Laurence Sterne
Empfindsame Reise
Laurence Sterne

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Die Handschuhe.

Paris.

Die hübsche Krämerfrau stand, als ich dies sagte, auf, ging hinter den Ladentisch, holte ein Packet herunter und band es auf. Ich trat an die äußere Seite des Ladentisches ihr gegenüber. Sie waren alle zu weit. Die hübsche Krämerin maß sie, ein Paar nach dem andern, über meine Hand; sie blieben alle zu weit, nach wie vor. – Sie bat mich, daß ich ein Paar, welches das kleinste zu sein schien, anprobiren möchte – sie hielt sie mir offen hin – meine Hand schob sich im Nu hinein. –

»Es will nicht passen«, sagte ich, ein wenig mit dem Kopfe schüttelnd. – »Nein«, sagte sie, und that desgleichen. Es giebt gewisse zusammengesetzte Blicke von einfacher Feinheit, worin launiges, verständiges, ernstes und schalkhaftes Wesen so gemischt sind, daß alle Sprachen Babels, zusammen losgelassen, keinen Ausdruck dafür zu geben vermöchten –: sie werden so augenblicklich mitgetheilt und aufgefangen, daß man kaum sagen kann, welcher der ansteckende Theil ist. Ich überlasse es euren Wortmachern, Seiten darüber vollzuschreiben; gegenwärtig reicht es hin, noch einmal zu wiederholen: die Handschuhe wollten nicht passen. Und so lehnten wir uns beide, die Hände in die Arme schlagend, nachlässig auf den Ladentisch hin – er war schmal und bot grade nur noch Raum genug, daß das Packet Handschuhe zwischen uns liegen konnte.

Die hübsche Ladenfrau sah bisweilen auf die Handschuhe, dann seitwärts nach dem Fenster, dann wieder auf die Handschuhe – dann auf mich. Ich fühlte keinen Antrieb, das Schweigen zu brechen; – ich folgte ihrem Beispiele: sah bald auf die Handschuhe, bald nach dem Fenster hin, dann wieder auf die Handschuhe, dann nach ihr – und so ging es abwechselnd fort.

Ich merkte, daß ich bei jedem wiederholten Angriff beträchtlich in Nachtheil gerieth – sie hatte lebhafte, schwarze Augen und schoß unter langen und seidenen Wimpern so durchdringende Blicke hervor, daß sie mir bis ins innerste Herz hinein schaute. – Es mag seltsam erscheinen, aber ich empfand in der That, daß es so war. –

»Es thut nichts«, sagte ich, indem ich zwei Paare der mir zunächst liegenden zu mir nahm und in die Tasche steckte.

Es war mir nicht recht, daß die hübsche Krämerfrau mir kaum mehr als einen einzigen Livre über den Preis abgefordert hatte; ich wünschte, sie hätte noch einen mehr gefordert, und zerbrach mir den Kopf, wie ich das zuwege bringen sollte. – »Könnten Sie glauben, mein werther Herr«, sagte sie, meine Verlegenheit mißverstehend, »daß ich im Stande wäre, von einem Fremden auch nur einen Sous zu viel zu fordern – und noch dazu von einem Fremden, der mehr aus Artigkeit, als weil er Handschuhe braucht, mir die Ehre erwiesen und sein Vertrauen geschenkt hat? – M'en croyez-vous capable?« – »Ich wahrhaftig nicht!« sagte ich; »und wenn Sie dessen fähig wären, so würde es mir nur willkommen sein.« Damit zählte ich ihr das Geld in die Hand, und mit einer tieferen Verbeugung, als man sonst einer Krämerfrau zu machen pflegt, ging ich fort, und ihr Bursche folgte mir mit seinem Packet nach.

Die Uebersetzung.

Paris.

In der Loge, in welche man mich wies, war niemand, als ein freundlicher, alter französischer Offizier. Ich liebe diesen Charakter; nicht nur, weil ich den Mann ehre, dessen Sitten durch einen Beruf, welcher sonst schlimme Menschen noch schlimmer macht, milder geworden sind; sondern weil ich einst einen gekannt habe – denn er ist nicht mehr! – – Und warum sollte ich nicht ein Blatt vor dem Verderben retten, indem ich seinen Namen darauf schreibe und der Welt sage, daß dies Capitain Tobias Shandy war, der Theuerste meiner geistlichen Heerde und meiner Freunde, an dessen Menschenfreundlichkeit, so lang es auch her ist, daß er gestorben, ich niemals denken kann, ohne daß meine Augen von Thränen überfließen. Um seinetwillen habe ich eine Vorliebe für den ganzen Stand alter Krieger; und so stieg ich über die beiden hintern Reihen von Bänken weg und setzte mich neben ihn.

Der alte Offizier las aufmerksam in einem kleinen Büchelchen (es mochte wohl der Operntext sein) mit einer großen Brille. Sobald ich mich niedergesetzt hatte, nahm er diese ab, und nachdem er sie in ein Chagrinfutteral gelegt hatte, steckte er sie nebst dem Büchelchen in die Tasche. Ich erhob mich halb und machte ihm eine Verbeugung.

Uebersetzt dies in irgend eine civilisirte Sprache der Welt – und der Sinn ist folgender:

»Da ist ein sich selbst überlassener Fremder in die Loge gekommen. Er scheint niemand zu kennen, und würde wahrscheinlich auch niemand kennen lernen, und wenn er sieben Jahre in Paris wäre, sofern Jeder, dem er sich nähert, seine Brille auf der Nase behielte – denn das hieße, ihm die Thüre der Unterhaltung vor der Nase zuschlagen und ihn ärger behandeln als einen Deutschen.«

Der französische Offizier hätte dies ebenso gut laut sagen können; und hätte er es gethan, so würde ich natürlich die Verbeugung, die ich ihm machte, auch in das Französische übersetzt und zu ihm gesagt haben: »ich empfände seine Aufmerksamkeit sehr wohl und sage ihm tausend Dank dafür«.

Es giebt kein Geheimniß, das den Fortschritt des geselligen Verkehrs so fördert, als die Kunst, Meister in der Auslegung solcher Abbreviaturen zu sein, und die verschiedenen Bewegungen der Blicke und Glieder mit all ihren Abwandlungen und Umschreibungen in klaren Worten rasch wiedergeben zu können. Ich meinestheils übe dies, zufolge langer Gewohnheit, so mechanisch, daß ich, bei einem Spaziergang durch die Straßen Londons, auf dem ganzen Wege solches Uebersetzen treibe; und mehr als einmal habe ich hinter einem Gesellschaftskreise gestanden, worin nicht drei Worte gesprochen wurden, und dennoch zwanzig verschiedene Dialoge daraus mit hinweggetragen, die ich recht gut hätte zu Papier bringen und beschwören können.

In Mailand wollte ich eines Abends in Martinas Concert gehen und trat grade in die Thür der Halle, als die Marquise von F . . . mit einer gewissen Eile heraus kam – sie stand fast vor mir, ehe ich sie bemerkte. Ich sprang also zur Seite, um sie vorüberzulassen; – sie hatte das Nämliche gethan, und zwar nach der nämlichen Seite, und so rannten wir denn mit den Köpfen zusammen. Augenblicklich wandte sie sich nach der andern Seite, um hinauszukommen; ich traf es gerade so unglücklich wie sie, denn ich war ebenfalls nach jener Seite gesprungen und verrannte ihr abermals den Weg. – Wir flogen beide gleichzeitig wieder auf die entgegengesetzte Seite, und dann zurück – und so fort – es war zum Lachen. Wir wurden beide über die Maßen roth; endlich that ich denn, was ich gleich zu Anfang hätte thun sollen: ich blieb still stehen, und die Marquise hatte keine Beschwerlichkeit weiter. Ich war nicht im Stande, eher in den Saal zu gehen, bis ich ihr so viel Genugthuung gegeben hatte, daß ich wartete und ihr mit den Augen bis zum Ausgang folgte – Sie sah zweimal zurück und hielt sich mehr an die Seite, als wenn sie jemandem, der die Treppe herauf käme, Platz lassen wollte, vorbei zu kommen. –»Nein«, sagte ich, »das ist eine elende Auslegung: die Marquise hat ein Recht auf die beste Entschuldigung, die ich ihr nur machen kann; und jener freie Raum ist mir offen gelassen, dies zu thun.«– Also eilte ich zu ihr hin und bat um Verzeihung wegen der Verlegenheit, in die ich sie gesetzt hätte, indem ich sagte, es wäre meine Absicht gewesen, ihr Platz zu machen. Sie antwortete, dieselbe Absicht hätte sie mir gegenüber geleitet – und so dankten wir denn einander gegenseitig. Sie stand gerade am obern Ende der Treppe, und da ich keinen Cicisbeo in ihrer Nähe bemerkte, so bat ich, sie zur Kutsche geleiten zu dürfen. Wir stiegen also die Treppe hinab und blieben auf jeder dritten Stufe stehen, um von dem Concert und dem Abenteuer zu reden. – »Auf mein Wort, Madame«, sagte ich, als ich ihr in den Wagen geholfen hatte, »ich habe mich sechsmal bemüht, Sie herauszulassen« – »Und ich mich sechsmal«, entgegnete sie, »um Sie hineinzulassen.« – »Wollte der Himmel«, sagte ich, »Sie thäten es zum siebenten Male.« – »Von Herzen gern«, sagte sie und machte mir Platz. – Das Leben ist zu kurz, um viele Zeit mit Formalitäten zu verlieren – ich stieg also flugs ein, und sie nahm mich mit sich nach Hause. – Was aus dem Concert geworden ist, das wird die heilige Cäcilia, die vermutlich dabei war, besser wissen als ich.

Der Zwerg.

Paris.

Ich will nur noch hinzufügen, daß die Bekanntschaft, die ich dieser Uebersetzung verdankte, mir mehr Vergnügen gewährt hat, als sonst irgend eine, die ich in Italien zu machen die Ehre hatte.

Ich hatte die Bemerkung in meinem Leben von Niemand gehört, ausgenommen von Einem – und wer das gewesen, wird sich wahrscheinlich aus diesem Kapitel ergeben. Da ich also so gut wie gar nicht im voraus eingenommen war, so mußten doch Gründe für das vorhanden sein, was mir, als ich auf das Parterre hinabblickte, sofort in die Augen fiel – und dies war das unerklärbare Spiel der Natur, wodurch sie eine solche Menge von Zwergen hervorbrachte. – Ohne Zweifel treibt sie Kurzweil zu gewissen Zeiten in fast jedem Winkel der Welt; in Paris aber ist ihres Scherzens kein Ende – die Göttin scheint fast ebenso ausgelassen, als sie weise ist.

Da ich meine Idee aus der Opéra comique mit mir nahm, so maß ich damit einen Jeden, den ich in den Straßen gehen sah. – Eine melancholische Nutzanwendung! – besonders da, wo die Größe ohnedies ausnehmend gering ist – das Gesicht außerordentlich brünett – die Augen unruhig – die Nase lang – die Zähne weiß – das Kinn vorragend –: so viele Unglückliche zu sehen, die durch die Gewalt von Zufälligkeiten aus ihrer eigentümlichen Klasse fast bis an die Grenze einer andern getrieben worden, so daß es mir Pein erregt, es niederzuschreiben: – jeder dritte Mensch ein Pygmäe! – einige mit unförmlichen Köpfen und höckerigen Rücken – andere mit krummen Beinen – ein dritter Theil von der Hand der Natur im sechsten oder siebenten Jahre im Wachsthum zurückgehalten – ein vierter, sonst in vollkommnem und natürlichem Zustande, gleich Zwergbäumchen von den ersten Keimen des Lebens an bestimmt, niemals größer zu werden.

Ein medizinischer Reisender könnte behaupten, das rühre von unzweckmäßigem Einwickeln her – ein mit dem Spleen behafteter, vom Mangel an Luft – und ein neugieriger Reisender mag, um das System zu befestigen, die Höhe ihrer Häuser und die Enge ihrer Gassen messen – und in wie wenig Cubikfuß Raum im sechsten und siebenten Stockwerk so viele Personen von der Bourgeoisie zusammen essen und schlafen. Aber ich erinnere mich, daß Herr Shandy der Aeltere – der nichts in einer Weise wie andere Menschen betrachtete – eines Abends, als von dergleichen die Rede war, die Behauptung aufstellte, daß Kinder, gleich andern Thieren, fast zu jeder Größe herangezogen werden könnten, vorausgesetzt, daß sie auf richtige Art zur Welt kämen; aber das Elend wäre: die bürgerlichen Einwohner von Paris lebten so zusammengepfercht, daß sie wirklich nicht Raum genug hätten, welche zu erzielen – »ich kann dies nicht einmal: Etwas erzielen nennen«, sagte er; »es heißt vielmehr Nichts erzielen.« – »Ja, fuhr er fort, in seiner Darlegung sich steigernd, »es heißt etwas Schlimmeres erzielen als Nichts, wenn alles, was ihr erzielt habt, nach zwanzig oder fünfundzwanzig Jahren der zärtlichsten Sorgfalt und der nahrhaftesten Kost, die darauf verwendet wird, zuletzt nicht größer sein soll, als mein Bein.« – Weil nun Herr Shandy von sehr kurzer Statur war, so konnte freilich nichts Stärkeres über die Sache gesagt werden.

Da dies kein Werk wissenschaftlicher Untersuchung ist, so lasse ich die Erklärung auf sich beruhen und begnüge mich allein mit der Wahrheit der Bemerkung, welche in jeder Gasse und Nebengasse von Paris ihre Bestätigung findet. Ich ging einmal jene hinunter, welche von dem Caroussel nach dem Palais Royal führt, und da ich einen kleinen Knaben an dem Rande der Gosse, welche mitten durch die Straße hinlief, in Verlegenheit sah: so reichte ich ihm meine Hand entgegen und half ihm herüber. Als ich darauf sein Gesicht in die Höhe richtete, um ihn anzusehen, nahm ich wahr, daß er ungefähr ein Vierziger war. – »Thut nichts«, sagte ich; »irgend ein gutherziger Mensch wird mir den gleichen Dienst erweisen, wenn ich einmal neunzig bin.«

Ich fühle in mir gewisse kleine Grundsätze, die mich zum Wohlwollen gegen diesen armen, verkrüppelten Theil meiner Mitmenschen bestimmen, welcher weder Größe noch Kraft genug besitzt, um in der Welt fortzukommen. – Ich kann es nicht ertragen, wenn ich sehe, daß man einen von ihnen mißhandelt; und ich hatte mich kaum neben meinem alten französischen Offizier niedergelassen, als diese widerwärtige Empfindung in mir dadurch erregt ward, daß ich grade einen solchen Fall unter der Loge, in der wir saßen, vorgehen sehen mußte.

Am Ende des Orchesters, zwischen diesem und der ersten Seitenloge, ist ein schmaler Raum gelassen, wohin, wenn das Haus voll ist, Leute aus allen Ständen ihre Zuflucht nehmen. Obschon man dort stehen muß, wie im Parterre, so muß man doch den nämlichen Preis bezahlen, wie im Orchester. Ein armes, wehrloses Geschöpf aus jener Klasse war auf eine oder die andere Weise an diesen unglücklichen Ort gedrängt worden – der Abend war heiß, und er war von Wesen umgeben, die zwei und einen halben Fuß größer waren als er. Der Zwerg hatte von allen Seiten her unaussprechlich zu leiden; doch was ihm am beschwerlichsten fiel, war ein großer, wohlbeleibter Deutscher von fast sieben Fuß Höhe, welcher gerade zwischen ihm und aller Möglichkeit, etwas von der Bühne und den Schauspielern zu sehen, stand. Der arme Zwerg that alles, was er konnte, um einen Lug von dem, was vorging, zu gewinnen, indem er nach einer kleinen Oeffnung zwischen dem Arm und dem Körper des Deutschen spähte, es bald auf der einen, bald auf der andern Seite versuchend; aber der Deutsche stand wie ein Quaderstein in der unnachgiebigsten Stellung, die man sich nur denken kann – der Zwerg hätte ebenso gut auf dem Grunde des tiefsten Ziehbrunnens in Paris stehen können. Er reichte also höflich mit seiner Hand nach dem Rockärmel des Deutschen und klagte ihm seine Noth; – der Deutsche drehte den Kopf herum, sah auf ihn hinab, wie Goliath auf David – und nahm gefühllos wieder die vorige Stellung ein.

Ich nahm da gerade eine Prise aus meines Mönchs kleiner Horndose. – »Wie würde dein sanfter und höflicher Sinn, mein lieber Mönch!– so geübt im Ertragen und Dulden! – wie willfährig würde er der Klage dieser armen Seele ein Ohr geliehen haben.«

Da der alte französische Offizier mich bewegt die Augen erheben sah, als ich die Apostrophe that, nahm er sich die Freiheit, zu fragen, was es gäbe. – Ich theilte ihm die Geschichte in drei Worten mit und fügte hinzu, wie inhuman dies wäre.

Mittlerweile war der Zwerg aufs Aeußerste gebracht worden und hatte in seinen ersten Aufwallungen, welche gewöhnlich unvernünftig sind, dem Deutschen gedroht, er wolle ihm seinen langen Zopf mit dem Messer abschneiden. – Der Deutsche sah sich kaltblütig um und meinte, er solle es nur thun, wenn er hinaufreichen könne.

Eine Beleidigung, die durch Hohn verschärft wird, treffe sie wen sie wolle, macht jeden Menschen von Gefühl parteiisch: ich hätte aus der Loge stürzen mögen, um diesem Unwesen zu steuern. – Der alte französische Offizier that dies mit weit geringerer Störung; denn nur ein wenig sich über die Brüstung lehnend, winkte er einer Wache und wies zugleich mit dem Finger auf den Uebelstand hin – die Wache verfügte sich hin. – Da bedurfte es nicht erst der Erörterung der Beschwerde – die Sache sprach von selbst. Der Gardist stieß den Deutschen sofort mit seiner Muskete zurück, nahm den armen Zwerg bei der Hand und stellte ihn vor jenen hin. – »Das ist lobenswerth!« sagte ich und schlug meine Hände zusammen. – »Und doch«, sagte der alte Offizier, »würde man dies in England nicht gestatten.«

– »In England, werther Herr«, sagte ich, »sitzen wir alle ganz bequem

Der alte französische Offizier würde mich wieder in Uebereinstimmung mit mir selbst gebracht haben, falls ich mit mir in Widerspruch gewesen wäre, indem er sagte, das wäre ein bon mot – und da ein bon mot in Paris immer etwas werth ist, so bot er mir eine Prise an.

Die Rose.

Paris.

Nun kam die Reihe an mich, den alten französischen Offizier zu fragen: »was es gäbe?« – denn ein Geschrei: »Haussez les mains, Monsieur l'Abbé!« das wohl von einem Dutzend verschiedener Stellen des Parterres erscholl, war für mich ebenso unverständlich, als meine Apostrophe an den Mönch ihm gewesen war.

Er sagte mir, es beziehe sich auf irgend einen armen Abbé in einer der obern Logen, der sich, wie er vermuthe, verstohlener Weise hinter ein paar Grisetten aufgepflanzt hätte, um die Oper zu hören, und das Parterre, das ihn ausgespäht hätte, bestände darauf, daß er während der Vorstellung seine beiden Hände in die Höhe halten solle. – »Und kann man annehmen«, fragte ich, »daß ein Geistlicher sich an den Taschen der Grisetten vergreifen sollte?« – Der alte französische Offizier lächelte und eröffnete mir, ins Ohr flüsternd, das Verständniß über Etwas, wovon ich keinen Begriff hatte.

»Guter Gott!« sagte ich und erblaßte vor Erstaunen – »ist es möglich, daß ein in Empfindung so verliebtes Volk zu gleicher Zeit so unsauber und sich selbst so widersprechend sein kann? – Quelle grossièreté!« setzte ich hinzu.

Der französische Offizier sagte hierauf, es wäre ein etwas ungroßmüthiger Sarkasmus gegen die Kirche, der im Theater zu der Zeit, als Molière den Tartüffe auf die Bühne brachte, seinen Anfang genommen habe – der aber gegenwärtig, gleich andern Ueberbleibseln gothischer Sitten im Abnehmen begriffen sei. – »Jede Nation«, fuhr er fort, »hat ihre Raffinements und Grossièretés, in welchen sie vor andern den Rang behauptet, den sie ihnen der Reihe nach abtritt« – Er hätte die meisten Länder gesehen; aber in keinem wäre er gewesen, wo er nicht gewisse Delikatessen angetroffen hätte, die andern zu fehlen schienen. »Le Pour et le Contre se trouvent en chaque nation. Es giebt überall«, sagte er, »ein gewisses Gleichgewicht von Gutem und Schlimmem; und nichts anderes, als daß man weiß, daß es einmal so ist, kann die eine Hälfte der Welt von den Vorurtheilen befreien, die sie gegen die andere hegt. – Der Nutzen des Reisens bestände in Rücksicht des savoir vivre darin, sehr viele Menschen und deren Sitten zu beobachten; es lehre uns gegenseitige Duldung – und gegenseitige Duldung – schloß er mit einer Verbeugung gegen mich – lehre uns gegenseitiges Wohlwollen.

Der alte französische Offizier äußerte dies mit einem so freimüthigen und verständigen Wesen, daß es mit den ersten günstigen Eindrücken, die ich von seinem Charakter empfing. übereintraf – ich fühlte, daß ich den Mann liebte; aber ich befürchtete, mich im Gegenstande zu irren. Es war meine eigne Weise, zu denken – nur mit dem Unterschied, daß ich mich nicht halb so gut hätte ausdrücken können.

Es ist für den Reiter ebenso beschwerlich, als für sein Thier, wenn dieses immer mit gespitzten Ohren geht, und bei jedem ihm unbekannten Gegenstande stutzt. – Ich bin zwar damit so wenig als irgend eine lebende Creatur geplagt; dennoch muß ich ehrlich bekennen, daß mir im ersten Monate Mancherlei ein peinliches Gefühl verursachte, und daß ich bei manchem Wort erröthete, das ich im zweiten bedeutungslos und vollkommen unschuldig befand.

Madame de Rambouillet hatte mir, nachdem ich ungefähr sechs Wochen mit ihr bekannt war, die Ehre erwiesen, mich in ihrem Wagen etwa zwei Meilen außerhalb der Stadt mit zu nehmen. – Madame de Rambouillet ist die anstandvollste aller Frauen, und ich darf nicht hoffen, eine von mehr Tugenden und größerer Reinheit des Herzens zu sehen. – Bei unserer Rückkehr bat sie mich, die Klingelschnur zu ziehen – ich fragte, ob sie etwas bedürfe – »Rien que pisser«, sagte Madame de Rambouillet.

Nimm keinen Anstoß daran, zartfühlender Reisender, daß Madame de Rambouillet p . . . . . will. – Und ihr, schöne mystische Nymphen! gehe jede und pflücke ihre Rose, und streuet sie auf euren Pfad – denn Madame de Rambouillet that nichts weiter. – Ich half Madame de Rambouillet aus dem Wagen – und wäre ich der Priester der keuschen Castalia gewesen, ich hätte an ihrem Quell nicht mit ehrfurchtsvollerem Anstande dienen können.

Das Kammermädchen.

Paris.

Was der alte französische Offizier über das Reisen gesagt hatte, brachte mir den Rath, den Polonius seinem Sohn über denselben Gegenstand ertheilt, ins Gedächtniß – und dies wiederum den Hamlet – und Hamlet die übrigen Werke Shakespeare's. Ich machte also auf dem Rückwege zu meiner Wohnung auf dem Quai de Conti Halt, um mir eine vollständige Ausgabe derselben zu kaufen.

Der Buchhändler sagte, er hätte nicht ein einziges Exemplar. – »Comment!« sagte ich, indem ich einen Band von einem Exemplar aufnahm, das zwischen uns auf dem Ladentische lag. – Dies, sagte er, wäre ihm nur zugesandt worden, um es binden zu lassen, und sollte morgen früh nach Versailles dem Grafen von B . . . . zurückgeschickt werden.

– »Liest Graf von B . . . . den Shakespeare?« fragte ich. – »C'est un esprit fort«, erwiederte der Buchhändler. »Er liebt englische Bücher, und was ihm noch mehr zur Ehre gereicht, Monsieur, er liebt auch die Engländer.« – »Sie sagen das auf so verbindliche Weise«, sagte ich, »daß es einem Engländer die Verpflichtung auferlegt, einen oder zwei Louisd'or in Ihrem Laden anzubringen.« – Der Buchhändler machte eine Verbeugung und wollte eben etwas erwiedern, als ein junges sittsames Mädchen von etwa zwanzig Jahren, das dem Ansehen und dem Anzuge nach das Kammermädchen irgend einer frommen, vornehmen Dame zu sein schien, in den Laden trat und nach Les égarements du coeur et de l'esprit fragte. Der Buchhändler reichte ihr das Buch augenblicklich. Sie zog eine kleine grünatlassene Börse hervor, die mit Band von derselben Farbe ringsum eingefaßt war, und indem sie mit dem Zeigefinger und dem Daumen hineingriff, holte sie das Geld für das Buch heraus und zahlte es hin. Da ich nichts weiter in dem Laden zu schaffen hatte, so gingen wir beide mit einander zur Thür hinaus.

– »Und was haben Sie denn, meine Liebe«, sagte ich, »mit den »Verirrungen des Herzens« zu schaffen, Sie, die Sie kaum erst wissen, ob Sie eins haben? Und vielleicht nicht eher, als bis die Liebe es Ihnen gesagt oder irgend ein ungetreuer Seladon ihm Seufzer abgepreßt hat, kannst Du jemals sicher sein, daß Du eins hast.« – »Dieu m'en garde!« sagte das Mädchen. – »Und mit Recht«, sagte ich – »denn wenn es gut ist, so ist es schade, wenn es Dir geraubt werden sollte: es ist ein kleiner Schatz für Dich und verleiht Deinem Antlitz eine schönere Zierde, als wenn es mit Perlen geschmückt wäre.«

Das junge Mädchen hörte mit demüthiger Aufmerksamkeit zu, indem es die ganze Zeit über die seidene Börse am Bande in der Hand hielt. – »Die ist sehr klein«, sagte ich, indem ich sie unten am Boden anfaßte, – sie hielt sie mir hin – »Und es ist auch sehr wenig darin, meine Liebe«, sagte ich; »aber sei nur so gut, als Du hübsch bist, und der Himmel wird sie füllen.« – Ich hatte etliche Kronen in der Hand, womit ich den Shakespeare bezahlen wollte; und da sie die Börse vollends hatte fahren lassen, so steckte ich eine davon hinein, band die Schnur in einen Schleifenknoten und gab sie ihr zurück.

Das junge Mädchen dankte mir mit einem mehr demüthigen als tiefen Knicks – es war eine von jenen ruhigen, dankvollen Verbeugungen, worin die Seele selbst sich verneigt – der Körper thut nicht mehr dabei, als es kund zu geben. Nie in meinem Leben gab ich einem Mädchen eine Krone mit halb dem Vergnügen.

»Mein Rath, meine Liebe, wäre Ihnen nicht eine Stecknadel werth gewesen«, sagte ich, »wenn ich nicht dies noch hinzugefügt hätte. Nun aber werden Sie daran denken, so oft Sie das Geldstück ansehen – Verthun Sie es also nicht in Bändern.«

»Auf mein Wort, mein Herr«, sagte das Mädchen ernst, »ich könnte es nicht über's Herz bringen« – und indem sie dies sagte, gab sie mir, wie das bei kleinen Ehrenversicherungen gewöhnlich ist, die Hand – »En vérité, Monsieur, je mettrai cet argent apart«, sagte sie.

Wenn ein tugendhafter Vertrag zwischen einem Mann und einem Frauenzimmer geschlossen wird, so heiligt dies ihre geheimsten Gänge. Und so machten auch wir uns, obschon es dunkelte, kein Gewissen daraus, da wir beide doch einen und denselben Weg hatten, den Quai de Conti entlang miteinander zu gehen.

Als wir unsern Weg antraten, machte sie mir einen zweiten Knicks, und ehe wir noch zwanzig Schritt von der Thür entfernt waren, hielt sie, als ob sie vorher noch nicht genug gethan hätte, ein wenig inne, um mir noch einmal zu sagen – daß sie mir danke.

Es wäre ein kleiner Tribut, sagte ich zu ihr, den ich nicht umhin gekonnt hätte, der Tugend zu zahlen, und um alles in der Welt willen möchte ich mich nicht gern in der Person geirrt haben, an die ich ihn abgetragen hätte – »doch ich sehe Unschuld in Ihrem Gesicht, meine Liebe, – und Verderben treffe den Mann, der ihr jemals eine Schlinge auf ihren Pfad legt!«

Das Mädchen schien in einer oder der andern Weise gerührt von dem, was ich sagte – sie stieß einen tiefen Seufzer aus – Ich fand, daß ich durchaus kein Recht hätte, nach der Ursache desselben zu fragen – und so sagte ich nichts weiter, bis ich an die Ecke der Rue de Nevers kam, wo wir uns trennen mußten.

– »Aber ist dieses auch der rechte Weg, meine Liebe«, fragte ich, »nach Hôtel de Modène?« Sie antwortete mir, er wäre es – oder ich könnte auch durch die Rue de Guénégaud gehen, welches die nächste Richtung wäre. – »Dann will ich durch die Rue de Guénégaud gehen«, sagte ich, »und zwar aus zwei Gründen: erstens wird es mir selbst Vergnügen machen, und zweitens werde ich Ihnen den Schutz meiner Begleitung so weit, als ich kann, gewähren.« – Das Mädchen empfand meine Höflichkeit und sagte, sie wünschte, das Hôtel de Modène läge in der Rue de St. Pierre. –»Wohnen Sie da?« fragte ich. – Sie erzählte mir, sie wäre Kammermädchen bei Madame de R . . . . – »Guter Gott!« sagte ich, »das ist dieselbe Dame, an welche ich einen Brief von Amiens mitgebracht habe.« – Das Mädchen sagte mir, sie glaube, daß Madame de R . . . . einen Fremden mit einem Brief erwarte und ungeduldig wäre, ihn zu sehen. – So bat ich denn das Mädchen, mein Compliment an Madame de R . . . . auszurichten und ihr zu sagen, daß ich ihr mit Bestimmtheit morgen früh meine Aufwartung machen würde.

Während dies vorging, standen wir an der Ecke der Rue de Nevers still – Wir verweilten dann noch einen Augenblick, indem sie sich's mit ihren Egarements du coeur bequemer einrichten wollte, als sie in der Hand zu tragen – denn es waren zwei Bände. Ich hielt ihr also den zweiten Theil, während sie den ersten in ihre Tasche steckte; und dann hielt sie die Tasche auf, und ich schob den andern nach.

Es ist köstlich, zu empfinden, durch welche feingesponnenen Fäden unsere gegenseitigen Zuneigungen aneinander geknüpft werden.

Wir setzten uns von neuem in Gang, und bei dem dritten Schritte legte sie ihre Hand in meinen Arm – ich wollte ihr ihn eben bieten – doch sie that es von selbst mit jener nicht erst überlegenden Einfachheit, welche erkennen ließ, es käme ihr gar nicht in den Sinn, daß sie mich früher noch nie gesehen hatte. Ich für meinen Theil fühlte die Ueberzeugung von einer gewissen Blutsverwandtschaft so stark, daß ich nicht umhin konnte, mich halb zu ihr herumzuwenden und ihr ins Gesicht zu blicken, um zu sehen, ob ich darin nicht irgend etwas von einer Familienähnlichkeit entdecken könne – »Weg damit!« sagte ich; »sind wir nicht alle Familienglieder?«

Als wir bei der Wendung ankamen, welche zur Rue de Guénégaud hinaus führt, hielt ich an, um ihr in vollem Ernste Adieu zu sagen. Das Mädchen dankte mir nochmals für meine Begleitung und Güte – Sie sagte mir zweimal Adieu – ich wiederholte es ebenso oft; und so herzlich war unser Scheiden, daß, wäre es anderswo gewesen, ich nicht dafür gestanden hätte, daß ich es nicht mit einem Kuß der christlichen Liebe besiegelt haben würde, so warm und heilig, als der eines Apostels.

Doch in Paris, wo sich niemand küßt als die Männer – that ich, was auf dasselbe hinausläuft –

– Ich bat Gott um seinen Segen für sie.

Der Reisepaß.

Paris.

Als ich in meinem Hôtel wieder angelangt war, sagte mir La Fleur, der Polizeilieutenant hätte nach mir fragen lassen. – »Hol's der Kuckuck!« sagte ich – »ich weiß schon warum.« – Jetzt ist es Zeit, daß es der Leser auch erfahre, denn in der Reihe der Ereignisse, wo sich's zutrug, wurde es ausgelassen. Nicht, daß es mir entfallen wäre; aber hätte ich es damals schon erzählt, so wäre es jetzt vielleicht schon vergessen – jetzt ist die richtige Zeit dazu.

Bei der so großen Eile, mit welcher ich London verlassen hatte, war es mir gar nicht in den Sinn gekommen, daß wir mit Frankreich in Krieg lagen; und ich hatte schon Dover erreicht und schaute mit meinem Fernglas nach den Hügeln jenseits Boulogne, ehe mir der Gedanke daran in den Kopf kam und infolge dessen, daß ich ohne Reisepaß nicht durchkommen würde. Ich habe eine tödtliche Abneigung dagegen, nur bis an das Ende einer Straße zu gehen, und nicht weiser zurückzukehren, als ich ausgegangen bin; und da diese Reise eine der größten Unternehmungen war, die ich um der Kenntniß willen je bewerkstelligt hatte: so konnte ich den Gedanken daran um so weniger ertragen. Da ich nun erfuhr, daß der Graf von . . . . das Packetboot gemiethet hätte, so ersuchte ich ihn, mich in seiner Suite mitzunehmen. Ich war dem Grafen ein wenig bekannt, und so machte er wenig oder gar keine Umstände und sagte mir nur: seine Willfährigkeit, mir zu dienen, könnte nicht weiter als bis Calais gehen, weil er über Brüssel nach Paris zurückkehren würde. Gleichwohl könnte ich, wenn ich einmal übergesetzt wäre, ohne Unterbrechung nach Paris gelangen, nur müßte ich dann in Paris mir Freunde zu verschaffen suchen und für mich selber sorgen. – »Lassen Sie mich nur nach Paris gelangen, Herr Graf«, sagte ich, »und ich werde mir schon fortzuhelfen wissen.« – Ich schiffte mich also ein und dachte nicht weiter an die Sache.

Als mir La Fleur sagte, der Polizeilieutenant hätte nach mir fragen lassen, fiel mir's wieder aufs Herz – und nachdem mich La Fleur hinlänglich berichtet hatte, trat der Herr des Hôtels in das Zimmer, um mir dasselbe zu sagen, mit der Beifügung, daß man insbesondere nach meinem Paß gefragt habe. Der Herr des Hôtels schloß mit den Worten: er hoffe, daß ich einen hätte – »Meiner Treu, nein!« antwortete ich.

Der Herr des Hôtels wich, als ich ihm dies erklärte, drei Schritte vor mir zurück, wie vor einer angesteckten Person – und der arme La Fleur näherte sich mir drei Schritte mit jener Art von Bewegung, wie sie eine gutmüthige Seele macht, um einem Unglücklichen zu Hülfe zu kommen – der Bursche gewann mein ganzes Herz dadurch; und nach diesem einzigen Zuge kannte ich seinen Charakter so vollkommen und konnte mich so fest auf ihn verlassen, als wenn er mir schon sieben Jahre treue Dienste geleistet hätte.

»Monseigneur!« rief der Herr des Hôtels – doch, als er den Ausruf gethan, besann er sich und änderte augenblicklich den Ton – »Wenn Monsieur«, sagte er, »keinen Reisepaß hat, so wird er doch aller Wahrscheinlichkeit nach (apparement) Freunde in Paris haben, die ihm einen verschaffen können.« – »Nicht, das ich wüßte«, versetzte ich mit gleichgültiger Miene. –»Nun dann, certes«, erwiederte er, »wird man Sie in die Bastille schicken oder ins Chatelet, au moins.« – »Pah!« sagte ich, »der König von Frankreich ist eine gutherzige Seele; er wird niemandem weh thun wollen.«. »Cela n'empêche pas«, sagte er – »man wird Sie sicherlich morgen früh in die Bastille bringen.« – »Aber ich habe mich ja bei Ihnen auf einen Monat eingemiethet«, antwortete ich, »und ich werde Ihre Zimmer, um aller Könige Frankreichs willen, nicht einen Tag vor der Zeit verlassen.« – La Fleur flüsterte mir ins Ohr: niemand vermöchte sich dem Willen des Königs von Frankreich zu widersetzen.

»Pardi!« sagte der Wirth: »ces Messieurs Anglais sont des gens très-extraordinaires« – und nachdem er dies gesagt und beschworen hatte – ging er hinaus.

Der Reisepaß.

Das Hôtel in Paris.

Ich konnte es nicht über das Herz bringen, La Fleur durch eine verdrießliche Miene wegen des Gegenstandes, der mich in Verlegenheit setzte, zu quälen, und dies war der Grund, daß ich die Sache so kavaliermäßig behandelte. Und um ihm zu zeigen, wie leicht sie mein Sinn nahm, ließ ich sie ganz fallen und plauderte mit ihm, während er mir beim Abendessen aufwartete, mit mehr als gewöhnlicher Heiterkeit über Paris und von der Opéra comique.

La Fleur war auch darin gewesen und mir durch die Straßen bis zu dem Laden des Buchhändlers nachgefolgt; als er mich aber mit dem jungen Kammermädchen herauskommen sah und daß wir den Quai de Conti miteinander hinabgingen, hielt es La Fleur für unnöthig, mir einen Schritt weiter zu folgen. Indem er also seine eignen Betrachtungen darüber anstellte, schlug er einen kürzeren Seitenweg ein und kam zur rechten Zeit in das Hôtel, um von dem Einwand der Polizei gegen meine Ankunft unterrichtet zu werden.

Sobald die redliche Seele abgedeckt hatte und hinuntergegangen war, um selbst zu Abend zu essen, begann ich ein wenig ernstlicher über meine Lage nachzudenken.

– Und hier, Eugenius, weiß ich, wirst du lächeln, wenn du dich des kurzen Gesprächs erinnerst, das wir in dem Augenblick vor meiner Abreise zusammen hatten. Ich muß es hier erzählen.

Eugenius, welcher wohl wußte, daß ich ebenso wenig mit Geld als mit Gedanken überladen zu sein pflege, hatte mich beiseit gezogen, um mich zu fragen, für wie viel Reisegeld ich Sorge getragen hätte. Als ich ihm die Summe genau angab, schüttelte Eugenius mit dem Kopf und meinte, das würde nicht reichen. Dabei zog er seine Börse hervor, um sie in die meinige auszuschütten. – »Ich habe wahrhaftig hinreichend, Eugenius«, sagte ich. – »Wirklich, Yorick, du hast es nicht«, erwiederte Eugenius, »ich kenne Frankreich und Italien besser als du.« – »Aber du bedenkst dabei nicht, Eugenius«, sagte ich, sein Anerbieten ablehnend, »daß ich, bevor ich noch drei Tage in Paris sein werde, dafür Sorge tragen will, eines oder das andere zu sagen oder zu thun, weswegen man mich ohne alle Umstände in die Bastille stecken wird, und daß ich dort ein Paar Monate gänzlich auf Kosten des Königs von Frankreich zu leben gedenke.« – »Ich bitte um Entschuldigung«, sagte Eugenius trocken; »an diese Hülfsquelle hatte ich in der That nicht gedacht.«

Jetzt stand der damals scherzhaft verhandelte Umstand in bitterm Ernste vor meiner Thür.

Ist es nun Thorheit, oder Fahrlässigkeit, oder Philosophie, oder Hartnäckigkeit oder was sonst in mir, daß ich trotz alledem, als La Fleur hinabgegangen und ich ganz allein war, mein Gemüth nicht dahin bringen konnte, anders von der Sache zu denken, als ich damals mit Eugenius davon gesprochen hatte?

– Und was die Bastille anbetrifft, so liegt das Schreckliche nur in dem Worte. – Macht so viel daraus, als ihr wollt, sagte ich zu mir selbst: die Bastille ist nur ein anderes Wort für einen Thurm – und ein Thurm ist nur ein anderes Wort für ein Haus, aus dem man nicht herausgehen kann – Gott stehe den Gichtbrüchigen bei! denn sie stecken wohl zweimal des Jahres darin. – Doch mit neun Livres den Tag, und Feder und Dinte und Papier und Geduld, kann sich ein Mensch, wenn er auch nicht heraus darf, schon recht leidlich darin befinden – wenigstens einen Monat oder sechs Wochen lang. Sind diese zu Ende, so tritt doch, falls er ein harmloser Geselle ist, seine Unschuld an den Tag, und er kommt besser und weiser heraus, als er hineinging.

Als ich zu diesem Schluß gekommen war, hatte ich eine Veranlassung (ich weiß nicht mehr welche), in den Hof hinabzugehen; und ich erinnere mich, daß ich mit nicht geringem Siegsgefühl über das Schlagende meines Raisonnements die Treppe hinunterstieg. – »Verwünscht der düstre Pinsel!« sagte ich prahlerisch – »Ich beneide seine Kraft nicht, welche die Uebel des Lebens mit so harten, widerwärtigen Farben malt. Die Seele sitzt erschrocken vor den Gegenständen, die sie selbst vergrößert und verdunkelt abconterfeiet hat: gieb ihnen wirkliche Größe und Farbe wieder, und sie verachtet sie. – Zwar«, sagte ich, den Vordersatz verbessernd, »ist die Bastille kein so schlechtweg zu verachtendes Uebel –: aber nehmt ihr die Thürme – füllt den Graben aus – schafft die Sperrbalken vor den Thoren weg – nennt sie schlichtweg eine freiwillige Haft, und zwar durch irgend eine tyrannische Krankheit und nicht durch einen Menschen, der euch darin zurückhält – und das Schreckliche verschwindet, und ihr ertragt die andere Hälfte ohne Klage.«

Ich wurde in dem Jubilo dieses meines Selbstgesprächs von einer Stimme unterbrochen, die ich für die eines Kindes hielt, welches klagte: »es könne nicht heraus«. – Ich blickte den Gang hinab und hinaus – da ich aber weder einen Mann, noch ein Frauenzimmer, noch ein Kind gewahrte, so ging ich, ohne weiter darauf zu achten, hinaus.

Bei meiner Rückkehr auf den Gang hörte ich dieselben Worte zweimal wiederholen, und als ich emporsah, entdeckte ich, daß es ein Staar war, der in einem kleinen Käfige da hing. – »Ich kann nicht heraus – ich kann nicht heraus!« schrie der Staar.

Ich blieb stehn und betrachtete mir den Vogel, der auf jede Person, die durch den Gang kam, nach der Seite hin, von welcher sie sich näherte, mit derselben Klage über seine Gefangenschaft, zuflatterte. – »Ich kann nicht heraus!« schrie der Staar. – »Gott helfe dir!« sagte ich – »doch ich will dich herauslassen, koste es, was es wolle.« Damit ging ich um den Käfig herum, um zu dem Thürchen zu kommen; aber es war so fest mit Draht zugeflochten und wieder verflochten, daß es, ohne den Käfig in Stücken zu reißen, nicht aufzubringen war – trotzdem ich beide Hände zu Hülfe nahm.

Der Vogel flatterte nach der Stelle hin, wo ich den Versuch zu seiner Befreiung machte; und seinen Kopf durch das Gitter drängend, stemmte er höchst ungeduldig seine Brust dagegen. – »Armes Geschöpf!« sagte ich: »ich fürchte, ich werde dich nicht in Freiheit setzen können.« –»Nein«, rief der Staar – »ich kann nicht heraus! – ich kann nicht heraus!« rief er von Neuem.

Ich gestehe, daß mein Mitgefühl niemals in so empfindlicher Weise erregt worden ist; noch erinnere ich mich irgend eines Vorfalls in meinem Leben, durch welchen die zerstreuten Geister, die mit meiner Vernunft wie mit einer Wasserblase gespielt hatten, so schnell wieder gesammelt worden wären. So mechanisch diese Laute auch waren, so wahr stimmten sie doch ihrem Tone nach mit der Natur überein, dergestalt, daß sie im Nu all meine systematischen Vernünfteleien betreffs der Bastille über den Haufen warfen; und in niedergeschlagener Stimmung stieg ich die Treppen hinauf und widerrief jedes Wort, das ich im Hinabsteigen gesagt hatte.

»Verkleide dich, so viel du willst, Sklaverei!« sagte ich – »stets bist du doch ein bitterer Trank! und wenn auch Tausende zu allen Zeiten dich haben trinken müssen, so bist du darum doch nicht weniger bitter.« – Du aber, dreifach süße, holdselige Göttin, so redete ich die Freiheit an, du bist es, welcher Alle, öffentlich wie im Geheimen, Verehrung zollen. Dein Geschmack ist lieblich und wird es stets bleiben, so lange die Natur selbst sich nicht ändert; – kein Wortgekleckse kann deinen schneeweißen Mantel beflecken, noch chemische Kraft deinen Scepter in Eisen verwandeln. – Der Landmann, dem du lächelst, während er seine Brotrinde verzehrt, ist glücklicher als sein König, von dessen Hofe du verbannt bist. – »Gnädiger Himmel!« rief ich aus, indem ich auf der vorletzten Stufe beim Hinaufsteigen niederkniete: »gewähre mir nur Gesundheit, du großer Verleiher derselben, und gieb mir nur diese herrliche Göttin zur Gefährtin – und laß deine Bischofshüte, wenn es deiner göttlichen Vorsicht gut scheint, auf jene Häupter herabregnen, die nach ihnen seufzen.«


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