesungen in die aufliegenden Listen, denn da er gewiß war, in seinen Dichtern hatte das Land sich am deutlichsten manifestiert, würde aus ihrer geprüften Kenntnis er am promptesten mit dem Geist, der nottat, erfüllt werden. Dazu hielt er es für möglich, wohnte ihm aus Gelerntem erst Überzeugung bei, er könne selbst in Zukunft mit geläuterten und läuternden Tönen aus der Nacht des Gemüts aufrauschen.

Vorläufig aber mit Demut galt es zu bekennen. Wo er in Bonn stand und ging, mußte mit jeder Nerve er lauschen. Was geflissentlich der Eingeborene übersah, hatte er als Offenbarung von überall her in sich anzumerken. Und nicht nur das jetzt sich Zutragende, in der Vergangenheit Gewordenes war Paradigma; jedes Dekor, Motiv und jeder Schnörkel wichtig und noch aus Weggelassenem Schluß zu ziehen.

Kurzer Gang wurde Entdeckungsfahrt, die Grundsätze in ihm erschütterte, ihn mit Erkenntnissen schwächte, so daß, von einem Ausflug zum Bäcker aus seelischen Fugen zurückkehrend, er mit dem Ruf: genug, genug! für tot aufs Bett fiel.

Nach vier Monaten hatte er vor lauter Schauen die innere Stadt noch nicht verlassen und war außer am Ankunftabend, wo er trunken von Ost nach West, von Nord nach Süd getaumelt war, selbst an den Fluß noch nicht gekommen.

Noch lag der hinter Häusermauern schimmerndes Weihbecken in das, erst besser aufgeblüht, er tauchen dürfe, und auf des jenseitigen Ufers Bergen zog himmlischer Rauch noch und Amseln schienen in biblischen Winden zu schwirren.

Historisch und von allem Anfang an wollte eines Rheinländers Natur er in sich aufbauen. Was in Wirklichkeit aus Ungefähr und Muß naiven Werdens sich entwirkt hatte, wollte lernend als Ethos, Gesetz, Norm und Synthese er geschichtlich begreifen. Durch das Mittel zweckhafter Erkenntnis sollte einer richtigen rheinischen Kreatur seelische Mechanik tausendjähriger Schöpfung gemäß in ihm nachgebaut werden.

Mit Cäsars Auftreten am Rhein begann er das Studium. Sah Belger auf dem linken, Marsen, Sugambrer, Tenterer auf dem rechten Ufer. Kriegerisch erfuhr er sämtliche Stämme und wegen ihrer Abgelegenheit römischer Verweichlichung fern. Von Novaesium (Neuß) über Colonia Agrippina, Bonna, Confluentes (Coblenz) Bingum bis Castellum sah er sie ohne Unterlaß aufeinander oder auf die Römer einhauen, so daß zu prallem Muskelbau, stählernen Nerven in ihnen Grund gelegt wurde. Des Flusses Lärm und sein Widerhall an Bergwänden zwang sie, laut zu sprechen, oft zu schreien, wollten sie gehört werden. Jedenfalls Laute klingend und rhythmisch zu bilden, daß vom Stromgebraus sie nicht verschlungen wurden.

In Divitia (Deutz) das auf deutsch »Kasse« heißt, häuften sie, was Schiffe herschleppten und lernten frühzeitig es fremden Einkäufern zu gesalzenen Preisen aufhängen. Ihre Lage als Fechter in Auslagestellung an Landesgrenzen, als Importöre und Exportöre an Toren großer Absatzgebiete hatte sich bis zum heutigen Tag nicht geändert. Der aus Wirklichkeit ihnen aufgedrungene Sinn für den Kampf ums Dasein hatte, wie auch Jahrhunderte politische Zugehörigkeit verschoben, nicht gewechselt. Stets hatten sie gut gerechnet und Waffen geschmiedet, wozu Erz in Bergen sie besonders befähigte.

Doch daß in Allzuirdisches sie nicht sanken, riß prangende Natur von Anfang an die Herzen hinreichend zur Schwärmerei, und als sie Feldherren und Kaufleute von Weltruf schon häufig erzeugt hatten, erstanden Sänger unter ihnen, die das Unaussprechliche kündeten und in Liedern meisterten. Freilich blieb selbst im hehrsten Lied vom Kampf um die heimischen Fluren und ums Gold vorzüglich vom Gold die Rede, das man vor Nachstellungen auf die Flußsohle deponierte und zu dessen Schutz Einbildung ein Heer bewaffneter Wassergeister schuf.

Schwarzberg bemerkte, traten am Nieder- und Mittelrhein auch bald unbefangene Poeten auf, man zu so wirklichkeitsfremden Ekstasen wie am Oberrhein, wo mit Tauler und Erwin von Steinbach richtige Phantasten lebten, doch niemals kam. Richtig erschien ihm schließlich Goethe als pünktlichster Niederschlag mittelrheinischer Poeterei: höchstens angemessen versonnen, niemals entrückt. Auch in den schwärmendsten Versen blieb Beziehung zu realem Leben. Hier hatte überstürzte Aufklärung, kein Mystizismus und nichts Dämonisches Platz gehabt; hier war kein Huß und Nietzsche geboren. Hier diente man lebendigen Interessen und verdiente.

Die alten Hefte, in die er als Heranwachsender das eigene Chaos hingeströmt hatte, nahm Schwarzberg aus seinem Gepäck, las errötend seelische Mißklänge wieder und beschloß, daß auch nicht ein Tag mehr komme, an dem ihn schriftliches Bekenntnis nicht von solchen Albernheiten schiede, in einer als Vorübung zum Staatsexamen gedachten Arbeit vor allem weiteren aus den im Volksmund tönenden Dichtern erst einmal das Mittel der Sprache festzumachen, der zum Klingen ihrer Ideen die vorzüglichsten Sänger am Rhein sich bedient hatten.

Vom Nibelungenlied bis zu den jüngsten Dichtern las über einen Zeitraum von zwei Jahren er das Geltende durch, bis er Kenner war und über den Ruck spontanen Eindruckes sich ihm der gewollte Geist offenbarte, dem bewußt und unbewußt durch Jahrhunderte die Dichtenden, daß Wirkung zustande kam, gehorcht hatten.

Alles Sensationelle löste er vom Lied, stellte zunächst die Frage nach Ort und Zeit der lyrischen, ethischen und dramatischen Vorgänge und entdeckte: beide waren nirgends gewöhnlich. Nicht Bett, Stube, Straße, öffentlicher Ort am Alltag, kaum Sonntags die Kirche. Sondern daß ein Außerordentliches gleich ins Auge sprang, ging auf Bergesgipfeln, Klippenhängen, scheiternden Schiffen, in Abgründen, am liebsten um Mitternacht, zur Geisterstunde bei Mondschein, tagsüber nur bei donnerndem Gewitter das Ereignis vor sich.

Erhöhte und vertiefte Schauplätze dienten offenbar dazu, die Kluft zur Schürung der Handlung zwischen den Auftretenden schon äußerlich herzustellen, und daß ein Impetus aus lokalen Umständen vorhanden war. Machte man den räumlich Höherstehenden dann zum gesellschaftlich Überlegenen, setzte der Fürstin etwa den verliebten Habenichts, dem Prinzen Mädchen aus dem Volk gegenüber, war ein Drama, ohne daß Autor und Publikum sich sonderlich aus Eigenem rührte, anhängig.

Schwarzberg staunte mit wie geringen Mitteln auf Grund dieser schon latenten Katastrophen dann die Dichtung zum ehernen Gleichnis gerundet wurde, welch bescheidener und konstanter Palette der Dichter zu seines Gemäldes Vollendung bedurfte. Mit wenig Farben, fast nur mit Blau, Blond, Gold und Purpur arbeitete er, setzte ein paar typische Blumen, Rosen und Lilien, als Büsche Holler und Jasmin, als Baumschmuck meist die Linde, vereinzelt Eiche und Birke ins Bild und brachte mit einer Schwalbe sparsame Bewegung in die Landschaft.

Von des Knaben Wunderhorn über Klopstock, Gellert, alle Klassiker und Romantiker bis zu den Neuesten fand im Lied besonders er dies Gesetz durchaus bestätigt. Der Hölderlin und Novalis Ausnahme dienten ihm als Warnung, wie der von diesem Typ der Poesie eigenmächtig Absehende auf sangesfroher Volksgenossen Beifall nicht rechnen darf, will er etwa seine besondere Herzens- und Geisteshaltung verherrlichen oder nur mit Bescheidenheit andeuten.

Nein! Wie Tat und Lebenskampf sollte dichterisches Gleichnis davon der Nation gemeinsam sein, und es drückte gewollte Fremdheit aus, brüstete man sich mit Abweichung. In jedem Fall blieb sie Privatsache, und konnte im Vaterland, vor allem am Rhein nicht auf den Donnerhall hoffen, der sonst von allen Seiten brauste. Aber auch im Epos und im Drama sah Schwarzberg solche Forderung erfüllt. Wer auf innerem menschlichen statt biologisch-politischem Widerspruch gegen Allgemeinheit ertappt wird, ist wie im Leben auch im Buch als Scheusal von der Szene gestoßen und wird nach Schillers Forderung als in Schuld verstrickt vom eigenen Gewissen entlarvt und meist schon vom dritten Akt ab zu des Zuschauers Kitzel zwischen der Skylla innerer Reue und der Charybdis äußerer Verdammung von allen Seiten gezeigt. Wie sollte, fiel es dem entzückten Schwarzberg ein, es auch anders sein dürfen! Schwärmt nicht für die Heimat vor allem der Unverbildete, und gehört nicht ihr zuerst der Mitmensch, ganz abgesehen davon, daß Christentum uns auf den Nächsten weist? Wie dürften also die durch Dichter aus dem Labyrinth der Brüste hochgezogenen Ahndungen sich dem natürlichen Verlangen entziehen?

Nach dreijähriger Arbeit, in der er oft hatte verzagen wollen, war Schwarzberg glücklich, in markanten Lehrsätzen, deutscher Dichtkunst Forderungen wie in ein Rezeptbuch niedergelegt zu haben. Im letzten Kapitel blieb ihm als des Werkes Krönung nur zu zeigen, wie kraft seines Temperaments just der Rheinländer berufen ist, diese in höhere dichterische Welt transponierten natürlichen Morale immer wieder am schallendsten zu allgemeiner Anerkennung zu bringen.

In diesem Absatz stellte der Verfasser fest und war von Lust beschwingt, als er sah, wie Materie durch Geistes feurige Hingabe flüssig wurde, welche Sicherheit, Trost und Rückhalt vor des Daseins lustlichen Mängeln ein in die Kunst verankerter esprit principe dem Menschen gewährt und wie mehr als bei allen zivilisierten Rassen und auch im übrigen Preußen in rheinischen Liedern und Balladen die bis ins kleinste durchgeführte programmatische Verklärung irdischen Jammertals erreicht war.

In ihnen, unvermeidlichen peinlichen Zufällen des Lebens zum Trotz, war durchgängig wie ein betonener Klotz der Zuversicht und des vollkommenen Glücks goldener Schatz aufgerichtet, der dem Berechner für alle Lebenslagen das Gegengewicht verblüffenden Selbstgefühls und die Behauptungskraft gab, der Schwarzberg ahnend aus Schlesiens Bergen nachgefolgt war.

Auf der Basis solcher ideellen Sicherheiten mußte in Wirklichkeit der Mensch nicht ängstlich sein, ob bei jedem irdischen Anlaß mit ihm sich alles schicklich fügte. Es genügte, man ließ bei öffentlichem Anlaß gemäß der im Hohen Lied gemarkten Richtlinien sich vernehmen. Stand vor und für Gesamtheit etwas auf dem Spiel, gab Ideologie Gesetz des Handelns. Dann war aus belangloser Anonymität mit ein paar Kommandos der Mensch geschnellt, dann wuchs mit Reimen, die im Blut saßen, und sich pünktlich einstellten er zu bessern Zwecken; dann verstand er nicht nur sich zu opfern, sondern wie Treitschke sagt, auch sonst tief berechtigte Empfindungen der Einzelseele, sein ganzes Ich an Allgemeinheit hinzugeben.

Darum durfte in gewöhnlichen Zeiten ihn die Obrigkeit auch seinem eigenen Behagen freier als andere Volksteile gehen lassen, die letzte Bereitschaft schriftlich und begreiflich nicht so einwandfrei ausgedrückt hatten.

Logisch erwarb aus hundert solchen Schlüssen Schwarzberg geistig auch für sich, was aus Elementen der am Rhein Geborene besitzt und schuf sich die starke Sicherung für bürgerliches Leben. Und wie rheinisches Blut durch Jahrhunderte in herrlichem Bogen in Dichtung zur Vollkommenheit geblüht hatte, so Schwarzberg in seiner zweibändigen Arbeit, die er »Traktat von der Psyche rheinischer Stämme« nannte und in Ungerscher Fraktur drucken ließ.

 

Als eines Sonntags in der Morgenstunde er ein leichtes Ränzel auf dem Rücken von Bonn linksrheinisch den Fluß hinan aufbrach, schienen ihm Flügel gewachsen, und jeder Schritt hatte klirrend Metallisches. Rings gingen Morgenglocken in weiter Runde, die ihm wahrlich heimatlich zuklangen. Das Schifflein, das zuerst auf weiter Flur anfuhr, grüßte er mit hallendem Schrei: du Schifflein gelt, das fährt sich gut in all die Lust hinein?

Er aber empfand sie in dem Augenblick am stärksten. Er selbst, von Zweifeln der Vergangenheit befreit, ging im Glanz wie der, der aus dem Purgatorium ins Paradies tritt. Alle Poren waren erquollen, und in glasige Blust schoß Lebkraft wie Sprudel. Blond wie Sonne war er gefärbt, des Himmels Bläue in seinem Blick gesammelt und er gewillt, den Knotenstock sinnlos wirbeln zu lassen. Nun wehten Kleider übermütig wie Segel um ihn, und großflügelig und wuchtig wie irgend ein Einheimischer kam er daher. Im Ohr hatte er schon des unverfälschten Heimattones Klang, mit dem er den ersten Begegneten angrüßen würde.

Nun war Dichterwort Syntax, die auf Schritt und Tritt Wirklichkeit betreute, nun stellte Verben, Adjektive und Substantive in der Dichtung er als gelungene begriffliche Überwindung umgebender Mannigfaltigkeit fest. Bei keiner Naturerscheinung war er aus dem Gefühl innerer Unsicherheit ihr gegenüber befremdet, sondern für jede hatte er in Versen schon entsprechenden Vorschmack.

Wie vor Theater stand er vor aller Schöpfung und konnte mit Namen nennen, was ihn früher – lächelnd fiel es ihm ein – unaussprechlich gedünkt hatte.

Jetzt, da er für inneres Zurechtfinden keiner Kraft mehr bedurfte, würde allen Schwung er an den Genuß an sich wenden, nicht mehr angestrengt erleben, sondern sich freuend nur noch leben müssen.

Natürlich stieg in diesem Augenblick der geistige Zusammenschluß in den beiden Bedeutungen des lateinischen Zeitworts diligere in ihm auf, das »auswählen« aber auch »ergötzen« heißt. Dilettant ist, wer auf Grund getroffener Auswahl sich ergötzt.

Er aber, als er in Andernach ankam, wollte es königlich, war zu klassisch rheinischer Lebensfreude bereit und mussierte an allen Ventilen.

An den Fluß selbst setzte unter einen Lindenbaum er sich in die erste Schenke, bewußt dies sei der Wirtsgarten, in den er fahrender Gesell falle, und es müsse nach Maßgabe unzähliger Trinklieder, die in ihm schwirrten, um ihn und in ihm Gemäßes bald anheben. Und in Vorstellungen becherte gewaltig aus schäumenden Pokalen schon der Zecher, ehe er der Schenkin noch Befehl gegeben hatte.

Über simple Trinkerei stellte er festlich sich gleich auf Saki Nameh, Goethes Schenkenbuch aus dem westöstlichen Divan ein und hieb wie eines Schlägers Klinge auf den Tisch den Ziegenhainer. Und als mit blonden Flechten prompt das Mädchen kam, dem wie in Liederbüchern im Mieder gerundet Brüste standen, war aus höherem Bewußtsein, ohne noch einen Tropfen genippt zu haben, Schwarzberg schon so geballt, daß er bedenklich wurde, wie der Leib des Gehirnes Orgie wohl folgen würde. Hypertrophisch schwollen ihm innere Brunnen, zum Himmel stieg er an Strickleitern und hing an goldener Lenzwolke sich auf. Erst ruhte er von geistigen Strapazen noch auf einer Mondwiese aus, dann aber saß er gewillt, den geistig vorbereiteten Taumel mit Macht ins Blut zu überführen.

Während er den ersten Schoppen Wein kostete und gespannt war, wie wohl der praktische Rausch begänne, von Dampfschiffen, denen er mit der Serviette Grüße zuwinkte, ihn Zuruf und Jauchzen traf, setzte ein älterer Gast sich zum Nebentisch, der bei der Bedienenden eine Böwlchen bestellte und gleich an Schwarzberg das Wort richtete. Froh sei er, so früh am Tag einen Kumpan zu finden, Seltenheit im Städtchen, das von des Frühschoppens Sitte immer mehr abfalle. In ihm aber sehe er noch den unentwegten Vertreter alter Stammesgewohnheit und dürfe als Landsmann aus dem trinkfesten Rheingau ihn wohl geradezu ansprechen.

Schwarzberg, das Glas am Mund, murmelte errötend Unverständliches, worauf begeistert in seinen Bowleneimer der Fremde stieg und mit dem Schöpflöffel ungezählte Male hastig sein Glas füllte, das er dringend gegen den Tischgenossen hob und, lustig zwinkernd, auf einen Zug leerte.

Der hielt es für an der Zeit, das Gläschen, in dem man ihn bis jetzt bedient hatte, fortzustoßen und eine neue Sorte Rüdesheimer in einem gläsernen Stiefel zu fordern, den er durch des Hauses offene Fenster über der Anrichte bemerkt hatte.

Nun rückte der Nachbar an des entschlossenen Zechers Tisch, man drückte sich Hände, sang ein halbes Dutzend jener Strophen, die Schwarzberg methodisch geprüft hatte, und es mischte schließlich in Männerstimmen das Mädchen blechernen Sopran.

Während Welt sich vollends verklärte, sah von zwei Eingebornen Schwarzberg sich ohne Arg für einen der ihren genommen und, Unbefangenheit nach außen zu beweisen, beschloß er, mit vollem Muskeldruck die Schenkin ins pralle Hinterteil zu kneifen.

Die Demonstration weckte Verständnis, und Stunden schwang zwischen drei Menschen, die sich durch Zufall gefunden hatten, religiöse Gemeinschaft. Nun troff den Männern der Bart und platzten Knöpfe dem Mädchen am Latz, nun glitten schon Hände von einem Arm, einem Schenkel zum andern und klatschten hin. Alles schwamm und man umfaßte sich paarweis und zu dritt. Schon sank ein Haupt an diese oder jene Brust, und aus trunkenen Mäulern sabberten jene Vokabeln, die aus eisernem Bestand der Bewußtseinsinhalte noch in urmenschlichem Zustand das gesegnete Völkchen entleiht.

Mit dem Hintergrund einer fixen Ideologie gab es für alle drei nur noch das stürmische Verlangen, in bodenlosen Abgrund auszurutschen, aus dem über die Steigleiter pompöser Begriffe man sich zu gegebener Stunde in bürgerliche Gemessenheit leicht wieder erhöbe. Wirklich war, als Schwarzberg am nächsten Morgen mit dem Eindruck erwachte, er habe geraume Zeit in Salzwasser gelaugt, der Anschluß an sittlicher Bedacht bald wieder gefunden, sein Leib aber über die qualvollen Minuten, in denen er das bei ihm ruhende Mädchen in die Kleider zum Zimmer hinausstieß, matt und in einer Weise geschwächt, die ihm zu augenblicklichen Qualen das Bedenken brachte, wie nach geglückter mentaler Erziehung zum Rheinländer er diesem auch leiblich in Zukunft nachwachsen könne.

Denn nun, war ihm offenbar, mische er sich kühnlich in des Landstrichs Gewirk, könne das gestrige Erlebnis nicht Ausnahme oder gar das sein, was als Höchstleistung im Genuß der Eingesessene vermöge, sondern nur durchschnittliche Temperamentsäußerung. Aber auch: er müsse immer ein Ausgestoßener bleiben, werde, aus einer an Saftüberschüssen ebenbürtigen Leibesfülle er besser seinen Stamm zu stellen nicht fähig.

Hier begriff er, sei seines Lebens neuer Halt. Zu jäh marschbereit, habe er vor großem Aufbruch noch einmal zu verweilen. Und ließ schon wieder die Hosenträger herab, warf Kleider von sich und präsentierte seinen nackten Menschen von allen Seiten in dem Spiegel.

Da geschah nun freilich ein nicht minder großer Zusammenbruch von Hoffnungen als zu Anfang seines geistigen Lernens. Der Spiegelinhalt, gestand er sich, war trist. Er erinnerte sich, auch ehemals nicht mit Muskeln bepackt gewesen zu sein. Das Männchen vor ihm aber war nicht der Rede wert. Er begriff überhaupt nicht, wie für alle Organe, über die er bestimmt verfügte, in solchem Brustkörbchen Platz war. Besonders von den Lungen konnte er sich nur das armseligste Bild machen, ganz abgesehen davon, daß nach der edlen inneren Teile sparsamster Unterbringung für Eingeweide wirklich kein Ort blieb.

Wehmütig stimmten ihn die Beine, wehmütiger die schlaffen Arme, und als er die Höhlen der Schlüsselbeine sah, stand es für ihn fest, die Zeitspanne, die er an des Leibes Instandsetzung noch zu wenden haben würde, möchte nicht kürzer als die sein, in der er seinen seelischen Habitus aufgeräumt hatte.

Bevor er aber zu neuem großen Opfer sich entschloß, versuchte er mit Halbheiten, sich ihm noch zu entziehen. Des Ortes Apotheke betrat er und verlangte Plätzchen, deren Wirkung an öffentlichen Orten als die Lebenskraft anfeuernd gepriesen war.

Nachdem er die doppelte Dosis genommen hatte, schiffte auf dem Doppelraddampfer Kaiseradler in Richtung Rüdesheim er sich ein und machte auf Deck durch forschen Gesamteindruck sich gleich bemerkbar. Er jauchzte und juchhete bei jeder Ruine, an der das Schiff vorbeiglitt, am lautesten und brachte bei Salm und Aßmannshäuser während der table d'hôte den spritzigsten Toast aus, der in die Worte gipfelte: »Grüß mir das blonde Kind am Rhein und sagt ich käme wieder.« Auch hatte er mit einer Blonden so feurige Blicke gewechselt, daß er begriff, dem Mädchen letzte Steigerung über ihn beizubringen, müsse er alsbald Außerordentliches wagen, und auch wußte, hierfür tauge einzig der Augenblick, an dem man die Loreley kreuze.

Vom Kapitän, dem alten Seebär, erfuhr er, pünktlich um zwei Uhr mittags werde der romantische Felsen passiert und vom Publikum die Hymne angestimmt. Für diesen Augenblick hielt sich Schwarzberg bereit.

Als in seinen und des Mädchens Augen der Brand vulkanisch, und es schon ein berauschtes Hinundherweben zwischen ihnen war, tauchte das steinerne Sphinxhaupt auf, Menge erhob sich, Münder rundeten sich zum ersten Ton der Strophe und es scholl:

Ich weiß nicht, was soll das bedeuten,
Daß ich so traurig bin.
Ein Märchen aus alten Zeiten
Das kommt mir nicht aus dem Sinn.

Bei diesen Worten und während wie von ungefähr über den Busen die junge Dame den Shawl raffte und himmelblau Gestalt annahm, warf mit Ruck Rock und Weste Schwarzberg ab, schleuderte Chemisette und Manschetten fort und warf vom Geländer sich zu Füßen der sagenhaften Jungfrau in schäumende Gischt, in der er verschwand, aus der er aber gleich wieder hochfuhr und mit dem Arm, den er beim Schwimmen entbehren konnte, herrliche Bogen rollte, während er gen Bord sang:

Der Gipfel des Berges funkelt
Im Abendsonnenschein!

Eine Schaluppe fischte ihn und triefend trat er vor die begeisterten Passagiere wieder auf Deck.

Wenn aber auch die Jungfrau in Rüdesheim mit ihm das Schiff verließ, und es ihm von diesem Donnerstag auf den Freitag bis zu ihrer Abreise an nichts fehlen ließ, erlebte er am anderen Morgen doch einen so tragischen Bruch seines Leibes, daß er in acht Tagen, da der Tod an seinem Bett stand, zum andernmal sah, nicht künstliche Mittel, sondern nur methodische Aufzucht konnten auch den Körper zum Leben aus dem Vollen stählen.

Der in Bonn eingeholte Rat eines inneren Klinikers veranlaßte ihn zur schnellen Übersiedelung in ein am Strom gelegenes Krankenheil, dessen leitender Arzt mit Mast- und Liegekur auf ihn eindrang, bei der in vier Monaten er dreißig Pfund zunahm. Zugleich aber konnte er des Hauses Mitbewohnern das Geheimnis absehen, wie sie mit möglichst geringer Eigenkraft immer und überall Leben für sich zu Schaum schlugen.

Das geschah aber wirklich so, daß aus dem durch lyrische Zwangsvorstellungen in ihnen schon angerichteten Rauschegeist sie alle Situation in verklärtem Sinn geändert, von einem schon gemaischt und gewalkt fanden, so daß ihnen auf allem Boden ein Satz gor, der, mit einem Funken Witz angequirlt, neu zu Kopf stieg. Nur mußte alle Welt die Rezepte auswendig wissen und fest an sie glauben; dann brauste mit eines Einzigen Anspielung in gewolltem Sinn der Gärstoff auf und richtete unbändigen Übermut an. Darum konnte aber auch ein fremdes Element in der Gesellschaft alle Heiterkeit aufheben und in Mißmut wandeln, aus dem man mit Ketten nicht mehr die Versammlung hob.

So stufte und vertiefte er manches und war stets darauf aus, die eigene Elastizität nach der andern Beispiel zu vergrößern.

Da war in goldener Brille und bürgerlicher Aufmachung jener runde Fünfziger, den er für einen Kirchenmann oder Spiritisten gehalten hätte, bis er erfuhr, er habe den Besitzer der größten heimischen Sprengstofffabriken vor sich, die gerade dabei waren, mit dem auf das Fünffache erhöhten Aktienkapital die Ammoniaksynthese in die Praxis zu überführen, durch die man in künftigen Kriegen Völkerschaften bis zu zwölf Millionen Einwohnern binnen zehn Stunder mit Stumpf und Stiel ausrotten könne. Dieser also sprach ihm vom Glanz der vier kanonischen Evangelien, die sein Wachen und seinen Schlummer wärmten oder von seinem Lieblingsdichter Swedenborg und der Katharina Emmerich, an deren Wohnort er gewallfahrtet sei und deren entrückte Bekenntnisse für ihn den Comble bedeuteten. Hier, sah Schwarzberg, wölbte sich in einer Person der gewaltige Bogen, in den alles All mühelos hineinging.

Dieser in Taten banale und brutale Mitmensch gab zum Wesen der Dichtkunst ihm den letzten Aufschluß, bewies er ihm, wie das Gleichnis, die Metapher von einziger Bedeutung, doch so ist, daß blauen See man zwar mit Himmel vergleichen könne, indem man damit den See erhöbe, ohne den Himmel herabzusetzen, aber den Himmel nicht mit einer blaugestrichenen Tür, weil man den Himmel herabsetzt, ohne die Tür zu erhöhen.

Es sei des Dichters Korrespondenz das ein für allemal Hochthronende, zu dem Irdisches nur vergleichsweise hinaufgezogen werden könne. Wahnsinn aber sei es, Gleichnis in Wirklichkeit umsetzen, von durchschnittlicher Natur wirklich fordern zu wollen, was erst im Bild von ihr existent sei. Logisch sei es ein Widerspruch in sich selbst. Denn einzig durch Gegensatz zur Wirklichkeit bestehe Metapher oder – um es einmal gerade heraus zu sagen: Ein im Sinn des Vergleichs schon an sich vollkommenes Stück Natur geht seiner Verklärung und damit jedes Interesses für den Kunstsinnigen verloren.

Die letzten Bemerkungen überzeugten Schwarzberg.

Wäre das in der Kunst Gezeigte auch anders darzustellen, käme ihr im Leben der Völker die überragende Bedeutung nicht zu, die man trotzdem geschichtlich feststelle und sei vor allem nicht strikte Notwendigkeit.

Und das sei des Rheinländers Verdienst und zeichne vor allem ihn aus: die von ihm ausgedrückte Überzeugung: das Ganzgewöhnliche im Leben, und in der Kunst das Erhabene korrespondiert vergleichsweise und nicht wirklich – oder: daß Kunst erhaben sei, darf ihre Tendenz das Leben nicht vorwegnehmen. Leben wird im Gleichnis der Kunst erst wesentlich und vollständig und – alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis.

Wie immer, wenn Schwarzberg zu einem Abschluß kam, stellte sich auch hier seiner Erkenntnis Krönung in einem Wort von Goethe ein.

 

Als er durch Pflege endlich perfekt bei Leibe war und schon begann, im Leben aufzutrumpfen, stand ihm erst jetzt das innere Senkblei wirklich so: an ein höheres Gleichnis der Kunst angeseilt, kann der Mensch im Leben noch so schlüpfrigen Weg, schlimmen Abgrund ohne Angst betreten. Es bedeute daher Mangel an Mut, sich nicht nach allen Seiten auszuleben, wie wenn der mit Korkgürtel und Schwimmweste Gefeite doch offenes Wasser scheue.

Er selbst hatte jedenfalls letztes Bedenken verloren. Seine Fähigkeit, noch bei peinlichstem Ereignis den Bogen in Wolken zum verklärenden Vergleich zu schlagen, bekam ein Fabelhaftes und schon suchte hier und da ein Einheimischer, der zu tollkühn über irdische Stränge geschlagen hatte, Halt bei Schwarzbergs Sicherheit.

Als er das Staatsexamen bestanden hatte und als Dozent schon Erkenntnisse verbreitete, neigte er dazu, die Notwendigkeit krassen Gegensatzes zwischen dichterischer Metapher und bloßem Erlebnis stärker zu betonen, bis er es schließlich für die zeitgenössische Tugend an sich erklärte, in einer Epoche, in der Kampf ums Dasein alles Übrige notwendig erdrossele, praktische Gewalt nicht etwa zu scheuen, sondern in der Gewißheit zu steigern, nachhinein bessere geläuterte Theorie doch jeden Schönheitsfleck an dem Geschehener. Es sei der Aufstieg von naiver Schuld zu geistiger Sühne des Menschenlebens eigentlich zu schätzender Sinn.

So lebte er anerkannt am Rhein und von Erleuchteten schon gehätschelt. Gern stellte er mit Kollegen der erkenntnistheoretischen Fakultät fest, wie das für alle deutsche Dichtung Geltende nicht weniger gründlich in deutscher Philosophie durchgeführt sei. Auch in ihr stelle man unentwegt und überzeugt der bloßen Erfahrungswelt die Welt intuitiver Erkenntnis entgegen, das Sollen dem Sein. Und lasse sich von dem anscheinend zwischen beiden klaffenden Abgrund besonders von dem Augenblick ab nicht mehr irremachen, seitdem Schiller die gedankliche Verbindung zwischen beiden hergestellt hatte.

Als darum im Umgang mit der Familie seines ordentlichen Professors, Schwarzberg an dessen gereifter Tochter Emilie aus sinnlicher Wahrnehmung manches auszusetzen hatte, gelang es mit Hilfe seiner Willensfreiheit doch, a priori aus ihr soviel Werte zu ziehen, daß ein Verlöbnis um so müheloser gelang, als er überzeugt war, mit dieses Mädchens Eintritt in sein Leben sei die letzte Gefahr geschwunden, der in tiefsten Gründen zurückgehaltene vulkanische Rest des Sauerteigs seiner schlechten Herkunft möchte irgend einmal noch gefahrbringend aufwallen.

In dieser Gewißheit wurde er bestärkt, als man sich anschickte, den Hausstand und Trousseau der Braut zu richten, und er in abendlichen Nähstunden, der sich beim Schoppen die Männer gesellten, bemerkte, wie man in Strümpfe, Hosen und Hemden Emilies, daß sie der Reihe nach von ihr getragen würden, mit rotem Garn fortlaufende Zahlen stickte. Durch sie würde selbst bei intimen Vorgängen seiner Ehe die Verbindung zur Wirklichkeit und Erde bleiben, innerhalb allenfalsiger Entrückungen jene führende Leitung eben, die Verbindung zwischen Einerseits und Andererseits unter allen Umständen aufrecht erhalten und sein auch nur momentanes Taumeln verhüten würde.

 

Für in acht Tagen war die Hochzeit bestellt, als Schwarzberg wie zu klösterlicher Reinigung beschloß, drei Tage in eines Dorfes Waldeinsamkeit zu verbringen. Dort sollte Vergangenes überprüft und eingesargt, Künftiges in Richtlinien markiert werden. Auch er trug jetzt schon numeriert und nach der Reihe Wäsche. In Strümpfen und Unterjacke Nummer fünf fühlte er sich auf der Fahrt wohl, als beim Einsteigen in die Nebenbahn ihm ein Frauenzimmer auffiel, dessen Anblick ihn dann jäh in zwei Hälften zerriß.

Er fror, glühte, zweifelte und besann sich. Ihm stürzte Leben in Stücken zurück, und er fühlte sich nackt und ein Knabe. Er sah hin und war überzeugt: sie ist's! Jenes Mädchen, dem er, ein Jüngling, vor fünfzehn Jahren im Eisenbahnabteil erschüttert gegenübergesessen und das ihn wie einen geweihten Wachsstock zu neuem Dasein entzündet hatte. Augen quollen, hingen sich so durstig an das Weib, daß das berührt war und Blicke ihm fragend hinhielt. Er öffnete auch den Mund, Unfaßbares zu formen, doch noch immer versagte sich Zusammenhang. Endlich stotterte er jener schlesischen Stationen Namen, zwischen denen das Ereignis stattgefunden hatte und sah, wie des Fräuleins Spannung sich in Begreifen löste, sie nickte und lachte.

Sie erinnerte sich und meinte, sie sei damals durch sein Umfassen vom Tode gerettet worden. Sie sprach frei und gab sich wie ein Vogel bei Futter und Sonne, schlug ein Bein aufs andere, daß gelber Strumpf blitzte und berührte sein Knie. Er aber saß noch in alter Demut Dunst gehüllt, als ihre Stimme ihn schon ermunterte, sich vor ihr nicht zu haben und ihm Wege zum Respekt abschnitt. Sie betonte stürmisch, sie sei sie selbst und von Familie und Vorurteilen unabhängig, daß er zu zittern begann und zum erstenmal nicht wußte, wie zwischen Wirklichkeit und Idee vermitteln. Denn während sie ihm der hehrsten Ehrfurcht Begriff noch verkörperte und er gerichtet war, Rocksäume zu küssen und sie neben das Bild Emilies, seiner irdischen Braut, sofort als seine himmlische Liebe gestellt hatte, rauschten aus ihr grelle, nicht mißzuverstehende Töne. Vor einem Jahr habe sie das Elternhaus verlassen, dessen drollig unmenschliche Haltung sie nicht mehr begriff, habe dem Zufall und ihrem Gefühl gelebt, das sie immer entzückt und nie getäuscht habe. Sicher und glücklich sei sie aus Instinkten, fände Leben himmlisch und ihn – das verhehle sie nicht – reizend. Er solle nun aber auch menschlich mit ihr, nicht wie mit einer Dame sprechen. So wie es junge Leute von heute machen, nicht wie Herrschaften in Büchern.

Noch wollte Schwarzberg die Glasglocke seiner Einbildung schonen, aber schon überlief ihn Lust, daß er nicht mehr wußte, wie ihm geschah.

Alles Uhrwerk in ihm ließ nach; Flut wuchs in Glut. Er brach wie Morgenrot an und zärtliche Himmel fielen auf ihn. In rosenroter Wolke flog er da an ihren Mund und starb in großem Loch goldenen Tod. Drei Tage lang warf Sturm sie stets von neuem zueinander. Fleisch war Sammet, und Herzen gingen auf Rubinen. In allen Winkeln ihres Gasthofzimmers entlockten hinter grünen Fensterläden sie sich immer süßeren Honig und sangen vom gleichen Lied stets holdere Strophen.

Aber auch in den Augenblicken, da er sein Bewußtsein fand, konnte er bei ihr zwischen a posteriori und a priori, vorher und nachher, gemachter Erfahrung und Sehnsucht, Sein und Sollen überhaupt nicht unterscheiden. Sondern hier war Vorstellung Urteil, Gleichnis Natur, Schicksal Freiheit, und es schien, um mit diesem Weib seliger, als es ihm bisher möglich war, zu leben, keiner Theorie, keines Vorsatzes und der Dichtkunst nicht mehr zu bedürfen. Ja, es dünkte ihn, ihr gesellt, spielte sogar der Umstand, ob man am Rhein und als Preuße oder sonstwo simpel geboren war, nicht die ausschlaggebende Rolle. Während er unbändiger des Bluts Witterung stillte, und alles, was er lebte, Himmel war, stand hinterm Zaun sein Gewissen schon auf Lauer und warf Steine ins Blumenbeet. Und trotzte mit der Drohung fünfzehn sonst verlorener Jahren, alles mühsam Erarbeiteten und Gewußten auf, warnte und beschwor ihn, kam mit Induktionen, Deduktionen, Reduktionen und setzte ihm schließlich gegen den »natürlichen Wert des Lustgefühls« den »Gotteswert des transzendentalen Idealismus« als Laus ins Ohr. Da – in einer eiskalten Sekunde – ward trotz des Wunders in seinen Armen diese letzte Weisheit in ihm reif:

Es müsse sein Glück nicht Glück, sondern Sinnestäuschung sein, weil aus seiner und des Weibes Haltung Schuld nicht erhelle, die aller Erfahrung nach in solcher Handlung zweifellos enthalten sei. Und nur darum erscheine auch der Weg zur Sühne nicht, der wie ohne weiteres zu begreifen sei, doch aller Inhalt menschlicher Freiheit ist.

Mit der aus dieses Weibes Leib immer von neuem strömenden Wonne habe es füglich auf sich, was man eine demens oder aufgehobene Willensfreiheit nenne, oder was der Laie als perverse Verirrung bezeichne, forensisch aber im Paragraphen einundfünfzig des Strafgesetzbuches seine gebührende Verurteilung finde.

Und im rechten Augenblick tauchte Emiliens Bild in ihm auf, ihn mit der Heilaussicht seines an ihrer Seite möglichen menschlichen Aufschwungs wieder zu erfüllen.

Als von irdischen Glücksmöglichkeiten erschöpft, Eva in vierter Nacht schlief, stahl auf leisen Sohlen Schwarzberg sich von ihr ins Dunkel und eilte über Stock und Stein zum erleuchteten Bahnhof, den Zug zu fassen, der ihn der Verlobten und endgültig erkannter Pflicht in die Arme führen sollte.

 


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