Laurence Sterne
Empfindsame Reise
Laurence Sterne

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Charakter.

Versailles.

– »Und wie finden Sie die Franzosen?« fragte der Graf von B . . . ., nachdem er mir den Paß gegeben hatte.

Der Leser kann voraussetzen, daß ich nach einem so zu Dank verpflichtenden Beweise seiner Gefälligkeit nicht in Verlegenheit sein konnte, auf diese Frage etwas Artiges zu erwiedern.

»Mais passe, pour cela – Sagen Sie aufrichtig«, sprach er: »finden Sie in den Franzosen all die Urbanität, welche uns die Welt zuzugestehen die Ehre erweist?« – Ich hätte Alles gefunden, sagte ich, was dies bestätigte. – »Vraiment«, sagte der Graf – »les Français sont polis.« – »Ueber die Maßen«, erwiederte ich.

Dem Grafen schien das Wort »über die Maßen« aufzufallen, und er behauptete, ich hätte mehr im Sinn, als ich sagte. Ich vertheidigte mich lange Zeit so gut ich konnte – doch er blieb dabei, daß ich noch etwas im Hinterhalt hätte, und ich möchte meine Meinung nur frei aussprechen.

»Ich glaube, mein Herr Graf«, sagte ich, »der Mensch hat, ebensowohl wie ein musikalisches Instrument, einen genau bestimmten Umfang, und die sozialen und andern Bedürfnisse nehmen der Reihe nach jede Tonart bei ihm in Anspruch, so daß, wenn Sie einen Ton zu hoch oder zu tief greifen, ein Mißklang entweder in den oberen oder unteren Partien entstehen muß und in dem Gebäude der Harmonie sich eine Lücke zeigt.« – Der Graf von B . . . . verstand nichts von der Musik, und bat mich daher, ihm eine andere Erklärung zu geben. »Eine gebildete Nation, verehrter Herr Graf«, sagte ich darauf, »macht jedermann zu ihrem Schuldner; und überdies hat die Urbanität selbst, gleich dem schönen Geschlechte, so viele Reize, daß man es nicht über das Herz bringt, zu sagen, sie könne Uebles anrichten. Und doch, glaube ich, ist es nur eine gewisse Linie der Vollkommenheit, welche der Mensch, im Ganzen genommen, zu erreichen befähigt ist. Geht er darüber hinaus, so vertauscht er vielmehr nur seine Eigenschaften, als daß er neue erwirbt. Ich maße mir nicht an, zu sagen, in wie fern dies in dem Falle, wovon wir sprechen, auf die Franzosen anwendbar ist; – aber sollte es jemals geschehen, daß die Engländer in dem Fortschritt ihrer Verfeinerung zu derselben Politur gelangten, wodurch sich die Franzosen auszeichnen, so würden wir, wenn auch nicht die politesse du coeur, welche die Menschen mehr zu menschlichen als zu höflichen Handlungen geneigt macht – doch wenigstens jene entschiedene Mannigfaltigkeit und Originalität des Charakters verlieren, welche uns nicht nur von einander, sondern auch von der ganzen übrigen Welt unterscheidet.«

Ich hatte einige Shillinge aus König Wilhelms Zeit, so glatt abgewetzt wie Glas, in meiner Tasche; und da ich voraussah, daß sie mir bei der Erläuterung meines Satzes dienlich sein würden, so hatte ich sie, als ich bis zu dieser Stelle gekommen, in die Hand genommen.

»Sehen Sie, mein Herr Graf«. sagte ich, indem ich aufstand und sie vor ihn auf dem Tisch hinlegte – »durch siebenzig Jahre langes Klimpern und Scheuern an einander, in bald dieser, bald jener Leute Taschen, sind sie sich so ähnlich geworden, daß Sie schwerlich einen Shilling von dem andern unterscheiden können.«

»Die Engländer, gleich antiken Münzen mehr ausgespart und nur durch weniger Leute Hände gehend, behalten die anfängliche Schärfe bei, welche ihnen die feine Hand der Natur aufgedrückt hat – sie sind nicht so glatt anzufühlen; dagegen aber ist die Inschrift so lesbar, daß Sie gleich beim ersten Blick erkennen, wessen Bild und Ueberschrift sie tragen. Die Franzosen hingegen, Herr Graf«, fügte ich hinzu, um das, was ich gesagt hatte, zu mildern, – »haben so viele Vorzüge, daß sie jene um so besser entbehren können – Sie sind ein treues, tapferes, großmüthiges, geistreiches und wohlgelauntes Volk, wie es nur eins unter dem Himmel geben mag. Wenn sie einen Fehler haben, so ist es der – sie sind zu ernsthaft

»Mon Dieu!« rief der Graf aus, indem er von seinem Stuhl aufsprang –

»Mais vous plaisantez«, sagte er, seinen Ausruf verbessernd. – Ich legte die Hand auf die Brust und versicherte ihm mit nachdrucksvollem Ernste, daß es meine festbegründete Ueberzeugung sei.

Der Graf sagte, es thäte ihm sehr leid, daß er nicht bleiben könne, um meine Gründe anzuhören; er müsse den Augenblick zur Mittagstafel bei dem Duc de C . . . . gehn.

»Wenn es Ihnen aber nicht zu weit ist, nach Versailles zu kommen und mit mir zu Abend zu speisen, so bitte ich, daß ich, ehe Sie Frankreich verlassen, das Vergnügen haben mag, zu erfahren, wie Sie Ihre Meinung zurücknehmen – oder dieselbe behaupten. – Doch wenn Sie sie behaupten, mein Herr Engländer, so müssen Sie dies aus allen Kräften thun, weil Sie die ganze Welt gegen sich haben.« – Ich versprach dem Grafen, daß ich mir die Ehre geben würde, bei ihm zu speisen, ehe ich nach Italien aufbräche; – und damit empfahl ich mich.

Die Versuchung.

Paris.

Als ich vor meinem Hôtel ausstieg, sagte mir der Portier, daß ein junges Frauenzimmer mit einer Putzschachtel eben kurz vorher nach mir gefragt hätte. – »Ich weiß nicht«, sagte der Portier, »ob sie schon wieder weg ist oder nicht.« – Ich ließ mir von ihm den Schlüssel zu meinem Zimmer geben und stieg die Treppen hinauf; und als ich mich bis auf zehn Stufen von dem obersten Tritt der Treppe vor meiner Thür genähert hatte, begegnete ich ihr, wie sie eben gemächlich wieder herabkam.

Es war das hübsche Kammermädchen, mit dem ich über den Quai de Conti gegangen war. Madame de R . . . . hatte sie mit einigen Aufträgen zu einer Putzhändlerin geschickt, deren Laden sich ein paar Schritt von dem Hôtel de Modène befand; und da ich ermangelt, ihr meine Aufwartung zu machen, so hatte sie ihr befohlen, nachzufragen, ob ich Paris verlassen, und wenn dies der Fall wäre, ob ich nicht einen Brief an sie zurückgelassen hätte.

Da das hübsche Kammermädchen sich so nahe an meiner Thür befand, so kehrte sie um und ging mit mir auf einen oder zwei Augenblicke, während dessen ich ein Billet schreiben wollte, in mein Zimmer.

Es war ein schöner, stiller Abend in den letzten Tagen des Monat Mai – die purpurrothen Fenstervorhänge (von gleicher Farbe mit den Bettvorhängen) waren dicht zugezogen – die Sonne war im Untergehen begriffen und legte eine so warme Färbung auf das Gesicht des hübschen Kammermädchens, daß ich glaubte, sie erröthete – der Gedanke daran machte mich selbst erröthen – wir waren ganz allein; und dies trieb mir eine zweite Röthe ins Gesicht, ehe noch die erste Zeit gehabt, zu verfliegen.

Es giebt eine Art von süßem, halb schuldigem Erröthen, woran das Blut mehr Antheil hat als der innere Mensch – es wird mit Ungestüm vom Herzen ausgeschickt, und die Tugend eilt ihm rasch nach – nicht um es zurückzurufen, sondern um die Empfindung davon den Nerven um so köstlicher zu machen, gesellt sie sich zu ihm.

Doch ich will das nicht weiter ausführen. – Ich fühlte anfänglich etwas in mir, was nicht völlig im Einklange stand mit den Ermahnungen zur Tugend, die ich ihr am Abend vorher ertheilt hatte. – Ich suchte fünf Minuten lang nach einer Karte – ich wußte, daß ich keine hatte – Ich ergriff eine Feder – ich legte sie wieder weg – meine Hand zitterte – kurz der Böse war in mir.

Ich weiß ebenso gut als irgend jemand, daß er ein Widersacher ist, der, wenn wir ihm widerstehen, vor uns die Flucht ergreift; – aber ich widerstehe ihm doch selten, aus Furcht, ich möchte, wenn ich auch siegte, doch eine Wunde aus dem Kampfe davon tragen. Und so gebe ich den Triumph für die Sicherheit auf; und anstatt daran zu denken, ihn in die Flucht zu jagen, fliehe ich gemeiniglich selbst.

Das hübsche Kammermädchen kam dicht an meinen Schreibtisch heran, wo ich nach einer Karte herumsuchte; – hob erst die Feder auf, die ich hinunter geworfen hatte; erbot sich dann, mir das Dintenfaß zu halten, und that das mit so viel Anmuth, daß ich schon im Begriff stand, es anzunehmen; – allein ich wagte es nicht. – »Ich finde nichts, meine Liebe«, sagte ich, »worauf ich schreiben könnte.« – »Ei«, sagte sie naiv, »schreiben Sie, auf was Sie wollen.«

Eben wollte ich ausrufen: »Dann will ich es auf deine Lippen schreiben, schönes Mädchen! –«

»Wenn ich dies thue«, sagte ich, »so ist es um mich geschehen!« – und also nahm ich sie bei der Hand, führte sie nach der Thür hin und bat sie, der Ermahnung nicht zu vergessen, die ich ihr gegeben hätte. – Sie sagte, sie würde es gewiß nicht – und indem sie dies mit einem gewissen Ernst äußerte, wandte sie sich um und legte ihre beiden zusammengefaltenen Hände in die meinigen. – Es war in dieser Situation unmöglich, sie nicht zu drücken. – Ich wünschte, sie los zu lassen, und die ganze Zeit über, da ich sie hielt, predigte ich bei mir selbst dagegen – und doch hielt ich sie fest. – Nach zwei Minuten fand ich, daß ich den ganzen Kampf von Neuem durchzumachen hätte – und fühlte, wie meine Beine und jedes Glied an mir bei diesem Gedanken erbebten.

Der Fuß des Bettes war etwa anderthalb Schritte weit von der Stelle, wo wir standen, entfernt – ich hielt noch immer ihre Hände umfaßt – und wie es geschah, kann ich nicht sagen – aber ich bat sie nicht – ich zog sie nicht – noch hatt' ich einen Gedanken an das Bett– genug, es machte sich so –: wir kamen beide darauf zu sitzen.

»Ich will Ihnen doch«, sagte das hübsche Kammermädchen, »die kleine Börse zeigen, die ich mir heute zu Ihrer Krone gemacht habe.« Dabei fuhr sie mit der Hand in ihre rechte Tasche, die mir zunächst war, und suchte eine Weile darin – dann in die linke –: »sie hätte sie verloren.« – Ich ertrug nie eine Erwartung mit größerer Ruhe – endlich fand sie sich doch in ihrer rechten Tasche. Sie zog sie heraus: sie war von grünem Taffet, mit einem schmalen Saume von weißem Atlas eingefaßt und grade groß genug, um die Krone zu fassen. Sie gab sie mir in die Hand – sie war recht niedlich – und ich hielt sie wohl zehn Minuten in meiner Hand, deren Rückseite auf ihrem Schoße ruhte, und sah bisweilen auf das Beutelchen, bisweilen seitwärts daneben weg.

Es waren ein oder zwei Stiche in den Falten meiner Halskrause aufgegangen. Das hübsche Kammermädchen holte, ohne ein Wort zu sagen, ihr kleines Nähtäschchen hervor, fädelte eine feine Nadel ein und nähte sie zu. – Ich sah voraus, daß dies die Glorie dieses Tages gefährden würde; und wie sie bei dem Manoeuvre mit ihrer Hand an meinem Halse, ohne zu sprechen, hin und her fuhr, fühlte ich, wie der Lorbeer, welchen die Phantasie schon um meine Schläfe gewunden hatte, zu wanken begann.

Ein Schuhriemen war ihr im Gehen losgegangen und ihre Schuhschnalle wollte eben herunterfallen – »Sehen Sie doch«, sagte das Kammermädchen und hob ihren Fuß empor. – Ich konnte bei meiner Seele nicht anders, als ihr aus Erkenntlichkeit die Schnalle wieder fest zu machen und den Riemen einzuziehen. – Und als ich damit zu Stande gekommen war und den andern Fuß zugleich mit erhob, um zu sehen, ob beide in Ordnung wären – mochte ich dies nun zu plötzlich gethan haben – genug, es brachte das hübsche Kammermädchen, ohne daß ich es vermeiden konnte, aus dem Gleichgewicht – und hierauf –

Der Sieg.

Paris.

Ja – und hierauf! – – Ihr, deren eiskalte Köpfe und lauwarme Herzen eure Leidenschaften wegphilosophiren oder maskiren können, sagt mir, was für eine Sünde ist es, daß der Mensch welche hat? oder wofür kann sein Geist dem Vater der Geister verantwortlich sein, als wie er sich ihrer Macht gegenüber verhalten hat?

Wenn die Natur das Gewebe der zärtlichen Empfindungen so gewoben hat, daß einige Fäden der Liebe und des Verlangens mit durch das ganze Stück laufen –: muß deswegen das ganze Gewebe zerrissen werden, um sie herauszuziehen? – Züchtige mir solche Stoiker, großer Beherrscher der Natur! sagte ich bei mir selbst. – Wohin auch immer deine Vorsehung mich stelle zur Prüfung meiner Tugend – wie groß auch meine Gefahr sei – welcher Art meine Lage – laß mich die Regungen empfinden, die daraus entspringen und die zu meinem menschlichen Wesen gehören. Und wenn ich sie als guter Mensch beherrsche, so will ich den Ausgang deiner Gerechtigkeit überlassen: denn du hast uns gemacht, und nicht wir uns selbst.

Als ich diese Anrede geschlossen hatte, richtete ich das hübsche Kammermädchen mit der Hand empor und geleitete sie aus dem Zimmer. Sie blieb neben mir stehen, bis ich die Thür abgeschlossen und den Schlüssel in die Tasche gesteckt hatte – – Und hierauf – – indem der Sieg völlig entschieden war – und nicht eher, drückte ich meine Lippen auf ihre Wange, ergriff von Neuem ihre Hand und führte sie wohlbehalten zur Thüre des Hôtels.

Das Geheimniß.

Paris.

Wer das menschliche Herz kennt, wird begreifen, daß es mir unmöglich war, sogleich in mein Zimmer zurückzugehen – das wäre gewesen, als ob ich am Ende eines Musikstücks, das alle meine Gefühle bewegt hätte, aus dem Dur-Accord plötzlich in die kleine Terz fiele. Deshalb blieb ich, nachdem ich die Hand des Kammermädchens hatte fahren lassen, eine Weile in der Thür des Hôtels stehen, indem ich mir die einzelnen Leute, die vorübergingen, ansah und Muthmaßungen über sie nachhing, bis meine Aufmerksamkeit von einem einzigen Gegenstand gefesselt wurde, welcher jede Art von Vermuthung zu Schande machte.

Es war eine lange Gestalt mit einem philosophischen, ernsten, finstern Blicke, welche langsam die Straße auf- und niederging, indem sie in einer Entfernung von ungefähr sechszig Schritten zu jeder Seite von der Thür des Hôtels wieder umkehrte. – Der Mann war etwa ein Zweiundfünfziger – hatte einen dünnen Stock unter seinem Arm, war in einen dunklen, schwarzgrauen Rock und eine Weste und Beinkleider von derselben Farbe gekleidet, welche ihren Dienst schon mehrere Jahre lang versehen zu haben schienen; doch waren sie noch sauber und gaben der ganzen Gestalt das Ansehen einer gewissen ärmlichen Propreté. Aus seinem Hutabziehen und seiner Geberde, mit der er sich vielen an ihm Vorübergehenden näherte, konnte ich ersehen, daß er um ein Almosen bat, und so nahm ich ein Paar Sous aus der Tasche, um sie ihm zu geben, wenn er sich vielleicht auch an mich wendete. Aber er ging an mir vorüber, ohne mich um etwas zu bitten; – und doch war er nicht fünf Schritte weiter gegangen, als er ein kleines Frauchen um eine Gabe ansprach – obgleich es weit wahrscheinlicher war, daß von uns beiden ich etwas geben würde. Kaum war er mit der kleinen Frau fertig, als er seinen Hut vor einer andern abzog, die desselben Weges kam. – Ein alter vornehmer Herr ging langsamen Schrittes vorbei – und nach ihm ein junger flotter Bursche – er ließ sie beide vorüber, ohne sie anzusprechen. Ich blieb, um ihn zu beobachten, wohl eine halbe Stunde stehen, während welcher Zeit er ein Dutzend Hin- und Hergänge machte, und, wie ich sah, unveränderlich denselben Plan verfolgte.

Dabei kamen mir zwei Dinge besonders seltsam vor, und setzten mein Hirn in Thätigkeit, wiewohl ohne Erfolg. Das erste war, warum der Mann seine Geschichte nur bei Frauenzimmern anbrachte; das zweite, was für eine Art von Geschichte das wäre, und welcher Beredsamkeit er sich dabei bedienen möchte, die die Herzen der Weiber erweichte, und von der er wußte, daß sie Männern gegenüber wirkungslos bleiben würde.

Dann waren noch zwei andere Umstände, welche dieses Geheimniß noch verwickelter machten. Der eine war: er sagte jedem Frauenzimmer, was er ihr zu sagen hatte, ins Ohr, und zwar in einer Weise, welche mehr den Anschein eines Geheimnisses als einer Bitte hatte; der andere war der, daß er es stets mit Erfolg that – er hielt niemals ein Frauenzimmer an, daß es nicht auch die Börse gezogen und ihm augenblicklich etwas gegeben hätte.

Ich konnte kein System zu Stande bringen, um mir dieses Phänomen zu erklären.

Mir war da ein Räthsel aufgegeben, mit dem ich mich den übrigen Theil des Abends unterhalten konnte; und so stieg ich denn hinauf in mein Zimmer.

Der Gewissensfall.

Paris.

Unmittelbar auf dem Fuße folgte mir der Herr des Hôtels nach, welcher in mein Zimmer trat, um mir zu sagen, daß ich mich nach einem andern Logis umsehen möchte. – »Wie so, mein Freund?« fragte ich. – Er antwortete, ich hätte mich diesen Abend mit einem jungen Frauenzimmer zwei Stunden in meinem Zimmer eingeschlossen, und das wäre gegen die Ordnung seines Hauses. – »Sehr wohl«, sagte ich; »wir wollen als gute Freunde scheiden – denn das Mädchen ist deshalb nicht schlechter – und ich bin nicht schlechter – und auch Sie werden grade so bleiben, wie ich Sie gefunden habe.« – Es wäre hinreichend, um sein Hôtel in Verruf zu bringen, sagte er. »Voyez-vous, Monsieur?« rief er aus, indem er auf den Fuß des Bettes hinwies, wo wir beide gesessen hatten. – Ich gestehe, es hatte ziemlich den Anschein eines überführenden Beweises; doch da mein Stolz es nicht zugab, auf die Einzelheiten des Falles einzugehen: so gab ich ihm den guten Rath, seine Seele in Frieden schlafen zu lassen, wie ich entschlossen sei, es mit der meinigen zu thun, und morgen beim Frühstück würde ich ihm meine Schuld entrichten.

»Ich würde nichts dagegen erinnert haben, Monsieur«, sagte er, »und wenn Sie dreißig Mädchen gehabt hatten.« – »Das ist ein halb Schock mehr«, erwiderte ich, ihn unterbrechend, »als ich je zu haben Willens bin.« – »Vorausgesetzt«, fuhr er fort, »daß es nur am Morgen gewesen wäre.« – »Und macht denn in Paris der Unterschied der Tageszeit einen Unterschied in der Sünde?« – »Es machte«, sagte er, »einen Unterschied im Aergerniß.« – Eine scharfe Distinction ist mir von Herzen willkommen, und ich kann nicht sagen, daß ich auf den Mann so erschrecklich böse gewesen wäre. – »Ich muß gestehen«, nahm der Herr des Hôtels wieder das Wort, »es ist eine Notwendigkeit, daß einem Fremden in Paris die Gelegenheit geboten werde, Tressen und seidene Strümpfe und Handkrausen en tout cela zu kaufen – und es hat nichts auf sich, wenn ein Frauenzimmer mit einer Bandschachtel zu ihm kommt.« – »Bei meinem Gewissen«, sagte ich, »sie trug eine; aber ich habe nicht hineingesehen.« – »Also hat Monsieur auch nichts gekauft.« – »Nicht das Geringste«, erwiederte ich. – »Deshalb«, sagte er, »könnte ich Ihnen eine empfehlen, die Sie en conscience bedienen würde.« – »Aber sie müßte noch heut Abend kommen«, sagte ich. – Er machte mir einen tiefen Bückling und ging hinunter.

»Nun will ich einmal über diesen maître d'hôtel triumphiren«, rief ich aus – Und was dann? – »Dann will ich ihm merken lassen, daß ich weiß, was für ein schmutziger Kerl er ist.« – Und was dann? was dann? – Die Sache ging mich zu nahe an, als daß ich sagen konnte, es geschähe um Anderer willen. Es blieb mir keine passende Antwort darauf übrig; – es war mehr üble Laune als Grundsatz in meinem Vorhaben, und ich war seiner noch vor der Ausführung überdrüssig.

Nach einigen Minuten erschien die Grisette mit ihrer Spitzenschachtel. – »Ich will gleichwohl nichts kaufen«, sagte ich bei mir selbst.

Die Grisette wollte mir Alles zeigen – ich war schwer zu befriedigen. Sie that, als bemerkte sie das nicht. Sie machte ihr kleines Magazin auf und legte mir all ihre Spitzen der Reihe nach vor – entfaltete eine nach der andern und faltete sie mit der geduldigsten Freundlichkeit wieder zusammen – ich möchte nun kaufen – oder nicht – sie wolle mir Alles nach meinem eigenen Gebote lassen. – Das arme Geschöpf schien ängstlich bestrebt, einen Pfennig einzunehmen, und bemühte sich, mich zu gewinnen, und zwar nicht sowohl in einer schlauen, als vielmehr, meiner Empfindung nach, einfachen und einschmeichelnden Weise.

Desto schlimmer steht es um einen Mann, wenn er nicht einen gewissen Vorrath von ehrlicher Leichtgläubigkeit in sich hat. Mein Herz erweichte sich, und ich gab meinen zweiten Vorsatz so willig als den ersten auf. – Warum sollte ich der Einen den Fehltritt einer Andern entgelten lassen? – »Wenn du diesem Tyrannen von Wirth zinsbar bist«, dachte ich, ihr ins Gesicht blickend, »um so saurer ist dein Brot.«

Hätte ich auch nicht mehr als vier Louisd'or in meiner Börse gehabt, so hätte ich es doch nicht über das Herz bringen können, aufzustehen und ihr die Thür zu weisen, ehe ich nicht erst drei davon für ein Paar Handkrausen hingegeben hätte.

– Der Herr des Hôtels wird den Profit mit ihr theilen – sei es drum; – dann habe ich nur ebenso bezahlt, wie mancher arme Tropf vor mir für eine Handlung gezahlt hat, die er nicht begehn, noch auf die er denken konnte.

Das Räthsel.

Paris.

Als La Fleur herauf kam, um mir beim Abendessen aufzuwarten, sagte er mir, wie sehr den Wirth des Hôtels die Beleidigung reute, daß er mir die Wohnung gekündigt hätte.

Ein Mensch, der den Werth einer guten Nachtruhe kennt, wird sich nicht mit Groll im Herzen niederlegen, wenn er dem abzuhelfen weiß. – So trug ich denn La Fleur auf, dem Wirth des Hôtels zu sagen, daß es auch mir leid thäte, ihm dazu Veranlassung gegeben zu haben – »und wenn du willst, La Fleur, so kannst du ihm auch sagen«, fügte ich hinzu, »daß, wenn das junge Frauenzimmer wieder kommen sollte, ich sie nicht sehen will.«

Dies war ein Opfer, was ich nicht Jenem, sondern mir selbst brachte; denn nachdem ich mit so knapper Noth entkommen, war ich entschlossen, mich nicht wieder in die Gefahr zu begeben, sondern Paris, wo möglich, mit all der Tugend zu verlassen, die ich mit hingebracht hatte.

»C'est déroger à la noblesse, Monsieur«, sagte La Fleur, indem er mir bei den Worten einen Bückling bis auf die Erde machte – »Et encore«, sagte er, »Monsieur ändern vielleicht Ihren Sinn – und wenn Sie (par hazard) belieben sollten, sich zu unterhalten« – »Ich finde kein Amüsement dabei«, sagte ich, indem ich ihn unterbrach –

»Mon Dieu!« sagte La Fleur – und deckte ab.

Nach einer Stunde kam er wieder, um mich zu Bett zu bringen, und zeigte sich diensteifriger als gewöhnlich; – es schwebte ihm etwas auf der Zunge, was er mir sagen oder wonach er mich fragen wollte, und was er doch nicht über die Lippen brachte. Ich konnte nicht darauf kommen, was es sein mochte, gab mir in der That auch wenig Mühe, es herauszubringen, weil ein anderes, mich bei weitem mehr interessirendes Räthsel mein Nachdenken beschäftigte, nämlich das in Betreff des Mannes, der vor der Thür des Hôtels um Almosen bat. – Ich würde etwas darum gegeben haben, der Sache auf den Grund zu kommen, und zwar nicht aus Neugierde – sie ist ein so niedriger Grund des Nachforschens, daß ich, im Allgemeinen genommen, die Befriedigung derselben nicht mit einem Zwei-Sous-Stück erkaufen würde; – aber ein Geheimniß, dachte ich, welches so schnell und so sicher das Herz eines jeden Frauenzimmers, das in eure Nähe kommt, zum Mitleid bewegt, muß ein Geheimniß sein, das an Werth mindestens dem Steine der Weisen gleich kommt. Hätte ich beide Indien gehabt: – ich hätte eines darum gegeben, dieses Geheimniß zu besitzen.

Fast die ganze Nacht schob und wälzte ich es in meinem Kopf herum, ohne zu einem Resultat zu kommen; und als ich am Morgen erwachte, fühlte ich meinen Geist durch meine Träume ebenso sehr beunruhigt, als der König von Babylon es nur jemals über die seinigen gewesen war; und ich stehe nicht an, zu behaupten, daß es alle Weisen von Paris gleich sehr, wie jene von Chaldäa, in Verlegenheit gesetzt haben würde, sie auszulegen.

Le Dimanche.

Paris.

Es war Sonntag; und als La Fleur am Morgen mit meinem Kaffee und Weißbrot und Butter hereintrat, erschien er so stattlich herausgeputzt, daß ich ihn kaum erkannte.

Ich hatte, als ich ihn in Montreuil in Dienst nahm, versprochen, ihm einen neuen Hut mit einem Silberknopfe und einer Silberschnur, dazu vier Louisd'or zu geben, pour s'adoniser wenn wir nach Paris kämen; und ich muß dem armen Burschen die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß er Wunder damit bewerkstelligt hatte.

Er hatte einen weithin leuchtenden, sauberen, wohlerhaltenen Scharlachrock und ein Paar Beinkleider von derselben Farbe gekauft – Sie wären noch um keine Krone Werths abgetragen, sagte er – und ich wünschte ihn dafür zum Henker, daß er mir es sagte – Sie sahen noch so neu aus, daß ich, obwohl ich wußte, das Ding sei unmöglich, doch lieber meine Einbildung mit der Annahme betrogen hätte, sie wären neu für den Burschen angeschafft worden, als daß sie aus der Rue de Friperie gekommen.

Das ist aber ein übertriebenes Zartgefühl, welches in Paris niemandem das Herz schwer macht.

Er hatte außerdem eine hübsche blauatlassene Weste gekauft, die phantastisch genug gestickt war. Diese war freilich durch den Dienst, den sie gethan hatte, etwas mehr abgenutzt, doch hatte man sie fein gesäubert – das Gold war wieder aufgeputzt, und das Ganze war weniger schlicht, als vielmehr in die Augen fallend; und da das Blau nicht schreiend war, so paßte es recht gut zu dem Rock und den Beinkleidern. Dazu hatte er dem Gelde noch einen neuen Haarbeutel und einen Solitaire abzuknappen gewußt, und bei dem Fripier auf einem Paar goldner Kniebänder für seine Beinkleider bestanden. Endlich hatte er musselinene Manchetten, bien brodées, für vier Livres von seinem eigenen Gelde gekauft und für fünf ein Paar weißseidene Strümpfe – und die Hauptsache war: die Natur hatte ihm eine hübsche Figur gegeben, die ihn nicht einen Sous kostete.

So ausstaffirt, dazu das Haar im höchsten Style frisirt, und einen hübschen Blumenstrauß vor der Brust, trat er in das Zimmer – mit Einem Worte: in allem, was er um sich hatte, lag jener Blick von Festlichkeit, welcher mich auf einmal daran erinnerte, daß es Sonntag war, – und indem ich beides mit einander in Zusammenhang brachte, fiel mir sogleich ein, daß die Gunst, welche er gestern Abend von mir hatte erbitten wollen, sicherlich darin bestand, den Tag auf die Art hinbringen zu dürfen, wie ihn eben Jedermann in Paris hinbringt. Kaum hatte sich diese Vermuthung in mir gebildet, als La Fleur mit unendlicher Unterthänigkeit, aber doch mit einem Blick voll Vertrauen, als würde ich es ihm nicht abschlagen, mich bat, ich möchte ihm für diesen Tag Urlaub geben, pour faire le galant vis-à-vis de sa maîtresse.

Nun war dies grade dasselbe, was ich selbst vis-à-vis von Madame de R . . . . thun wollte – ich hatte mir zu diesem Zwecke die Kutsche gemiethet, und es würde meine Eitelkeit nicht verletzt haben, einen so wohl geputzten Diener wie La Fleur hintenaufstehen zu haben: ich mißte ihn in der That sehr ungern.

Doch in dergleichen Verlegenheiten müssen wir empfinden und nicht auf unserem Rechte bestehen – Die Söhne und Töchter der Dienstbarkeit entsagen in ihren Contracten ihren Rechten auf Freiheit, aber nicht denen der Natur; sie sind Fleisch und Blut, und haben, mitten im Zwinger ihrer Dienstbarkeit, ihre kleinen Eitelkeiten und Wünsche ebenso gut wie ihre Herrschaften. Freilich haben sie einen Preis auf ihre Selbstverleugnung gesetzt, und ihre Erwartungen sind so unverschämt, daß ich sie oft täuschen möchte, wenn es ihr Stand nicht so leicht machte, dies zu thun.

»Siehe – siehe, ich bin dein Knecht« – dies nimmt mir auf Einmal die Gewalt eines Herrn. –

– – »Du kannst gehen, La Fleur!« sagte ich.

– »Aber was für einen Schatz, La Fleur«, sagte ich, »kannst du dir in so kurzer Zeit in Paris angeschafft haben?« – La Fleur legte die Hand auf die Brust und sagte, es wäre eine petite demoiselle im Hause des Grafen von B . . . . – La Fleur hatte ein Herz, das für die Geselligkeit geschaffen war, und, um die Wahrheit zu sagen, er ließ sich ebenso wenig die Gelegenheit entgehen, als sein Herr. So hatte er auf die eine oder die andere Art – der Himmel weiß, wie – sich mit der Demoiselle auf dem Treppenabsatz bekannt gemacht, indessen ich mit meinem Reisepaß beschäftigt war; und wie diese Zeit für mich hinreichte, den Grafen für mein Interesse zu gewinnen, so hatte in derselben La Fleur das Mädchen für das seinige zu gewinnen verstanden. Die Dienerschaft kam, wie es schien, diesen Tag nach Paris, und er hatte mit dem Mädchen und zwei oder drei Anderen von des Grafen Leuten eine Partie auf den Boulevards verabredet.

Glückliches Völkchen! das wenigstens einmal in der Woche sicher ist, all seine Sorgen beiseite zu legen, und die Bürde der Bekümmerniß, welche den Geist anderer Nationen zu Boden drückt, zu versingen, zu vertanzen und hinweg zu scherzen.

Das Fragment.

Paris.

La Fleur hatte mir etwas zum Zeitvertreib hinterlassen was mich den Tag über mehr unterhielt, als ich mir ausbedungen, oder als in seinen oder meinen Kopf hätte kommen können.

Er hatte das Stückchen Butter auf einem Johannisbeerblatte gebracht; und da der Morgen warm war, und er es eine gute Strecke tragen mußte, so hatte er sich einen Bogen Maculatur ausgebeten, um ihn zwischen das Johannisbeerblatt und seine Hand zu legen. Da dieses hinreichend als Teller dienen konnte, so hieß ich es ihn auf den Tisch hinlegen, so wie es war; und da ich den ganzen Tag über im Zimmer zu bleiben beschloß, so befahl ich ihm, zu dem Traiteur zu gehen, um mein Mittagessen zu bestellen, und mich beim Frühstück allein zu lassen.

Als ich mit der Butter zu Ende war, warf ich das Johannisbeerblatt aus dem Fenster, und wollte soeben dasselbe mit dem Maculaturblatt thun – allein da ich innehielt, um erst eine Zeile zu lesen, und diese mich zu einer zweiten und dritten verlockte – so hielt ich das Blatt eines bessern Schicksals werth; ich machte also das Fenster zu, zog einen Stuhl an dasselbe heran und setzte mich nieder, um es ganz zu lesen.

Es war in dem alten Französisch aus Rabelais' Zeit, und soweit ich mich darauf verstehe, konnte es von ihm selbst geschrieben sein. Ueberdies waren es gothische Lettern, und diese noch dazu, durch Feuchtigkeit und die Länge der Zeit, so verwischt und verlöscht, daß es mich unendlich viel Mühe kostete, etwas von dem, was es enthielt, herauszubringen. – Ich warf es hin und schrieb einen Brief an Eugenius – dann nahm ich es wieder auf und müdete meine Geduld von Neuem daran ab – und dann, um sie wieder herzustellen, schrieb ich einen Brief an Elisa. – Immer noch hielt es mich fest, und die Schwierigkeit des Verständnisses steigerte nur mein Verlangen darnach.

Ich hielt mein Mittagmahl, und nachdem ich meinen Geist durch eine Flasche Burgunder erhellt hatte, ging ich wieder daran; und nach zwei oder drei Stunden Grübelns darüber, und zwar mit ebenso angestrengter Aufmerksamkeit, als jemals Gruter oder Jacob Spon auf eine unverständliche Inschrift verwendet haben mögen, glaubte ich den Sinn gefunden zu haben. Doch um dessen gewiß zu werden, hielt ich es für den besten Weg, es ins Englische zu übersetzen und zu sehen, wie es sich darin ausnehmen würde. So machte ich mich denn ganz gemächlich ans Werk, wie man spielend etwas betreibt – bisweilen einen Satz niederschreibend – dann einen Gang oder zwei durch das Zimmer machend – wohl auch einmal aus dem Fenster schauend, wie die Welt draußen ginge; so daß es neun Uhr Abends schlug, ehe ich damit zu Stande gekommen war. – Alsdann begann ich es zu lesen, wie folgt.

Das Fragment.

Paris.

– Als nun des Notars Frau mit dem Notar über den Punct mit so großer Hitze stritt, sagte der Notar, indem er das Pergament hinwarf: »Ich wünschte, daß noch ein anderer Notar hier wäre, bloß um alles dieses niederzuschreiben und zu bezeugen« –

– »Und was würdet Ihr dann thun, Monsieur?« fragte sie, indem sie sich hastig erhob. – Die Frau des Notars war ein kleiner Hitzkopf von einem Weibe, und der Notar nahm sich klüglich vor, durch eine sanfte Erwiederung einen Sturm zu vermeiden. – »Ich würde zu Bette gehen«, antwortete er. – »Zum Teufel könnt Ihr gehen!« antwortete die Frau.

Nun gab es aber gerade nur Ein Bett im Hause, weil, nach der Gewohnheit in Paris, die beiden andern Zimmer ohne Hausrath waren; und da der Notar keine Lust verspürte, in demselben Bette mit einer Frau zu liegen, die ihn soeben, mir nichts dir nichts, zum Teufel hatte gehen heißen, so ging er mit Hut und Stock, und da die Nacht sehr stürmisch war, im kurzen Mantel fort und schritt sehr übel gelaunt auf den Pont neuf zu.

Von allen Brücken, welche jemals gebaut wurden, ist der Pont neuf, wie Jedermann, der darüber gegangen ist, zugestehen muß, die edelste, schönste, prächtigste, leichteste, längste und breiteste, welche jemals auf der Oberfläche dieses aus Erde und Wasser zusammengekneteten Balles Land mit Land verbunden hat.

(Hiernach scheint es, als wenn der Verfasser des Fragments kein Franzose gewesen wäre.)

Der schlimmste Vorwurf, welchen die Theologen und die Doctoren der Sorbonne gegen sie erheben können, ist der, daß, sobald nur eine Mütze voll Wind in und um Paris weht, auf ihr gotteslästerlicher sacredieut wird, als an irgend einem andern freien Platze der ganzen Stadt – und zwar aus guter, triftiger Ursache, Messieurs. Denn er stürmt auf euch los, ohne garde d'eau! zu rufen, und mit solchen unversehenen Stößen, daß von den Wenigen, die mit einem Hut auf dem Kopfe darüber gehen, nicht Einer unter Funfzigen ist, der nicht zwei und einen halben Livre (womit der Hut vollkommen bezahlt ist) aufs Spiel setzt.

Der arme Notar, welcher gerade bei dem Wachposten vorüberging, fuhr instinctmäßig mit seinem Stock an die Seite seines Hutes; allein indem er ihn erhob, verfing sich die Spitze desselben in die Schnur des Hutes der Schildwache und schleuderte diesen über die Spitzen des Geländers geraden Weges in die Seine –

– »'s ist ein böser Wind«, sagte ein Bootsmann, welcher ihn auffing, »der niemandem etwas Gutes zubläst

Die Schildwache, ein Gascogner, drehte sich augenblicklich den Knebelbart und legte die Muskete an.

Die Musketen wurden damals mit Lunten abgebrannt, und weil gerade eines alten Weibes Papierlaterne am Ende der Brücke vom Wind ausgeblasen worden, so hatte sie sich von der Wache die Lunte geborgt, um sie wieder anzuzünden. Das verschaffte dem Gascogner einen Augenblick Zeit, sein Blut sich kühlen zu lassen und den Vorfall mehr zu seinem Vortheil zu benutzen. – »'s ist ein böser Wind«, sagte er, indem er dem Notar seinen Biberhut vom Kopfe riß, die Besitzergreifung mit dem Witzwort des Bootsmanns rechtfertigend.

Der arme Notar schritt über die Brücke fort, und indem er die Rue de Dauphine entlang nach dem Faubourg von St. Germain weiter ging, klagte er unterwegs folgendermaßen:

»Ich unglücklicher Mensch!« sagte der Notar, »mein ganzes Leben hindurch das Spiel der Stürme sein zu müssen – nur dazu geboren zu sein, den Sturm böser Zungen zu erdulden, die sich gegen mich und mein Treiben richten, wo ich gehe und stehe – durch den Donner der Kirche zur Ehe mit einem Unwetter von Weibe gezwungen zu sein – durch häusliche Winde aus meinem Hause gejagt und durch pontificalische meines Biberhuts beraubt zu werden – mich hier baarhäuptig in stürmischer Nacht, der Ebbe und Flut der Zufälle preisgegeben, umhertreiben zu müssen –: wo soll ich mein Haupt hinlegen? – Ich unglückseliger Mann! welcher Wind von den zweiunddreißig Puncten der Windrose kann dir etwas Gutes zuwehen, wie er es deinen übrigen Mitgeschöpfen thut?« –

Als der Notarius, in dieser Weise sich beklagend, an einem dunklen Durchgange vorbeikam, rief eine Stimme nach einem Mädchen und hieß ihr, nach dem ersten besten Notar zu eilen. Da nun unser Notar der nächste war, so schritt er, seine Lage zu seinem Vortheil gebrauchend, den Durchgang hinauf nach der Thür, und wurde durch eine Art alten Saal hindurch in ein großes Zimmer gebracht, das von jeglichem Hausrath entblößt war, bis auf eine lange Soldatenpike, einen Brustharnisch und ein rostiges altes Schwert nebst einem Bandelier, welche in gleichen Zwischenräumen an vier verschiedenen Stellen der Mauer aufgehängt waren.

Ein alter Mann, der ehedem ein Edelmann gewesen und, sofern Verfall der Glücksgüter nicht auch das adlige Blut trübt, noch zur Zeit ein Edelmann war, lag, den Kopf auf die Hand gestützt, in seinem Bette. Ein kleiner Tisch mit einer brennenden Kerze stand dicht daneben, und an den Tisch war ein Stuhl gestellt. Der Notar setzte sich darauf, zog sein Dintenfaß und ein paar Bogen Papier hervor, die er in der Tasche bei sich trug, legte sie vor sich hin und hielt, die Feder eintunkend und die Brust über den Tisch lehnend, Alles in Bereitschaft, um des Edelmanns Testament und letzten Willen aufzusetzen.

»Ach! mein Herr Notarius«, sagte der Edelmann, sich ein wenig erhebend – »ich habe nichts zu vermachen, was auch nur die Vermächtnißkosten decken würde, ausgenommen meine eigene Geschichte, und ich könnte nicht ruhig sterben, wenn ich sie der Welt nicht als ein Vermächtniß hinterließe. Den Gewinn, welcher heraus kommt, vermache ich Ihnen als Lohn für die Mühe, daß Sie sie aus meinem Munde niederschreiben. – Es ist eine so ungewöhnliche Geschichte, daß sie alle Welt nothwendig lesen muß – sie wird das Glück Ihres Hauses machen.« – Der Notar tunkte die Feder ins Dintenfaß. – »Allmächtiger Lenker aller Zufälle meines Lebens!« sagte der alte Edelmann, ernst aufblickend und seine Hände zum Himmel erhebend – »Du, dessen Hand mich durch solch ein Labyrinth von seltsamen Wegen bis zu dieser trostlosen Scene geführt hat: stehe dem schwindenden Gedächtniß eines alten, schwachen, am Herzen gebrochenen Mannes bei – leite meine Zunge durch den Geist deiner ewigen Wahrheit, damit dieser Unbekannte nichts niederschreiben möge, als was in jenem Buche verzeichnet ist, nach dessen Ausspruch«, sagte er, und schlug dabei seine Hände zusammen, »ich erwarten muß, verdammt oder freigesprochen zu werden!« – Der Notar hielt die Spitze seiner Feder zwischen das Licht und seine Augen – –

– »Es ist eine Geschichte, mein Herr Notarius«, sagte der Edelmann, »welche jede Regung der Natur aufstören wird – sie wird die menschlich Gesinnten tödtlich verwunden und das Herz der Grausamkeit selbst zum Mitleid bewegen« – –

– – Der Notar brannte vor Verlangen, endlich zu beginnen, und tunkte seine Feder zum dritten Mal in das Dintenfaß – und der alte Edelmann, indem er sich ein wenig mehr nach dem Notar hinwandte, fing an seine Geschichte in folgenden Worten zu dictiren – –

– »Und wo ist denn das Uebrige davon, La Fleur?« fragte ich, da dieser eben ins Zimmer trat.

Das Fragment und das Bouquet.

Paris.

Als La Fleur näher an den Tisch kam und begriffen hatte, was mir fehlte, sagte er mir, es wären nur noch zwei Bogen davon da, die hätte er um die Stiele eines Bouquets gewickelt, das er der Demoiselle auf den Boulevards überreicht hätte. – »Nun, dann bitt' ich Dich, La Fleur«, sagte ich, »gehe sogleich zu ihr zurück in das Hôtel des Grafen von B . . . . und siehe zu, ob du sie wiedererhalten kannst.« – »Da ist gar kein Zweifel daran«, sagte La Fleur und flog eiligst davon.

In sehr kurzer Zeit kam der arme Bursche zurück, ganz außer Athem und mit stärkeren Zeichen getäuschter Hoffnung im Gesicht, als daß sie aus der bloßen Unersetzlichkeit des Fragmentes entspringen konnten. – Juste ciel! In weniger als zwei Minuten, nachdem der arme Bursche seinen letzten zärtlichen Abschied von ihr genommen, hatte seine treulose Geliebte sein gage d'amour einem von des Grafen Lakaien gegeben – der Lakai es einer jungen Nähterin – die Nähterin wieder einem Geiger – immer mit meinem Fragment um den Stiel des Bouquets. – Unsere Unglücksfälle waren mit einander verflochten – ich stieß einen Seufzer aus – und La Fleur gab ihn meinem Ohr als Wiederhall zurück.

– »Wie treulos!« rief La Fleur aus – »Wie unglücklich!« sagte ich.

– »Es würde mich nicht kränken, Monsieur«, sagte La Fleur, »wenn sie es nur verloren hätte.« – »Noch mich, La Fleur«, sagte ich, »wenn ich es nur gefunden hätte.«

Ob dies der Fall war oder nicht, wird man später sehen.


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