Laurence Sterne
Empfindsame Reise
Laurence Sterne

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Die Schnupftabaksdose.

Calais.

Der gute alte Mönch war, als mir der Gedanke an ihn durch den Kopf fuhr, nur etwa sechs Schritte von uns entfernt und kam auf uns zu, obwohl ein wenig von der Seite, als wenn er ungewiß wäre, ob er uns stören dürfe oder nicht. Er blieb indessen, sobald er an uns herangekommen war, mit dem vollsten Ausdruck der Freimütigkeit stehen, und da er grade eine Schnupftabaksdose aus Horn in der Hand hielt, so bot er mir eine Prise daraus an. –»Sie sollen auch meinen versuchen«, sagte ich, indem ich meine kleine Dose von Schildkrot hervorzog und sie ihm in die Hand gab. –»Der ist ganz vortrefflich«, sagte der Mönch. – »Nun, dann erzeigen Sie mir die Gefälligkeit«, versetzte ich, »diese Dose nebst dem, was darin ist, zu behalten, und wenn Sie eine Prise daraus nehmen, so denken Sie bisweilen daran, daß dieselbe das Versöhnungszeichen eines Mannes ist, der Ihnen einmal unfreundlich begegnete, obwohl sein Herz keinen Antheil daran hatte.«

Eine Scharlachröthe überflog das Antlitz des armen Mönches. »Mon Dieu!« sagte er, indem er erstaunt die Hände ineinander legte, »Sie haben mich niemals ungütig behandelt.« – »Ich sollte meinen«, sagte die Dame, »daß ihm das nicht ähnlich sieht.« – Nun war die Reihe, zu erröthen, an mir; doch auf Grund welcher Gemütsbewegungen, das zu analysiren überlasse ich den Wenigen, welche sich darauf verstehen. – »Entschuldigen Sie, meine Dame«, entgegnete ich, »ich benahm mich gegen ihn höchst unfreundlich, und zwar ohne irgendwie dazu herausgefordert zu sein.« – »Das ist nicht möglich«, sagte die Dame – »Mein Gott«, rief der Mönch mit einer Wärme der Betheurung aus, die ihm sonst nicht eigenthümlich zu sein schien – »der Fehler lag an mir und in der Zudringlichkeit meines Eifers« – Die Dame machte Einwendungen, und ich stimmte darin ein, indem ich behauptete: es sei unmöglich, daß ein so gesetzter Geist, wie der seinige, Jemand beleidigen könne.

Ich hatte es noch nicht erfahren, daß ein Streit zu etwas so Süßem und Beschwichtigendem für die Nerven werden könne, als ich es eben in mir fühlte. – Wir schwiegen eine Zeitlang still, ohne das Geringste von jener albernen Pein zu empfinden, welche sich einstellt, wenn mau in einer Gesellschaft zehn Minuten lang sich gegenseitig ansieht, ohne ein Wort zu sprechen. Während dieser Pause rieb der Mönch seine Horndose auf dem Aermel seines Gewandes; und als sie durch das Reiben einen Schimmer von Glanz erhalten hatte, machte er mir eine tiefe Verbeugung und sagte: es wäre zu spät, zu untersuchen, ob es Schwäche oder Güte unseres Temperaments gewesen, was uns in diesen Streit verwickelt habe; doch sei dem, wie ihm wolle – er bäte mich, unsere Dosen zu tauschen. Und indem er dies sagte, reichte er mir mit der einen Hand die seinige dar, während er mit der andern die meinige ergriff; und nachdem er sie geküßt – steckte er sie mit einem Strome von Gutherzigkeit in den Augen in seinen Busen – und verabschiedete sich.

Ich bewahre diese Dose, wie ich die Kirchenutensilien meiner Religion zu bewahren pflege, als etwas, was mir dazu dient, meinen Geist zu Höherem zu erheben. In der That, ich gehe selten ohne sie aus; und vielmals habe ich durch sie den bescheidenen Geist ihres ehemaligen Besitzers herbeibeschworen, um den meinigen im Getümmel der Welt wieder ins rechte Gleis zubringen. Auch bei ihm war dies sehr nöthig gewesen, wie ich später aus seiner Geschichte entnahm, bis er, ungefähr fünfundvierzig Jahre alt, nachdem ihm Kriegsdienste übel vergolten worden waren, und er gleichzeitig eine Enttäuschung in der zärtlichsten der menschlichen Leidenschaften erfahren hatte, das Schwert und das andere Geschlecht miteinmal aufgab und sich in ein Heiligthum, nicht sowohl in seinem Kloster, als in ihm selbst, zurückzog.

Ich fühle mein Gemüth beklommen, da ich hinzufügen muß, daß ich bei meiner kürzlichen Rückkehr durch Calais, auf meine Erkundigung nach dem Pater Lorenzo, erfuhr, er sei vor fast drei Monaten gestorben, und seinem Wunsche gemäß nicht in seinem Kloster, sondern auf einem kleinen, dazu gehörigen Kirchhofe, der etwa zwei Meilen davon entfernt liegt, begraben worden. Ich trug großes Verlangen, zu sehen, wo sie ihn hingelegt hatten; – und als ich an seinem Grabe saß, seine kleine Horndose hervorzog und eine oder zwei Nesseln zu seinen Häupten, die dort nichts zu suchen hatten, ausriß, so erregte dies alles mein Gemüth so stark, daß ich in einen Strom von Thränen ausbrach. – Doch ich bin so weichherzig wie ein Weib, und ich bitte die Welt, nicht darüber zu lächeln, sondern mich zu bedauern. –

Die Remisenthür.

Calais.

Die ganze Zeit über hatte ich die Hand der Dame nicht losgelassen; ich hatte sie so lange gehalten, daß es unschicklich gewesen wäre, sie frei zu geben, ohne sie zuvor an meine Lippen zu drücken. Als ich es that, kehrten Blut und Lebensgeister, die gleichsam von ihr gewichen waren, in ihr Antlitz zurück.

Da die beiden Reisenden, welche mich in dem Wagenhof angeredet hatten, in diesem kritischen Augenblicke grade an uns vorübergingen und unser Verhalten zu einander wahrnahmen, so setzten sie sich natürlich in den Kopf, daß wir wenigstens Mann und Frau sein müßten. Sie blieben also an der Remisenthür stehn, und der Eine von ihnen, und zwar der neugierige Reisende, fragte uns, ob wir am nächsten Morgen nach Paris abfahren würden? – Ich antwortete, ich könnte dies nur für mich selbst bejahen; und die Dame setzte hinzu, sie ginge nach Amiens. – »Dort haben wir gestern zu Mittag gegessen«, sagte der einfache Reisende. –»Sie müssen«, fügte der Andere hinzu, »auf Ihrer Tour nach Paris die Stadt passiren.« – Ich wollte eben tausend Dank für die Auskunft abstatten, daß Amiens auf dem Wege nach Paris läge; da ich aber grade meines armen Mönchs kleine Horndose hervorzog, um eine Prise zu nehmen, – so machte ich nur eine gelassene Verbeugung und wünschte ihnen eine glückliche Ueberfahrt nach Dover. – Sie verließen uns.

– »Nun, was würde das groß schaden«, sagte ich bei mir selbst, »wenn ich diese betrübte Dame den halben Raum meiner Chaise anzunehmen ersuchte? und was für ein gewaltiges Unglück könnte daraus entstehen?«

Jede niedrige Leidenschaft und jede böse Neigung in meiner Natur kam in Allarm, als ich den Vorschlag aufstellte. – Du wirst genöthigt sein, ein drittes Pferd zu miethen, sagte der Geiz, und das wird deinen Beutel um zwanzig Livres leichter machen. – Du weißt nicht, wer sie ist, sagte der Argwohn; – noch in welche Verlegenheit dich dieser Handel bringen kann, flüsterte die Feigheit.

Verlaß dich darauf, Yorick! sagte die Weltklugheit, man wird sagen, du seist mit einer Maitresse durchgegangen und auf Verabredung zu diesem Zwecke nach Calais gekommen.

Du kannst fürderhin nie mehr, schrie die Heuchelei ganz laut, der Welt dein Antlitz zeigen – Oder, sprach der Eigennutz, nach höheren Würden in der Kirche streben – Oder, schloß der Ehrgeiz, je etwas Anderes darin werden, als ein untergeordneter Pfründner. –

– Aber es ist doch eine Sache der Höflichkeit, sagte ich; – und da ich gemeiniglich nach dem ersten Antrieb handle und deshalb selten auf diese Kabalen achte, die, so viel ich weiß, zu nichts weiter dienen, als das Herz mit einer diamantenen Mauer zu umgeben – so wandte ich mich alsobald gegen die Dame ––

– Aber sie war, während die Sache bei mir verhandelt wurde, unvermerkt weggegangen und hatte schon zehn oder zwölf Schritte die Straße hinabgethan, bis ich endlich zur Entscheidung gelangt war. Ich ging ihr also mit großen Schritten nach, um ihr in der besten Art, deren ich fähig wäre, das Anerbieten zu machen. Da ich jedoch bemerkte, daß sie, ihre Wange halb in der Hand ruhen lassend, mit dem langsamen, kurzgemessenen Schritte des Nachsinnens und die Augen fortwährend aus den Boden geheftet, dahinging: so kam mir der Gedanke, daß sie vielleicht denselben Proceß bei sich verhandelte. »Gott steh' ihr bei!« sagte ich: »sie hat gewiß eine Stiefmutter, oder eine tartüffische Tante, oder sonst ein unvernünftiges altes Weib, mit der sie die Sache berathen muß, so gut wie ich selbst. Da ich sie also in ihrer Ueberlegung nicht stören wollte und es für höflicher hielt, sie mehr durch Bescheidenheit als durch Ueberraschung zu gewinnen, so machte ich Kehrtum und schritt ein paarmal vor der Remisenthür kurz auf und ab, indeß sie nachdenklich weiterging.

Auf der Straße.

Calais.

Nachdem ich beim ersten Anblick der Dame in meiner Phantasie für ausgemacht angenommen: »daß sie ein Wesen besserer Art sei« – und dann als zweites Axiom, ebenso unbestreitbar als das erste, festgestellt hatte: daß sie eine Wittwe sei und die Trauer ihr an der Stirn geschrieben stünde – so ging ich darin nicht weiter; ich hatte Grund genug für die Situation, an der ich Gefallen fand – Und wäre sie bis Mitternacht dicht an meinem Arme geblieben, ich würde getreu an meinem Systeme festgehalten und sie einzig unter diesem allgemeinen Gesichtspuncte betrachtet haben.

Sie war kaum zwanzig Schritte von mir entfernt, als etwas in meinem Innern nach einer genaueren Auskunft verlangte – der Gedanke einer ferneren Trennung stieg in mir auf – möglicherweise sähe ich sie nie wieder. – Das Herz sucht für sich zu retten, was es kann, und ich verlangte nach Mitteln und Wegen, durch welche meine Wünsche den Pfad zu ihr finden könnten, im Fall ich ihr nie wieder begegnen sollte. Mit einem Wort, ich wünschte ihren Namen – den ihrer Familie – ihren Stand zu erfahren; und wie ich den Ort wußte, wohin zu gehn sie im Begriff war, so wollte ich auch wissen, woher sie käme. Aber ich fand kein Auskunftsmittel, wie ich dies alles erfahren könnte; hundert kleine zarte Bedenken standen im Wege. Ich machte ein halb Schock verschiedener Pläne – es war doch keine Sache, wonach man geradezu fragen konnte – das war unmöglich.

Ein kleiner munterer französischer Capitain, welcher die Straße herabgetänzelt kam, bewies mir, daß in der Welt nichts leichter war als das. Denn zwischen uns hüpfend, grade als die Dame wieder nach der Remisenthür zurückkehrte, empfahl er sich meiner Bekanntschaft und ehe er sich selbst noch recht angekündigt hatte, bat er, ich möchte ihm die Ehre erzeigen, ihn der Dame vorzustellen – Ich selbst war ihr nicht vorgestellt worden, – und so sich zu ihr herumwendend, that er es ebenso gut selbst, indem er sie fragte, ob sie von Paris käme? – Nein; sie ginge des Wegs dahin, sagte sie. – »Vous n'êtes pas de Londres?« – Das wäre sie nicht, erwiederte sie. – »Dann müssen Madame durch Flandern gekommen sein – Apparement vous êtes Flamande?« fragte der französische Capitain. – Die Dame antwortete, sie wäre es. »Peut-être de Lisle?« fügte er hinzu. – Sie entgegnete, sie sei nicht aus Lisle. –»Auch nicht aus Arras? – oder aus Cambray? – oder Gent? – oder Brüssel?« – Sie erwiederte, sie wäre aus Brüssel.

Er habe die Ehre gehabt, sagte er, im letzten Kriege dem Bombardement der Stadt beizuwohnen – es hätte eine schöne Lage, pour cela – und sei voller Noblesse gewesen, als die Kaiserlichen von den Franzosen herausgetrieben worden wären (die Dame machte einen leichten Knicks). Und hierauf berichtete er ihr über die Affaire, und welchen Antheil er daran gehabt – er bat sich die Ehre aus, ihren Namen zu wissen – und machte seine Verbeugung.

»Etr Madame a son mari?« sagte er, zurückblickend, als er schon zwei Schritte gethan hatte – und ohne eine Antwort abzuwarten, tänzelte er die Straße hinunter.

Und wäre ich sieben Jahr lang in der Lehre der guten Lebensart gewesen, ich hätte unmöglich so viel zu Stande gebracht.

Die Remise.

Calais.

Als der kleine französische Capitain uns verlassen hatte, kam Monsieur Dessein, mit dem Schlüssel zur Remise in der Hand, herbei und ließ uns sogleich in sein Wagenmagazin eintreten.

Der erste Gegenstand, der mir in die Augen fiel, als Monsieur Dessein die Thür der Remise öffnete, war eine andere alte, im Verfall begriffene Désobligeante; und ungeachtet sie das genaue Ebenbild derjenigen war, welche nur eine Stunde früher im Wagenhofe meine Phantasie so sehr bestochen hatte – so erregte mir doch jetzt der bloße Anblick derselben eine unangenehme Empfindung, so daß ich mir unter demjenigen nur ein filziges Thier dachte, in dessen Kopf zuerst der Gedanke keimen konnte, eine solche Maschine zu bauen; und nicht mehr Nachsicht hatte ich für den Mann, der sich dergleichen bedienen konnte.

Ich bemerkte, daß die Dame ebenso wenig davon erbaut war als ich. So führte uns denn Monsieur Dessein zu einem Paar Chaisen, welche nebeneinander standen, und theilte uns zu ihrer Empfehlung mit, daß sie von den Lords A. und B. für die grand tour gekauft, aber nicht weiter als bis Paris gebraucht worden und folglich in jeder Hinsicht so gut als neu wären. – Sie waren zu gut – und somit ging ich zu einer dritten über, welche im Hintergrunde stand, und begann sogleich um den Preis zu handeln. »Aber sie wird für Zwei kaum genug Raum bieten«, sagte ich, indem ich den Schlag öffnete und hinein stieg. – »Haben Sie die Güte, Madame«, sagte Monsieur Dessein, indem er ihr seinen Arm bot, »mit hineinzusteigen.« – Die Dame zögerte eine halbe Secunde und stieg dann hinein; und da der Hausknecht in diesem Augenblicke dem Monsieur Dessein winkte, um ihm etwas zu sagen, schlug dieser den Kutschenschlag zu und verließ uns.

Die Remise.

Calais.

»C'est bien comique, – das ist sehr drollig«, sagte die Dame lächelnd, in Erwägung, daß wir nun zum zweiten Mal durch ein paar wunderliche Zufälle mit einander allein gelassen wurden – »c'est bien comique«, sagte sie – –

– »Da fehlt nichts«, sagte ich, »um es vollends dazu zu machen, als der komische Gebrauch, wozu es die Galanterie eines Franzosen benutzen würde – im ersten Augenblick den Verliebten zu spielen, und im zweiten seine Person anzutragen.«

»Ja, das ist ihre Stärke«, erwiederte die Dame.

»Man nimmt das wenigstens an – und wie es gekommen ist«, fuhr ich fort, »das weiß ich nicht; aber gewißlich haben sie sich den Ruf verschafft, in der Liebe bewanderter zu sein und es weiter darin zu bringen, als irgend eine andere Nation der Welt; ich für meinen Theil jedoch halte sie für elende Stümper, und in der That für die schlechteste Art Schützen, die je Cupido's Geduld auf die Probe stellten.«

– »Wie thöricht, die Liebe durch Sentiments betreiben zu wollen!«

»Ich sollte meinen, man könnte ebenso leicht einen anständigen Anzug aus alten Zeugflicken herstellen; – und gar mit der Thür so ins Haus zu fallen – beim ersten Anblick durch eine Erklärung – das heißt doch den Antrag und sich selbst dazu, mit allen pours und contres, der Prüfung eines kühlen Verstandes unterwerfen.«

Die Dame merkte auf, als wenn sie erwartete. daß ich fortfahren würde.

»Bedenken Sie dann, Madam«, sprach ich weiter, indem ich meine Hand auf die ihrige legte –:

»ernsthafte Leute hassen die Liebe des Namens wegen –
eigenliebige Menschen ihrer selbst wegen –
Heuchler des Himmels wegen –

und wir alle, Alte wie Junge, werden zehnmal mehr durch den bloßen Schall des Wortes erschreckt als verletzt. – Wie großen Mangel an Kenntniß in diesem Zweige des Verkehrs verräth ein Mann, welcher das Wort eher über seine Lippen kommen läßt, als mindestens eine oder zwei Stunden nach der Zeit, wo sein Schweigen darüber zur Qual wird! Eine Reihe von kleinen, still erwiesenen Aufmerksamkeiten, nicht so erkennbar, daß sie zu beunruhigen vermöchten, noch so unbestimmt, daß sie verkannt werden könnten – dann und wann ein gefühlvoller Blick, und wenig oder gar nicht davon gesprochen – das läßt der Natur noch die Macht, Herrin über euch zu sein, und sie wird es nach ihrem Sinne lenken.«

»Dann, muß ich ernstlich gestehen«, sagte die Dame erröthend, »haben Sie mir die ganze Zeit über Liebeserklärungen gemacht.«

Die Remise.

Calais.

Monsieur Dessein kam zurück, um uns aus der Chaise zu befreien, und brachte der Dame die Nachricht, Graf von L . . . ., ihr Bruder, sei soeben im Hôtel abgestiegen. Obgleich ich der Dame alles mögliche Gute wünschte, so kann ich doch nicht sagen, daß ich in meinem Herzen über den Vorfall erfreut gewesen wäre – und konnte nicht umhin, ihr dies zu sagen – »denn er vereitelt einen Vorschlag, den ich Ihnen zu machen soeben im Begriff war.«

»Sie brauchen mir nicht zu sagen, worin der Vorschlag bestand«, sagte sie und legte ihre Hand auf meine beiden, indem sie mich unterbrach. – »Ein Mann, mein werther Herr, hat einem Frauenzimmer selten ein gütiges Anerbieten zu machen, daß dieses nicht schon einige Augenblicke vorher eine Ahnung davon hätte.« –

»Die Natur waffnet es damit«, sagte ich, »zu ihrem unmittelbaren Schutze.« – »Aber ich denke«, sagte sie und blickte mir ins Gesicht, »ich hatte nichts Uebles zu befürchten, – und ich will Ihnen offen gestehen: ich hatte beschlossen das Anerbieten anzunehmen. – Hätte ich dies gethan – (sie hielt einen Augenblick inne): ich glaube, Ihr Wohlwollen würde mir eine Erzählung entlockt haben, welche das Mitleid zur einzigen gefährlichen Sache auf der Reise gemacht hätte.«

Indem sie dies sagte, duldete sie, daß ich ihre Hand zweimal küßte, und mit einem Blick, in welchem sich inniges Gefühl und Kummer mischte, stieg sie aus der Chaise – und sagte mir Lebewohl.

Auf der Straße.

Calais.

Niemals in meinem Leben habe ich einen Handel von zwölf Guineen so rasch abgeschlossen Nach dem Verlust der Dame schien die Zeit schwer auf mir zu lasten; und da ich wohl erkannte, daß jeder Augenblick mir wie zwei vorkommen würde, bis ich mich in Bewegung setzte, so bestellte ich sofort Postpferde und ging nach dem Hôtel.

»Himmel!« sagte ich, da ich die Stadtuhr Vier schlagen hörte, und mir einfiel, daß ich wenig mehr als eine einzige Stunde mich in Calais befand 

– Welch eine Fülle von Ereignissen kann in der kleinen Spanne von Leben derjenige wahrnehmen, der mit seinem Herzen an Allem Antheil nimmt, der seine Augen gebraucht, um zu sehen, was Zeit und ein glücklicher Zufall ihm fortwährend auf seiner Wanderung am Wege darbieten, und der nichts beiseit liegen läßt, woran er ohne Vorwurf seine Hände legen darf.

Wenn aus dem Einen nichts ersprießen will – so wird es aus einem Andern – es thut nichts; – es ist ein Gold-Probestrich an der menschlichen Natur; – die Mühe selbst ist meine Belohnung – das ist genug; – das Vergnügen am Experiment hat meine Sinne und den besten Theil meines Blutes wach erhalten und den gröbern eingeschläfert.

Ich bedaure den Mann, der im Stande ist, von Dan bis Berseba zu reisen, und dabei auszurufen: »Es ist Alles öde!« – Und doch ist es so; und so muß die ganze Welt demjenigen erscheinen, der die Früchte, die sie hervorbringt, nicht anbauen will. – »Wahrhaftig«, sagte ich, indem ich freudig meine Hände zusammenschlug, »und wenn ich in einer Wüste wäre, ich wollte auch dort irgend etwas ausfindig machen, das meine wohlwollenden Empfindungen hervorriefe. – Wenn ich nichts Besseres wüßte, so würde ich sie einer lieblichen Myrte zuwenden, oder ich würde eine melancholische Cypresse suchen, um mich ihr anzuschließen – ich würde um ihren Schatten buhlen und ihres Schutzes wegen sie freundlich begrüßen – ich würde meinen Namen in ihre Rinde schneiden und schwören, sie wären die lieblichsten Bäume der ganzen Wüste. Wenn ihre Blätter welk herabhingen, so würde ich trauern, und wenn sie sich erquickt fühlten, so würde ich mich mit ihnen freuen.

Der gelehrte Smelfungus reiste von Boulogne nach Paris – von Paris nach Rom – und so weiter; aber er trat seine Reise mit Spleen und Gelbsucht an, und jeder Gegenstand, an dem er vorüberkam, erschien ihm farblos oder entstellt. – Er schrieb einen Bericht darüber, allein es war nur der Bericht von seinen trübseligen Empfindungen.

Ich begegnete dem Smelfungus in dem großen Porticus des Pantheon – er kam grade heraus. »Es ist nichts weiter, als ein ungeheurer Hahnenkampfplatz«, sagte er. – »Ich wollte, Sie hätten von der mediceischen Venus nichts Schlimmeres gesagt«, erwiederte ich, – denn bei meiner Durchreise durch Florenz hatte ich erfahren, daß er sich abscheulich über die Göttin ausgelassen, und sie wie eine gemeine Straßendirne behandelt hatte, ohne die geringste Herausforderung der Natur.

Ich stieß unversehens wieder in Turin auf Smelfungus, als er auf der Heimreise begriffen war, und er hatte nur eine traurige Geschichte von schrecklichen Abenteuern mitzutheilen, worin er »von kläglichen Vorfällen zu Wasser und zu Lande sprach, und von den Kannibalen, die einander auffressen – den Anthropophagen;« – er war bei lebendigem Leibe geschunden, und teufelmäßig behandelt, ja übler zugerichtet worden als der heilige Bartholomäus, auf jeder Station, die er passirt war – –

»Ich werde es der Welt berichten!« rief Smelfungus aus. – »Sie thäten besser«, sagte ich, »Sie berichteten es Ihrem Arzte.«

Mundungus, der ein unermeßliches Vermögen besitzt, machte die große Tour: er reiste von Rom nach Neapel – von Neapel nach Venedig – von Venedig nach Wien – nach Dresden, nach Berlin – ohne auch von nur einer edelherzigen Verbindung, oder einer vergnüglichen Anekdote berichten zu können. Er war immer drauf los gereist, ohne nach rechts oder links zu sehen, damit ja nicht Liebe oder Mitleid ihn von seinem Striche abbringen möchten.

Friede sei mit ihnen! – wenn der für sie zu finden ist; aber der Himmel selbst, wenn es auch möglich wäre, mit solchen Temperamenten dahin zu gelangen, würde keine Mittel haben, ihn zu geben. – Alle seligen Geister würden auf den Schwingen der Liebe herbeigeeilt kommen, ihre Ankunft zu begrüßen – die Seelen des Smelfungus und Mundungus würden nichts zu hören bekommen als neue Freudenhymnen, neue Entzückungen der Liebe und neue Glückwünsche über ihre gemeinsame Seligkeit – Ich bedaure sie von ganzem Herzen – sie haben keine Empfänglichkeit für dergleichen mitgebracht; und wäre dem Smelfungus und Mundungus die glückseligste Behausung im Himmel gewährt: sie würden sich doch so weit von aller Glückseligkeit entfernt fühlen, daß es den Seelen des Smelfungus und Mundungus in alle Ewigkeit ein Ort der Buße wäre.

 
Montreuil.

Einmal hatte ich meinen Mantelsack hinten von der Chaise verloren, und zweimal war ich im Regen ausgestiegen, und das eine Mal dabei bis an die Kniee in Koth getreten, um dem Postillon beim Wiederanbinden desselben zu helfen, ohne daß ich im Stande gewesen wäre, herauszufinden, woran es mir fehlte – Und eher fiel es mir auch nicht ein, als bis ich nach Montreuil gelangt war, und der Wirth mich fragte, ob ich nicht einen Diener brauche, – das grade war es.

»Einen Diener! ja, den brauch' ich recht sehr«, sagte ich. – »Nun, Monsieur«, sagte der Wirth, »da ist ein gewandter junger Bursch, der sich auf die Ehre viel zu gute thun würde, einem Engländer zu dienen.« – »Warum denn aber einem Engländer lieber als einem Andern?« – »Sie sind so generös«, sagte der Wirth. – »Ich will mich todtschießen lassen, wenn mich das nicht noch diesen Abend einen Livre mehr aus meiner Tasche kostet«, sagte ich zu mir selbst. – »Aber sie haben's auch, um es sein zu können, mein Herr«, setzte er hinzu. – »Dafür wieder einen Livre mehr«, sagte ich. – »Es war erst letzte Nacht«, sagte der Wirth, qu'un Mylord Anglais présentait un écu à la fille de chambre.« – »Tant pis pour Mademoiselle Jeanneton«, sagte ich.

Da nun Jeanneton des Wirths Tochter war, und er mich noch für einen Anfänger im Französischen hielt, so nahm er sich die Freiheit, mich zu belehren, daß ich nicht tant pis hätte sagen sollen, sondern tant mieux. »Tant mieux, toujours, Monsieur«, sagte er, »wenn etwas zu gewinnen ist – tant pis, wenn nichts.« – »Es kommt auf Eins hinaus«, sagte ich. – Pardonnez-moi,« sagte der Wirth.

Ich kann keine passendere Gelegenheit ergreifen, als hier ein für allemal zu bemerken, daß, da tant pis und tant mieux die zwei großen Angelpunkte in der französischen Conversation sind, ein Fremder sehr wohl thun würde, sich in dem Gebrauch derselben recht tüchtig einzuüben, ehe er nach Paris kommt.

Ein zungenfertiger französischer Marquis fragte an der Tafel unseres Gesandten Herrn H**, ob er H** der Dichter wäre? – »Nein«, sagte Herr H** freundlich. – »Tant pis«, versetzte der Marquis.

»Es ist H** der Geschichtschreiber«, sagte ein Anderer – Tant mieux«, sagte der Marquis; und Herr H**, der ein Mann von vortrefflichem Herzen ist, dankte verbindlich für beides.

Als mich der Wirth in dieser Angelegenheit zurecht gewiesen hatte, rief er La Fleur herein (dies war der Name des jungen Menschen, von dem er gesprochen hatte), vorher nur noch bemerkend: was dessen Talente beträfe, so wolle er sich nicht unterfangen, ein Wort zu verlieren – Monsieur wäre der beste Richter über das, was ihm zusagen würde; was aber die Treue La Fleurs anlange, so wolle er mit allem, was er besitze, dafür einstehn.

Dies äußerte der Wirth in einer Art und Weise, die mich augenblicklich zu dem Geschäft, das ich vorhatte, aufgelegt machte – und La Fleur, welcher draußen stand und mit jener athemlosen Erwartung harrte, die jeder Erdensohn seiner Zeit einmal empfunden hat, kam herein.

 
Montreuil.

Ich bin sehr geneigt, mich für alle Arten von Menschen beim ersten Anblick einnehmen zu lassen; am meisten aber, wenn ein armer Teufel kommt, um einem so armen Teufel, wie ich bin, seine Dienste anzubieten. Und da ich diese Schwäche an mir kenne, so lasse ich gern, in Rücksicht hierauf, mein Urtheil etwas in den Hintergrund treten – und zwar mehr oder weniger, je nach dem Modus oder Casus, in dem ich mich befinde – und ich mag wohl hinzufügen, auch nach dem Genus der Person, über die ich gebieten soll.

Als La Fleur in das Zimmer trat, entschieden – nach allem Abzug, den ich meinem Herzen zum Trotz machen konnte, – der offene Blick und die treuherzige Miene des Burschen die Sache auf einmal zu seinen Gunsten. Und so miethete ich ihn denn zuerst, und fing dann an, ihn zu fragen, was er verrichten könne. »Doch ich werde schon seine Geschicklichkeiten entdecken«, sagte ich, »wenn ich ihrer benöthigt bin – und außerdem: ein Franzose ist zu allen Dingen anstellig.«

Nun, der arme La Fleur konnte nichts weiter auf der Welt, als die Trommel schlagen und einen oder zwei Märsche auf der Querpfeife blasen. Ich war entschlossen, seine Talente geltend zu machen, und kann nicht sagen, daß meine Schwachheit jemals von meiner Klugheit so bespöttelt worden wäre, als bei diesem Versuche.

La Fleur hatte früh im Leben damit angefangen – tapfer wie die Franzosen größtenteils sind – einige Jahre zu dienen. Nach Verlauf derselben, da er diese Neigung befriedigt und überdies gefunden hatte, daß die Ehre, die Trommel zu schlagen, wahrscheinlich ihren Lohn in sich enthielte, da sie ihm keinen weiteren Pfad für den Ruhm eröffnete – zog er sich à ses terres zurück und lebte, comme il plaisait à Dieu – das heißt so viel als: von nichts.

»Und so hast du nun«, sagte die Klugheit, »einen Trommler als Begleiter auf deiner Tour durch Frankreich und Italien gemiethet!« – »Pah!« rief ich aus: »macht nicht die Hälfte unserer Vornehmen mit einer Schlafmütze als compagnon de voyage dieselbe Rundreise, und haben sie nicht den Pfeifer und den Teufel und Alles außerdem zu bezahlen?« Wenn sich ein Mensch mit einem Witze aus einem so ungleichen Handel heraushelfen kann, so ist er nicht so übel dran – »Aber du kannst doch noch sonst etwas, La Fleur?« fragte ich. – »O qu'oui«, antwortete er: er könnte noch Kamaschen machen und ein wenig auf der Geige spielen. – »Bravo!« sagte die Klugheit. »Nun, ich spiele den Baß«, sagte ich – »da werden wir gut zusammen passen. – Kannst du rasiren und die Perrücke ein wenig zurecht stutzen, La Fleur?« – Er habe zu Allem in der Welt Lust. – »Beim Himmel, das ist hinreichend!« sagte ich, indem ich ihn unterbrach, »und muß mir genügen.« – Als darauf das Abendessen aufgetragen wurde, und ich an der einen Seite meines Stuhls einen muntern englischen Wachtelhund und an der andern einen französischen Bedienten hatte, mit so viel Heiterkeit im Gesicht, als die Natur jemals in eines hineinmalte: so war ich aus vollem Herzen mit meinem kleinen Reiche zufrieden; und wenn Monarchen recht wüßten, was sie eigentlich wollten, so würden sie so zufrieden sein, als ich es war.

 
Montreuil.

Da La Fleur die ganze Tour durch Frankreich und Italien mit mir machte und noch oft auf der Bühne erscheinen wird, so muß ich doch beim Leser ein wenig mehr Antheil für ihn erwecken, indem ich sage, daß ich niemals weniger Ursache hatte, die Triebfedern, welche mich gewöhnlich zu einem Entschlusse bestimmen, zu bereuen, als in Betreff dieses Burschen. Er war eine so treue, gutherzige, ungekünstelte Seele, als nur jemals den Fersen eines Philosophen nachgetreten ist; und trotzdem, daß seine Fertigkeiten im Trommelschlagen und Kamaschenmachen, wenn auch recht gut an sich, für mich nicht grade von großem Vortheil waren: so wurde ich doch allstündlich durch die Fröhlichkeit seines Naturells belohnt – das ersetzte alle Mängel. Ich fand steten Trost in seinen Blicken in all meinen mißlichen Lagen und Bedrängnissen – bald hätte ich hinzugefügt, in den seinigen auch, – aber La Fleur wurde von gar keiner Noth angefochten. Denn mochte er Hunger oder Durst, oder Kälte oder Blöße oder Wachen oder was sonst für Streiche des Mißgeschicks auf unsern Reisen zu ertragen haben: niemals stand etwas in seinem Gesicht geschrieben, was Kunde davon gegeben hätte – Er blieb stets derselbe; so daß, wenn ich ein Stück von einem Philosophen bin – (welche Meinung mir der Satan zu Zeiten in den Kopf setzt) – so kränkt es immer den Stolz dieser Einbildung, wenn ich erwäge, wieviel ich der Temperaments-Philosophie dieses armen Burschen verdanke, der durch Beschämung mich zu einer bessern brachte. Bei alledem hatte La Fleur einen leichten Anstrich von Geckenhaftigkeit – er schien aber beim ersten Anblick mehr ein natürlicher als ein gemachter Geck zu sein; und ehe ich noch drei Tage mit ihm in Paris zugebracht hatte – kam er mir nicht im Mindesten mehr wie ein Geck vor.

 
Montreuil.

Als am nächsten Morgen La Fleur sein Amt antrat, übergab ich ihm den Schlüssel zu meinem Mantelsack nebst einem Verzeichniß von meinem halben Dutzend Hemden und dem Paar seidnen Beinkleidern, mit der Weisung, Alles gut auf die Chaise zu packen, die Pferde vorspannen zu lassen und den Wirth zu rufen, daß er die Rechnung bringe.

»C'est un garçon de bonne fortune«, sagte der Wirth, indem er durch das Fenster auf ein halb Dutzend Mädchen zeigte, die sich um La Fleur versammelt hatten und höchst freundlich von ihm Abschied nahmen, während der Postillon die Pferde herausführte. La Fleur küßte allen der Reihe nach wiederholt die Hände; fuhr sich dreimal über die Augen und gab dreimal das Versprechen, er wolle ihnen Allen Ablaß von Rom mitbringen.

»Der junge Bursch«, sagte der Wirth, »ist in der ganzen Stadt beliebt, und es giebt kaum einen Winkel in Montreuil, wo man nicht seine Abwesenheit empfinden wird. Er hat nur ein einziges Mißgeschick«, fuhr er fort, »er ist immer verliebt.« – »Das freut mich von Herzen«, sagte ich – »das wird mir die Unbequemlichkeit ersparen, jede Nacht meine Beinkleider unter mein Kopfkissen zu legen.« – Indem ich dies äußerte, hielt ich nicht sowohl La Fleur eine Lobrede, als vielmehr mir selbst, weil ich fast mein ganzes Leben durch in die eine oder die andere Prinzessin verliebt war, und ich hoffe, daß das so fortdauern soll, bis ich sterbe, da ich fest überzeugt bin, daß, wenn ich je eine niedrige Handlung begehe, dies nur in der Zwischenzeit zwischen der einen und der andern Leidenschaft geschehen wird. So lange dies Interregnum währt, fühle ich stets mein Herz zugeschlossen; – ich kann kaum einen Groschen für einen Armen herausbringen. Darum suche ich immer sobald als möglich diesen Zustand los zu werden; und in dem Augenblick, daß ich wieder in Flammen stehe, bin ich auch von Neuem ganz Großmuth und Menschenfreundlichkeit und würde für und mit Jedermann alles in der Welt thun, wenn man mich nur darüber beruhigt, daß keine Sünde dabei ist.

– Doch, indem ich dies sage – wahrhaftig, lobe ich die Liebe – nicht mich.

Ein Fragment.

– – – Die Stadt Abdera war, ungeachtet Democritus daselbst lebte und alle Gewalt der Ironie und des Lachens anwandte, um sie zu bessern, doch die schändlichste und ruchloseste in ganz Thrakien. Was für Vergiftungen, Verschwörungen und Mordthaten, was für Schmäh- und Spottreden und Aufläufe gingen dort nicht bei Tage vor – und in der Nacht war es noch schlimmer.

Nun ereignete es sich, als diese Dinge gerade aufs Höchste gestiegen waren, daß die Andromeda des Euripides in Abdera aufgeführt wurde und die ganze Orchestra davon entzückt war. Aber unter allen Stellen, die das Volk entzückten, wirkte keine so stark auf dessen Einbildungskraft, als die zarten Züge der Natur, die der Dichter in jene pathetische Rede des Perseus eingewoben hatte: »O Amor, Herr der Götter und der Menschen! &c.« – Am andern Tage sprach alle Welt fast nur in Jamben und von nichts als von Perseus und seiner rührenden Anrede: »O Amor! Herr der Götter und der Menschen!« – in jeder Straße von Abdera, in jedem Hause: »O Amor! Amor!« – in jedem Munde, gleich den kunstlosen Tönen einer süßen Melodie, die unwillkürlich unsern Lippen entschlüpft, nichts als: »O Amor, Amor, Herr der Götter und der Menschen!« – Das Feuer griff um sich – und die ganze Stadt stand, wie das Herz Eines Mannes, der Liebe offen.

Kein Arzneikrämer konnte auch nur ein Körnchen Nieswurz los werden – kein Waffenschmied hatte das Herz, ein Todesinstrument zu schmieden – Freundschaft und Tugend fielen einander in die Arme und küßten sich auf der Straße – das goldne Alter kehrte zurück und schwebte über der Stadt Abdera – jeder Abderit ergriff sein Haberrohr, und jede Abderitin verließ ihr Purpurgewebe und setzte sich züchtig nieder und lauschte dem Gesange.

»Solches zu bewirken«, sagt das Fragment, »vermochte nur der Gott, dessen Herrschaft vom Himmel zur Erde, und selbst in die Tiefen des Meeres reicht.«

 
Montreuil.

Wenn im Gasthofe Alles bereit und jeder einzelne Posten der Rechnung bestritten und bezahlt ist, so bleibt, wofern ihr nicht über all diese Umstände etwas verdrießlich geworden seid, noch an der Thür etwas abzumachen, eh ihr in eure Chaise einsteigen könnt, nämlich mit den Söhnen und Töchtern der Armuth, die sich um euch her drängen. Niemand sage: »Mögen sie zum Teufel gehen!« – das hieße, einige wenige Unglückliche auf eine schreckliche Reise schicken, und sie haben doch genug gelitten ohne das. Ich denke, es ist immer besser, einige Sous in die Hand zu nehmen; und ich möchte jedem gutgesinnten Reisenden rathen, es auch so zu machen. Er braucht nicht so genau aufzuschreiben, aus was für Gründen und wofür er sie ausgegeben hat – sie werden schon anderswo zu Buche getragen werden.

Was mich anbelangt, so giebt wohl kein Mensch so wenig als ich; denn nur wenige von denen, die ich kenne, haben so wenig zu geben. Doch da dies die erste öffentliche Handlung meiner Wohlthätigkeit in Frankreich war, so verwendete ich um so mehr Aufmerksamkeit darauf.

»Nun, das wird gut werden!« sagte ich; »ich habe nur acht Sous in Summa« (indem ich sie in meiner Hand zeigte)»und da stehen für sie acht arme Männer und acht arme Frauen.«

Ein armer zerlumpter Mensch, ohne Hemd auf dem Leibe, zog augenblicklich seinen Anspruch zurück, indem er sich zwei Schritte von dem Kreis entfernte und einen ablehnenden Bückling machte. Hätte ein ganzes Parterre mit Einer Stimme ausgerufen: »Place aux dames!« – es würde das Gefühl der Achtung vor dem andern Geschlecht nicht halb so wirksam ausgedrückt haben.

Gerechte Vorsicht! aus was für weisen Gründen hast du es angeordnet, daß Bettelarmuth und artiges Benehmen, die in andern Ländern so weit von einander getrennt sind, in diesem einen Weg zur Vereinigung finden sollten?

– Ich bestand darauf, daß er einen Sous annehmen mußte, blos seiner Politesse wegen.

Ein armer, kleiner, zwerghafter, munterer Bursche, der im Kreise mir grade gegenüber stand, zog, nachdem er vorher etwas unter seinen Arm geschoben, was einst ein Hut gewesen war, eine Schnupftabaksdose aus der Tasche hervor, und bot freigebig nach beiden Seiten hin eine Prise an. Das war schon eine Gabe von Werth, und man schlug sie bescheiden aus. – Der arme kleine Bursche aber nöthigte sie ihnen auf, indem er einladend mit dem Kopfe nickte – »Prenez en – prenez«, sagte er und blickte anderswohin; und so nahm denn jeder eine Prise. – »Schade, wenn deine Dose jemals leer sein sollte«, sagte ich bei mir, und legte ein paar Sous hinein, indem ich eine kleine Prise daraus nahm, um den Werth der Gabe zu erhöhen. – Er fühlte das Gewicht der zweiten Dankverpflichtung stärker, als das der ersten – ich erwies ihm damit eine Ehre – das andere war nur eine milde Gabe – und er machte mir dafür einen Bückling bis auf die Erde.

– »Hier!« sagte ich zu einem alten Krieger mit Einer Hand, welcher Feldzüge mitgemacht hatte und im Dienst des Vaterlandes alt und schwach bis zum Tode geworden war – »hier sind ein paar Sous für dich.« – »Vive le roi!« sagte der alte Soldat.

Jetzt hatte ich nur noch drei Sous. Einen gab ich einfach »pour l'amour de Dieu«, weil er darauf hin von mir erbeten wurde – das arme Weib hatte eine ausgerenkte Hüfte, und so konnte es nicht wohl aus einem andern Grund geschehen.

»Mon cher et très-charitable Monsieur!« –»Da kann man unmöglich widerstehen«, sagte ich.

My Lord Anglais« – der bloße Klang schon war das Geld werth – und so gab ich meinen letzten Sous dafür hin. – Aber im Eifer des Gebens hatte ich einen pauvre honteux übersehen, welcher keinen Menschen hatte, um einen Sous für ihn zu bitten, und der doch, glaube ich, eher gestorben sein würde, als daß er selbst darum gebettelt hätte. Er stand nahe an der Chaise, ein wenig außer dem Kreise, und wischte eine Thräne von einem Gesicht, welches, allem Anschein nach, bessere Tage gesehen hatte. – »Guter Gott!« sagte ich – »und ich habe nicht einen einzigen Sous mehr, den ich ihm geben könnte.« – »Aber du hast ja tausende!« – schrieen alle Mächte der Natur, die sich in mir regten – und so gab ich ihm – was liegt daran, was – ich schäme mich jetzt, zu sagen, wie viel – und schämte mich damals, daran zu denken, wie wenig. – Nun, wenn der Leser sich eine Muthmaßung aus meiner Stimmung zu bilden vermag: so kann er, da ihm zwei feste Puncte gegeben sind, innerhalb einem oder zwei Livres rathen, welches die genaue Summe war.

Den Uebrigen konnte ich weiter nichts geben, als ein »Dieu vous benisse!« – »Et le bon Dieu vous benisse encore!« – sagte der alte Soldat, der Zwerg u. s. w. Der pauvre honteux konnte nichts sagen – er zog ein kleines Taschentuch hervor, und fuhr sich damit, indem er sich wegwandte, über die Augen – und ich hielt dafür, daß er mir mehr dankte, als alle Uebrigen.


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