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Der Dom und die stilbildenden Zeitkräfte

Entwicklungsgesetze – Die Formgeschichte des Emporenbaus – Limburg als Bau der Laongruppe – Die Emporenentwicklung von St. Etienne in Caen über Niederlahnstein, Dietkirchen, Andernach und Boppard bis Limburg – Übergangsstil und Frühgotik – Baustil und Geistesgeschichte – Franz von Assisi und Friedrich II. – Die kulturelle Führung Frankreichs – Die Baubegeisterung – Der Individualismus Deutschlands – Lehnform und Eigenwert – Das Eindringen des französischen Stils als weltgeschichtlicher Prozess – Der Mischkrug des Rheinlands – Der Dom als Denkmal deutschen Volksschicksals.

 

Alles ist Übergang. Wie wir die christliche Frühkunst nicht verstehen könnten, ohne die tausend Fäden aufzudecken, die sie mit der Antike und den Kunstkreisen des Asiens verknüpfen, so dürfen wir auch bei Betrachtung romanischer oder gotischer Bauwerke keinen Augenblick vergessen, daß Stile nur die künstlerischen Gesinnungen innerhalb einer Entwicklungsreihe ausdrücken, die sich in ununterbrochenem Strom von Form zu Form tastend fortsetzt. Der menschliche Schöpfungswille ist ein dunkler Drang, der sich weder bewußt von der Vergangenheit löst, noch bewußt auf ein Zukünftiges richtet und dennoch in ewiger Zersetzung und ewigem Aufbau eine Form durch die andere vorbereitet, eine zusammenhängende Kette des Werdens, in der das Neue und Unterscheidende auf seine Vorformen zurückgeführt werden muß, sofern es überhaupt bemerkt werden soll.

So hat sich auch die Wandlung zur Gotik vollzogen, ohne daß die Zeitgenossen sie empfunden zu haben scheinen. Wenn man von der durch die Gotik herbeigeführten Vergeistigung der Materie oder dem Emporstreben zum Licht durch Überwindung der schweren Masse spricht, so gehören diese Vorstellungen dem Gedankenkreis des 19. Jahrhunderts an. Die zeitgenössischen Quellen schweigen darüber; und selbst da, wo die Chroniken eines Neubaus gedenken, enthalten sie von den neuen schöpferischen Gedanken, die darin Gestalt gewonnen haben, keine Andeutung: Weder der Bericht des Mönches Anselm über den Bau von St. Remi in Reims noch die Schriften des Abtes Suger von St. Denis oder der Traktat des Gervasius über die Kathedrale von Canterbury, die zu den ausführlichsten schriftlichen Urkunden der mittelalterlichen Baugeschichte des 11. und 12. Jahrhunderts gehören. Es gibt vielleicht kein erschütternderes Zeugnis für den Sinnentrug, in dessen Schutz sich das Geheimnis der Stilbildung wie alles Werdens vollzieht, als die Ahnungslosigkeit einer so hervorragenden Persönlichkeit wie Abt Suger, der – als Minister zweier Könige und Reichsverweser ein Wegweiser seiner Zeit – persönlich den Bau seiner berühmten Klosterkirche leitete, ohne zu erkennen, daß in Kreuzrippengewölbe, Spitzbogen und Strebewerk, die er dabei anwendete, das früheste Denkmal eines neuen Stils vor seinen Augen aufwuchs. Kein Vorgefühl sagte ihm, daß er mit den Künstlern, die er aus dem Süden berief, um die Basilika von St. Denis und die Kathedrale von Chartres mit plastischem Schmuck auszustatten, eine Bildhauerschule begründete, aus der nicht nur die steinernen Enzyklopädien des alten und neuen Testaments mit ihrem unübersehbaren Figurenreichtum an den Portalen der gotischen Kirchen, sondern auch die großen Meister hervorgehen würden, mit deren Kunst – wie bei dem Ecclesia-Meister von Straßburg – der romanische Schleier zerriß und das unverhüllte Menschenantlitz aus dem Stein zu lächeln und zu weinen begann. Die theologische Einstellung des Mittelalters ging an der baugeschichtlichen Leistung und ihrer Bedeutung als Stilwende achtlos vorüber.

 

Wir wählen die Formgeschichte des Emporenbaus, um an ihr zu veranschaulichen, wie jede stilistische Neubildung sich zunächst nur auf Kosten der jeweils vorhandenen künstlerischen Werte durchzusetzen vermag, die weitere Entwicklung aber das unter dem Druck der Gegenströmung Preisgegebene wiederaufnimmt und unter veränderten Gesichtspunkten dem vorgeschrittenen künstlerischen Formwillen unterwirft. Es ist derselbe geschichtliche Werdeprozeß, den Hegel als eine Abfolge von These, Antithese und Synthese erkannt hat.

Unter Empore ist jene Raumform zu verstehen, die sich als Hochgeschoß zwischen Seitenschiff und Lichtgaden kirchlicher Anlagen eingliedert. Die Geschichte dieser Konstruktionsform, die in der rheinischen Bauschule zu reicher Entfaltung gelangt ist und auch die Raumgestaltung des St. Georgendoms zu Limburg entscheidend bestimmt hat, setzt in der Normandie ein. Das romanische Zeitalter, allen gleichmacherischen Ideen fremd, überträgt die hierarchische Ordnung, die nach seiner Vorstellung die ganze Schöpfung, Himmel und Erde, Klerus und Laienwelt beherrscht, auch auf den Sakralbau und teilt darnach das Gotteshaus in Raumgebilde von bestimmter Rangfolge als Haupt- und Nebenräume auf, die von streng begrenztem Sonderdasein bleiben. Bei der Abteikirche St. Etienne in Caen wird nun dieses Gesetz romanischer Raumstufung zum ersten Mal durchbrochen und über die Arkaden des Seitenschiffs eine Empore gestellt, die durch weite und mit der Arkatur des Seitenschiffs gleich stark betonte Hochöffnungen in das Mittelschiff vorstößt – ein neues Stilgefühl, das die Bedeutung der Nebenräume verschiebt und sie in den Hauptraum einzubeziehen versucht.

Die Gegenströmung geht von der Abteikirche von Mont Saint Michel aus. Sie setzt jener neuen Baugesinnung einen anderen normannischen Typ entgegen, dem es zwar nicht auf die Bindung von Raumeinheiten, wohl aber auf die Auflockerung der geschlossenen Wände ankommt. So findet sie in der Triforiengalerie ein Gestaltungsmittel das die seitliche Tiefenachse der Emporen in die Höhenzüge flacher Laufgänge verwandelt. Beide Bauformen tasten nur auf verschiedenen Wegen nach demselben Ziel: Zum Licht. Sie sind sich des Triebes nicht bewußt und gelangen in die dunklen Dachstühle der Nebenschiffe oder doch nur zu blinden Räumen. Aber da kommt der Augenblick, wo sie zur Synthese reif werden. Die Schule von St. Denis bricht den blinden Mauern die Augen auf und bringt beide Baumotive in den Kathedralen von Noyon, Chalons-sur-Marne, Laon, Mouzon und Tournai in der Weise zur Entfaltung, daß hier Empore und Triforium unter veränderter Sinngebung zu dem Formenreichtum viergeschossiger Bauwerke verbunden werden. Ihre Nachfolge aber treten nun gleichmäßig vom Licht durchflutete Innenräume an, in denen Haupt- und Nebenglieder nicht mehr zu unterscheiden sind, bis die Kathedrale von Rouen dazu übergeht, die entbehrlich gewordenen Emporen ins Körperlose aufzulösen, endlich auch die Triforienwände, die nur noch aus Edelsteinen gebaut zu sein scheinen, durchbrochen werden und zuletzt der Weltstil des hochgotischen Kirchentypus vollendet dasteht – wie er uns in der Krone europäischer Baukunst, der Kathedrale von Amiens, entgegentritt.

So hat sich der Fortschritt von den ersten, in den kastenhaft geschlossenen Kirchenraum gebrochenen Wandlöchern bis zu dem Augenblick vollzogen, wo ein neuer Bautraum mit den luftigen Gerüsten seiner steinernen Kristallgebilde den Siegeszug unter die Völker antrat.

 

Wenn wir im Gegensatz zu der herrschenden Meinung davon ausgehen, daß die Anfänge des gotischen Stils nicht ausschließlich im Auftreten des Strebebogens, des Strebepfeilers und der Gewölberippen, sondern in ebenso starkem Maße auch in der Anwendung der Emporenform sich kundgeben, so erscheint es unumgänglich, auch den Weg zu verfolgen, den die Geschichte des Emporenbaus bei den Lahnkirchen genommen hat. Wir wissen, daß der Dom zu Limburg zu jener Gruppe von Kathedralen in Noyon, Chalons, Laon, Mouzon und Tournai zu rechnen ist, bei denen die Behandlung des Emporenproblems zu einem raumschöpferischen Umschwung von größter Tragweite geführt hat. Es bedarf daher der Feststellung, ob dies einen Einbruch fremder Elemente in das landestümliche Kunstschaffen bedeutet oder ob der neue Bauwille durch die Lage der Dinge derart vorbereitet war, daß er der heimischen Entwicklung entgegenkam

Auf welchem Wege die Kenntnis der in der Normandie entstandenen und von den Bauschulen der Ile de France weitergebildeten Emporenform an den Mittelrhein gelangt ist, wissen wir nicht. Hundert Jahre nach ihrer Entstehung im nördlichen Frankreich betritt sie plötzlich über Niederlahnstein das Lahntal. Hier, in der Johanneskirche, lernen wir sie in ihrer ältesten Gestalt kennen. Obwohl sie die Hochwand in Gruppen von vierteiligen Öffnungen durchbricht, wird der romanische Grundsatz der Raumsonderung nicht verlassen. Die breiten, ungegliederten Emporenpfeiler wirken wie stehengebliebene Stücke der Mauer und das Bogenfeld der Empore wird zur Hälfte wieder von einer Füllwand geschlossen, während zwischen dieser und den hochgelegenen und nicht achsial stehenden Gadenfenstern die breite Hauptmasse der Mauerfläche lagert. Die Empore bleibt ein Raumteil für sich, der sich ohne Einfluß auf das Raumbild des Langhauses an der Hochwand in Vereinzelung verliert und nichts daran ändert, daß das Kircheninnere den kastenhaft geschlossenen Eindruck eines altertümlichen Baukörpers hinterläßt. (Abb. 4)

siehe Bildunterschrift

Abb. 4 Niederlahnstein, Johanneskirche. Inneres.

Auch St. Lubentius in Dietkirchen bewahrt noch die Substanzschwere des frühromanischen Innenbildes. Seine Emporenanlage zeigt zwar gegenüber der älteren von St. Johann bereits eine entwickeltere Bauform, insofern als ihre Bogen sich ohne Blendfelder in ganzer Breite nach dem Mittelschiff öffnen und ohne größeren Abstand vom Erdgeschoß die untere Wandfläche verringern. Allein, sie verklingt als Raum in dem schrägen Dachstuhl der Abseiten und bleibt ohne Einwirkung auf den unbewegten Raumkubus des rechteckigen Langhauses, das von der nüchternen Strenge ungegliederter kahler Wandflächen beherrscht wird.

Die Empore erfüllt viererlei Funktionen. Sie tritt sowohl als Zweckform zur Vermehrung der Plätze auf wie in der statistischen Eigenschaft, die Druckkräfte zu zerlegen und das Widerlager für die Langhauswände abzugeben. Sie kann als bloße Schmuckform zur Erzeugung malerischer und luminarer Wirkungen dienen wie als raumbindendes Stilelement. Die Konstruktion, die ihr die Pfarrkirche in Sinzig gegeben hat, veranschaulicht die Rolle, die sie zur Verstrebung der Langhauswände übernimmt, insofern besonders eigenartig, als ihre Gewölbegurten und Rippen hier von den, an den Außenwänden tieferliegenden Ansätzen aus nach der Mitte zu aufsteigen, regelrechte Strebebogen, um die Anfallspunkte des Seitenschubs aufzunehmen und über die Brücke der Bogenspannung auf die Außenmauern zu übertragen.

Nun ist Baukunst in erster Linie Raumkunst. Daher läßt sich aus dem Gestaltenwandel der Körperformen ein Wandel der Stilabsichten solange nicht erkennen, als nicht auch Veränderungen in den Raumformen bemerkbar sind. Dies ist bei den Emporen von Niederlahnstein und Dietkirchen nicht der Fall – es sei denn, daß man die dort gewonnene Zweckform als den im ersten Ansatz steckengebliebenen Versuch einer anderen Gestaltungsmöglichkeit bewertet. Aber während man sich hier von dem Gedanken der Raumsonderung noch nicht zu befreien vermochte, führt der Weg nun über die Andernacher Bauhütte, die auch sonstige Beziehungen zu St. Georg aufweist, unmittelbar zu dem Raumsystem des Limburger Doms, in dem die Entwicklung ihren Höhepunkt erreicht.

Auch in der Liebfrauenkirche von Andernach und mehr noch in St. Severus in Boppard verrät die Tektonik im Aufbau der Hochwände durchaus romanischen Geist. Aber das Verhältnis zwischen der Horizontalen und Vertikalen hat sich verändert. Denn die Abseitöffnungen – durch Hochdienste mit kräftig hervortretenden Gurten und Vorlagen zusammengefaßt – hemmen den Rhythmus der Tiefenachse derart von Joch zu Joch, daß der Blick gezwungen wird, der Höhenachse zu folgen. Auch die doppelbogigen, durch schlanke Mittelsäulchen abgeteilten und durch Rundstäbe markant betonten Emporen klingen in den neuen Raumgedanken ein, um so mehr als sie tief genug gelegt sind, um sich für den Blick in der vollen seitlichen Tiefengliederung mit dem Hauptraum zu verbinden. So verwandeln sie sich aus selbständigen Sonderräumen zu Raumbestandteilen des Mittelschiffs, wenn sie auch noch weit davon entfernt sind, zu einem gotischen Ganzen mit diesem zu verschweben.

In Boppard hat das Raumbild zwar nicht die nämliche Einheitlichkeit erreicht, weil die breite Fläche einer hohen Obergadenmauer über den Emporen lastet. Allein, in dieser Hochwand taucht nun zum ersten Mal in Deutschland die Urform zu dem Triforium auf. Es sind nur vereinzelte Wandöffnungen, die unter das Dach der Seitenschiffe führen, nicht etwa schon fortlaufende Arkadenreihen, die sich mit der Empore zu neuer Hochwandgestaltung verbinden. Aber es ist der erste Durchbruch des Gedankens zu einer viergeschossigen Wandgliederung, die wir nachher im Dom zu Limburg in einzigartiger Weise Gestalt annehmen sehen. (Abb. 5)

siehe Bildunterschrift

Abb. 5 Boppard, St. Severus

So mündet die von Niederlahnstein ausgehende Emporenentwicklung über den St. Georgendom in den Angelpunkt der französischen Entwicklung zur Gotik ein, den die Laongruppe darstellt – ein untrügliches Zeichen für die fortschreitende innere Bereitschaft zur Gotik, die trotz romanischer Grundhaltung schon im geheimen lebt.

Wenn aber zur Gotik drängende Baukräfte schon in Gestaltungsformen romanischer Frühbauten sich verbergen und von Stufe zu Stufe ihrem Ziel zutreiben – was haben wir dann unter Übergangsstil zu verstehen, dem Stil, der das Wunderwerk des Limburger Doms hervorgebracht hat?

 

Man bezeichnet als Übergangsstil den Baucharakter vom Ende des 12. bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts. Eine der Ausdrucksformen – man kann nicht sagen: die Ausdrucksform – des staufischen Zeitalters. Während desselben Zeitraums herrschte in Frankreich die Frühgotik.

Nachdem Abt Suger mit dem Frühwerk von St. Denis dem gotischen Gedanken Bahn gebrochen, war ein Wald von Kathedralen in Frankreich emporgeschossen. Noyon, Sens, Notre Dame de Paris, Laon, Soissons, Chartres, Rouen, Reims, Amiens, Beauvais wurden während der rasch sich entfaltenden Blütezeit der nordfranzösischen Gotik, die mit dem Königtum Philipp Augusts, des Zeitgenossen Barbarossas zusammenfiel, begonnen oder vollendet. Wie bei der Emporenfrage bereits angedeutet, kann von einer bewußten Rezeption der neuen französischen Bauweise in Deutschland zunächst keine Rede sein. Wenn man von Übergangsbauten spricht, geschieht es daher nur in Hinblick auf das Endergebnis der Entwicklung, doch auch insofern zu Recht, als gewisse Bauformen aus dem konstruktiven Rüstzeug der Franzosen ohne eigentliche Zielstrebigkeit, vielmehr nur von einer gefühlsmäßigen Unterströmung begünstigt, aufgenommen wurden, die den im Romanischen enthaltenen Stilwillen allmählich zur Reife brachten. Es blieb immer nur bei der Aufnahme von einzelnen künstlerischen Darstellungsmitteln, weshalb sich denn auch die Loslösung von der romanischen Baugesinnung, die sich am längsten in Deutschland erhielt, nur langsam vollzog. Von der deutsch-romanischen Formensprache führte überhaupt kein Weg zur Gotik, während er der französisch-romanischen Bauform von Anfang an vorgezeichnet war. Die deutsche Romanik dagegen konnte nach ihrem inneren Wesen nicht über die aufgelockerte Spätform hinausgelangen, die man wegen der Verwendung einzelner gotischer Bauglieder Übergangsstil zu nennen sich gewöhnt hat, obwohl die neuen konstruktiven Lehnformen meist nur zur Erzielung reicherer dekorativer und malerischer Wirkungen herangezogen wurden.

Jetzt freilich, wo der Ruhm der französischen Baukunst in die Ferne drang und von aller Herren Ländern wandernde Bauleute herbeilockte, zogen die französischen Vorbilder mit der ganzen Fülle ihrer tektonischen, raumschöpferischen, konstruktiven, statischen und bauplastischen Anregungen in die deutschen Bauhütten ein. Man braucht nur das Album Villards de Honnecourt aufzuschlagen, das einzige Skizzenbuch, das wir aus dem 13. Jahrhundert besitzen, um sich davon zu überzeugen, wie die Architekten Eroberungszüge nach den neuen Baumotiven unternahmen, um sie auf dem Papier festzuhalten und bei den eigenen Bauten zu benutzen. Man gewinnt aber auch einen Begriff von den umwälzenden Folgen der neuen Bewegung, wenn man Villards begeisterten Ausruf über den Turm der Kathedrale von Laon liest: » J'ai esté en mult de tieres – en aucun liu onques tel tor ne vis com est cele de Loon!« Ist es zu verwundern, daß der Turm von Laon der bei den Zeitgenossen solche Bewunderung fand, an den Domen von Bamberg und Naumburg nachgebildet wurde?

Trotzdem bietet Deutschland bis dahin noch immer das Bild einer geschlossenen, durch die Dome von Worms, Mainz, Speier, Trier, das Münster in Bonn, St. Martin in Köln, die Abteikirche von Maria Laach bestimmten Bauperiode. Als nun aber der Baueifer sich zu einer wahren Krankheit zu steigern begann, die nur in dem alles ergreifenden »Bauwurmb« der Barockzeit eine Parallele findet und tatsächlich von einem Zeitgenossen auch morbus aedificandi genannt wurde, ließ der Augenblick nicht mehr lange auf sich warten, wo man den »gallischen Sprung« tat und das gotische System endgültig als solches übernahm. Wie man sich bei dem Neubau der Augustinerkirche in Wimpfen geradezu des opus francigenum rühmte, das man errichtet hatte, so brachte schon für das erste gotische Bauwerk Deutschlands, den 1209 aufgeführten Dom zu Magdeburg, Erzbischof Albrecht aus Paris, wo er studierte, sich den Baumeister mit, während die erste Zisterziensergotik – Marienstatt und Altenberg – über die burgundischen Mutterklöster eindrang. So beherrscht der französische Stammbaum nunmehr die gesamte deutsche Baukunst – von der ersten gotischen Kirche Westdeutschlands, St. Elisabeth in Marburg, deren Bauformen sich von Soissons herleiten, bis zum Dom von Köln, dem Amiens und Beauvais als Vorbilder dienten. Und wie hier, so räumt der romanische Stil in allen christlichen Ländern Europas der Gotik das Feld.

 

Man würde diese atembenehmende Sturm- und Drangbewegung nicht verstehen, wenn man darin nur den Kampf um die Verschmelzung oder Ablösung zweier Baustile erblickte, ohne den tieferen geistesgeschichtlichen Wandlungen nachzuspüren, die sich dahinter abspielen und ihrerseits wieder Reflexe der allgemeinen Geschichte sind. Selten ist die Parallelität zwischen Kunstentwicklung und Volksschicksal so beispielhaft in die Erscheinung getreten wie im Zeitalter der Staufer. Die Kreuzzüge, die Kolonisation des Ostens durch den deutschen Orden, der Seeverkehr, die gesellschaftliche Umschichtung durch die neuen Stände der Ritterschaft und des Bürgertums, die Laienbildung, der wirtschaftliche Aufschwung und die wachsende Macht der Städte, die in steigendem Maße Güter, Freuden und Ehren boten, sowie die weltbürgerlichen Beziehungen unter den Nationen erweiterten den geistigen Horizont in ungeahnter Weise und erzeugten ein Gefühl der Lebensbejahung, das die Wissenschaft auf freiere Bahnen lenkte und die Dichtung wie mit einem Zauberschlag erwachen ließ. Der Minnesang erblühte. Walter von der Vogelweide ließ seine Weisen erklingen. Fahrende Spielleute trugen die alte Volkssage von den Nibelungen, die nun dichterische Form gewonnen, an den Fürstenhöfen vor. Wolfram von Eschenbach schuf in seinem Parzival das Urbild des Deutschen und Gottfried von Straßburg schrieb im Tristan das Epos von Liebestragik und glühendem Weltverlangen. Er berührte damit den Nerv einer Zeit, bei der Weltlust an die Stelle der Entsagung getreten war. Die berückende raschentzündliche Königin Eleonore von Poitou bildete das Frauenideal, von dem die fahrenden Schüler sangen:

Wäre die Welt all mein
von dem Meere bis an den Rhein
des allen wollt ich mich darben
wenn die Königin von England läge in meinen Armen.

Es steht nicht im Widerspruch mit diesem geistigen Säkularisationsprozeß, daß der staufische Mensch sich auch der Liebesmacht des Evangeliums hingab. Die Gefühlsweite des hl. Franz, dessen Gottesminne alle Kreatur mitumschloß, war auch in sein Herz eingezogen. Er betrachtete das Christentum unter dem Einfluß der Mystik freilich nicht mehr als eine Angelegenheit des Klerus, sondern als ein persönliches Verhältnis zu Gott, dem der Einzelne zufolge der Gnade sich näher fühlte als der Gemeinschaft. Doch nur die Weichheit einer solchen Gemütsreligion vermochte es, daß Barbarossa vor Heinrich dem Löwen auf die Knie sank und Friedrich II., der Beherrscher der Welt, als die Gebeine der hl. Elisabeth übertragen wurden, barfüßig und im Büßerhemd an der Spitze des Zuges schritt und seine Krone auf den Sarg der Landgräfin niederlegte, die Aussätzige und Pestkranke gepflegt. Es war eine erdnahe, warmherzige Frömmigkeit, die auch den Mariendienst mit dem Leben in Beziehung zu setzen wußte, wie es nach der Ermordung Philipps von Schwaben – dem ersten Königsmord in der deutschen Geschichte – geschah, indem man die in ungetrübtem Eheglück jäh verwitwete Königin nicht mehr mit ihrem Namen Irene, sondern Maria nannte und damit ein Teilchen des himmlischen Frauendienstes in den Lobpreis der Verehrten einmischte.

 

Wenn die weltformende Macht Franz von Assisis der eine Pol genannt werden kann, um den das Jahrhundert sich drehte, so war die geniale Persönlichkeit Friedrichs II. der andere. Der ganze Überschwang der verjüngten Menschheit und das harmonische Zusammenspiel, in dem alle geistigen und künstlerischen Fähigkeiten des Volkes sich gleichzeitig nebeneinander entfalteten, schienen aus der einen gewaltigen Quelle einer nie dagewesenen Reichsherrlichkeit zu strömen. Der große Kaiser verkörperte den faustischen Fernedrang der deutschen Seele in der Form eines imperialen Weltgefühls. Er war ein Dichter und ein Denker, ein Romantiker und Sucher nach dem übernationalen Ausdruck der Zeit. Dennoch hat der staufische Kaisertraum mit den erweiterten Kräften und Entwicklungsmitteln, die er der Nation von innen und außen zuführte, die Grundlage zu einer deutschen Lebenskultur gelegt; zwar nicht in staatsbildendem, wohl aber in volkbildendem Sinn. Als Barbarossa die Schwertleite seiner Söhne in Mainz feierte, waren 70 000 Ritterbürtige neben Klerikern, Sängern und den Abgesandten aller Völker zur Verherrlichung des nationalen Weihetags erschienen; und als er dem Thronfolger bei der Mailänder Hochzeit die Krone der Caesaren aufs Haupt setzte, suchten die Mailänder das Mainzer Pfingstfest noch an Glanz zu überbieten. Otto von St. Blasien, der bedeutendste Chronist seiner Zeit, wußte den Träger des universalen Kaisertums nur mit der Sagengestalt Dietrichs von Bern zu vergleichen. So verbanden sich uralte Bergmythen, Wotanslegenden und messianische Prophetien, um Friedrich II. als den ewig wiederkehrenden Volkserlöser in den Kyffhäuser zu versetzen – Vorstellungen, die später auf Kaiser Rotbart übergegangen sind. Wo aber die mythenbildenden Mächte weben, ist das Nationalgefühl mitgestaltend in die Geschichte eingetreten. Der Bamberger Reiter, den man zuweilen als den Staufenkaiser Konrad angesprochen hat, verkündet in seinem freien, adligen, in sich selbst beruhenden Weltvertrauen, daß die Stunde des Deutschtums gekommen ist.

 

Wie ist es zu erklären, daß trotz der politischen Vormachtstellung und Weltgeltung Deutschlands zu Beginn des 13. Jahrhunderts Frankreich im geistigen Leben des Abendlandes die Führung übernommen hat? Denn man muß sich klar darüber sein, daß sich eine wahre Völkerwanderung nach dem Westen wälzte, als gälte es, wie man einst das Land erobert, nun auch seine Kultur zu erobern. Es waren nicht etwa nur die wandernden Steinmetzen, die beim Bau der Kathedralen beschäftigt sein und lernen wollten. Die Lernbegierigen aller Lebenszweige strömten nach Paris, das als Mittelpunkt der Gelehrsamkeit ein fast sagenhaftes Ansehen genoß, aber auch in Sprache und feiner Sitte tonangebend wurde, ähnlich wie es im 18. Jahrhundert der Fall war. Die berühmte Hochschule von Paris entschied die theologischen Fragen mit der bewunderten Geistesschärfe ihrer geschmeidigen Dialektik, und wie alle Ideen hier zusammenströmten, gingen alle bewegenden Ideen von hier aus. Da Kaiser Friedrich I. in seinen provenzalischen Versen den französischen Ritter geradezu als Ideal aufstellte, braucht es nicht wunder zu nehmen, daß die deutsche Ritterschaft sich in Frankreich die Formen des gesellschaftlichen Umgangs anzueignen suchte. Wie französische Fachausdrücke sich bei den Steinmetzen einbürgern, dringen sie in die höfische Dichtung ein. Ja, die Abhängigkeit von der französischen Kultur geht so weit, daß die deutschen Dichter auch ihre Stoffe den französischen Sagenkreisen um Kaiser Karl, König Artus und den heiligen Gral entlehnen. Der größte Epiker Deutschlands, Wolfram von Eschenbach, dichtet seinen Parzival – ebenso wie Hartmann von der Aue seine Ritterepen – Chrestien von Troyes nach. Der Tristan Gottfrieds von Straßburg entstammt einer französischen Vorlage und der Minnesang bewegt sich in den Bahnen provenzalischer Vorbilder. Ähnlich verhält es sich mit den Beziehungen zwischen der deutschen Plastik und der Gestaltenwelt der französischen Kathedralkunst. Es gibt fast keine unter den Portalfiguren von Chartres, Reims und Amiens, die nicht Modell gestanden hätte für die Schöpfungen deutscher Bildhauer; und selbst der Naumburger Meister ist in diese Schule gegangen.

Freilich war in Frankreich, der führenden Kreuzfahrernation, wo die Fühlung mit den morgenländischen Völkern sich am engsten und nachhaltigsten gestaltet hatte, das kulturelle Leben wie unter einem Tropenregen früher und reicher als in allen anderen Staaten aufgeblüht. Und wenn der erste Spitzbogen nicht die gefalteten Hände nachahmte, um die Geste des Gebetes zu versinnbildlichen – wie es die von Rodin's Meißel festgehaltene poetische Legende will – so ist selbst diese Bauform, die dem neuen europäischen Stil den Namen gab, von den Kreuzfahrern oder den ihnen folgenden Baumeistern des Orients in den Westen verpflanzt worden. Um zu verstehen, welche Volkskräfte durch den religiösen Glaubenseifer geweckt wurden, der die Züge ins heilige Land begleitete, muß man lesen, wie beim Bau der Kathedrale von Chartres Hoch und Nieder, Fürsten und Edelfrauen den Nacken unter das Joch schwerbeladener Karren beugten, um unter frommen Gesängen, die während der ganzen Nacht erschollen, Steinlasten, Baumstämme und Kalk gleich Spanntieren durch Sümpfe und Gebirgswildnisse zum Bau des Gotteshauses herbeizuschleppen, bis die Kathedrale unter Liedern der Verzückung emporstieg – wie sich im Altertum die Mauern von Theben zu den Klängen von Amphions Saitenspiel von selbst erhoben. Doch mag der Aufbruch der französischen Nation ein noch so gewaltiges Schauspiel geboten haben – der stürmische deutsche Kulturdrang nach Westen unter Preisgabe der eigenen Entwicklungsmöglichkeiten läßt sich bei einem führenden Volke hieraus nicht erklären.

 

Es ist davon auszugehen, daß in der Beherrschung des geschichtlichen Lebens nicht ein Volk das andere ablöst, sondern eine Idee die andere. Was war das beherrschende Gesetz des Jahrhunderts? Die übernationalen Körperschaften der Mönchsorden, der Ritterschaft, der Kauffahrer, der Hochschulen lenkten das völkische Wollen auf die gemeinsame Bahn eines Weltbürgertums, das nicht auf politischer Beherrschung, sondern auf der alle umfassenden Verflechtung mit Kaisertum, Bürger- und Städtemacht, Religion und Ritterehre beruhte. Auch die Universalgewalt des genialen Hohenstaufen schien mit diesem Völkerideal eines freiheitlichen Nebeneinander – für das es jetzt eine europäische Ausdrucksform in der Kunst zu finden galt – vereinbar, da der dominus mundi, wie er innerhalb seiner Reichsgrenzen eine weitgehende Dezentralisation zuließ, in der Weltgemeinschaft der Monarchen, die er zu einer Standesorganisation zusammenzuschweißen träumte, auch eine geistige Gemeinschaft erblickte. Doch sein stolzes Wort »Mag auch nicht überall unsre leibliche Gegenwart sein, unsre Zügel schwingen doch bis an die fernsten Grenzmarken der Erde« hat sich in geistigem Sinne für Deutschland nicht bewahrheitet. Wie die deutsch-italische Einheit des Heiligen römischen Reiches politisch eine Fiktion blieb, so fand sie auch bei der Kunst keine Bereitschaft zur Aufnahme des weltbürgerlichen Gedankens – wenn ihr mächtiger Flügelschlag auch einen nationalen Frühling anderer Art über die Alpen herübergetragen hat. Ein venezianischer Troubadour sang zwar, die Deutschen würden nicht leben können, wenn sie an das entehrende Ende Konradins dächten. Aber das unpolitische Deutschland schwieg, während das Gewissen der Welt aufschrie; schwieg nicht nur, sondern Rudolf von Habsburg bezahlte den entehrten Thron auch noch mit dem Schwur, das mit Füßen getretene Deutschland nicht zu rächen! Wer war Deutschland? Wem war Schmach widerfahren? Wo war das Herz der Nation? Es gab keinen Zentralpunkt, in den die Geschicke trafen.

Ehe die dynastischen Territorialgrenzen das Reich zerfetzten, war Deutschland schon in geistige Territorien zerstückelt, die alles, was der Nation widerfuhr, in der verschiedenartigen Beleuchtung provinzieller Gewohnheiten und Lebensansichten aufnahmen und eine Gleichmäßigkeit des Erlebens als eines allen gemeinsamen nationalen Schicksals nicht aufkommen ließen. Keine höhere Einheit stand hinter dieser sippenhaften Mannigfaltigkeit, die von dem subjektiven Zug des deutschen Wesens genährt wurde. Aber trotzdem die Persönlichkeit hierbei höchste Geltung gewann, konnte das, was große Einzelne dachten und fühlten, wegen seines individuellen Gepräges, das der inneren Welt der übrigen entgegengesetzt war, doch wiederum nicht Gemeingut werden. Es blieb ein Einmaliges. Alles war vom Gürtel der Einsamkeit umgeben und schied auch wieder aus dem Gesamtleben, ohne eine Tradition zu hinterlassen, an die geistesverwandte Kreise und Zeiten hätten anknüpfen können, um in gesetzmäßiger Folge auf ein Ganzes, Zusammenhängendes hinzuarbeiten, anstatt immer von neuem beginnen zu müssen, ewig unfertig, ein ewiges Tasten und Werden, nie der geschlossene Blutkreislauf einer eigenen Welt, nie gesammelte Fülle vom Brunnen der Nation. »Ich han min lehen, al die werlt, ich han min lehen!« Hört man nicht die ganze Not der Vereinzelung des deutschen Menschen aus diesem erschütternden Jubelruf Walters von der Vogelweide, der all seine Tage bettelnd von Hof zu Hof ziehen mußte, bis am Schluß seines Lebens der große Staufer, »der milte künec«, ihm das Leben am eigenen Herde gab, das ihm keiner gegeben? »Ich han nun lehen«. Was heißt es anders als: Deutschland fängt an, sich auf sich selbst zu besinnen, die Gemeinschaft steht endlich hinter einem jeden.

Doch wenn sie jetzt in dem Zauberspiegel der Staufergröße ihr Gesicht erblickten, so mußten sie entdecken, daß für den »tumben klaren«, den reinen Tor, der sie daraus anschaute, das Volkhaft-Heimatliche, Landsmännisch-Besondere das Element war, in dem ihre Eigenart gedieh, und nicht die weltbürgerliche Sphäre, in der sie wirklichkeitsfremd, romantisch, kleindeutsch sich wie in einem Irrgarten verloren. Sie, die sich eben erst selbst zu finden begannen und noch um den Ausdruck rangen für das erste Morgengrauen ihrer Brust, waren nicht reif, einen europäischen Stil zu finden, den Stil der Mitte und Allgemeingültigkeit, den Völker brauchen, die sich alle als eine Familie fühlen.

Ganz anders bei den Franzosen. Schon seit Caesars Tagen romanisiert und durch frühzeitig einströmendes Mittelmeerblut in der Entwicklungsfähigkeit gesteigert, wie es bei der Vermischung der Völker der Fall zu sein pflegt, wurden sie im Gegensatz zu dem von partikularistischen Neigungen immer geschwächten Deutschland bald in eine stetige und einheitliche, von politischem Instinkt geleitete Gedankenrichtung gedrängt, die der in Deutschland niemals errungenen Erbmonarchie Eingang verschaffte. Mit dem Sieg von Bouvines beginnt Frankreich sich bereits zu einer Deutschland an europäischer Bedeutung ebenbürtigen Machtstellung zu erheben, die auch seine soziale Entwicklung im Innern beschleunigt. Es entsprach nur der staatlichen Einheitlichkeit, daß der Hof, die führenden Köpfe der Hochschulen und alle sonstigen Bildungsträger des Landes einen zentralisierenden, von Staatsbewußtsein getragenen Einfluß auf das Volksleben übten, der gemeinsame Formen, gleiche Denkart und gleichen Geschmack hervorbrachte. Freilich ergab sich daraus ein Massencharakter, demgegenüber auch das Genie nur als gesteigerter Durchschnittsmensch erscheint. Allein, es darf nicht verkannt werden, welche nationale Stoßkraft die Kunst dadurch erlangte, daß der Künstler die Zusammenfassung des allgemeinen Bewußtseins bedeutete. Infolge der Überpersönlichkeit, die ihm dadurch verliehen wurde, sah er sich in die Kette einer geistigen Kontinuität eingeschaltet, innerhalb deren sein Werk nur Geltung beanspruchen konnte, wenn es in der Linie organischer Entwicklung lag, deren Gesetz schulmäßig herausgearbeitet werden mußte, indem jeder die Gedanken seiner Vorgänger weiterentwickelte, um die Idee der Geschichte zu verwirklichen.

So sehen wir – im Gegensatz zu dem Volk der Romantik, dem die Freiheit der Persönlichkeit oberstes Gesetz ist – ein Volk der Klassik entstehen, das überall die gemeinverständliche Formel sucht und Einheitlichkeit im Sinne säkularer Volksvernunft zur Norm erhebt. Ihm war es vorbehalten, die Neuorientierung des Weltgefühls in eine künstlerische Sprache zu fassen, die zur Sprache der abendländischen Christengemeinschaft wurde. Ein Vorgang von seltener Folgerichtigkeit. Denn der Stil, der entstand, war der Stil der Raumeinheit, der die menschentrennende hierarchische Rangordnung des romanischen Baus mit den Wertunterschieden seiner Raumstufung umstößt und den Tempel der Gleichberechtigung aufrichtet, in dem alle Bauglieder miteinander verschweben und zu einheitlichem Ganzen zusammenfließen – nur noch Begrenzung für Licht, Luft und Raum aus der unsichtbaren Unendlichkeit, der sie Sichtbarkeit verleihen, um die Gleichwertigkeit aller Menschen, Rassen und Kreaturen unter derselben Wölbung zu verkünden. Die Priesterkirche ist der Volkskirche gewichen, die sich zur Weltkirche weitet und alles Konstruktive sprengt. Sie ist nur noch überspannender Bogen über dem Häuptergewimmel der zusammengeströmten Tausende: Liebevolles Armebreiten des Himmels um die in gleicher Gotteskindschaft versammelte Schöpfung.

Es kann kein bezwingenderes Sinnbild für diese All-Einheit geben, als die Tat gewordene Durchdringung von Konstruktion, Form und Geist, bei der alles in der Angel mathematischer Notwendigkeit schwebt und nichts dem Zufall überlassen ist. Die köstliche Radrose, dieser steinerne Schleier, der nur ein Schmuckstück zu sein scheint, spendet zugleich dem Hochschiff sein leuchtendes Feuer. Aber ihr auflockerndes Maßwerk soll auch entlasten; ihr tragender Bogen als Stütze dienen. Sie soll den Schlußstein einsetzen in die Spannungen der Kräfte und schließlich an das rastlose Rad des vergänglichen Lebens gemahnen, dessen ruhende Achse die ewige Liebe ist.

So gestaltete das französische Volk dank der formalen Begabung seiner Rasse und seinem zeitlichen Vorsprung im Bildungsgang des Abendlandes den Stil, der dem Ideal der europäischen Menschheit entsprach.

 

Es war Raffael, der ihn zuerst Gotik nannte, was bei seiner Schulung an der Antike freilich gleichbedeutend war mit Barbarei. Wie hierin, so irrte man auch insofern, als man von maniera tedesca sprach. Doch wenn Leistungen Worte mit richtigen Inhalten erfüllen, so verwandelt sich der Begriff durch die Art und Weise, wie die deutsche Kunst sich den neuen Stil zu eigen machte, in einen Ehrennamen.

Auf dem deutschen Volkscharakter lastet von früh auf das Odium der Nachahmungssucht. Es läßt sich nicht leugnen, daß wir den Stil der Renaissance, des Barock, des Rokoko nicht erfunden haben; und fremde Einflüsse – sei es von den Kelten, von der Antike, von Byzanz oder Italien her – oft für das der Anziehungskraft des Auslands stark unterworfene germanische Wesen bestimmend gewesen sind. Es bedarf keiner Widerlegung, daß es keine Berechtigung hat, deswegen von einer race d'imitateurs zu reden. Zunächst spielt die Erfindung in der Kunst überhaupt nicht die entscheidende Rolle. Kunst ist Gestaltung geistigen Lebens. Es gibt daher so viele künstlerische Werte wie es Lebenswerte gibt. Monet hat die Licht- und Schattenwunder der Kathedrale von Rouen siebzehnmal gemalt und der Fujigipfel bildet den Hintergrund jedes japanischen Gemäldes. Wie die griechischen Bildhauer nicht müde wurden, Aphrodite in Marmor zu verherrlichen, kehrt dieselbe Pietà während des ganzen Mittelalters wieder, und die gesamte Dramatik der Weltliteratur läßt sich auf fünf oder sechs Grundmotive menschlicher Tragik zurückführen. Kann man überhaupt erfinden? Oder gilt nicht vielmehr das Goethe'sche Wort: »Im Grunde sind wir alle kollektive Wesen, wir mögen uns stellen wie wir wollen. Denn wie weniges haben und sind wir, was wir im reinsten Sinne unser Eigentum nennen. Selbst das größte Genie würde nicht weit kommen, wenn es alles seinem eigenen Innern verdanken wollte. Und was ist denn überhaupt Gutes an uns, wenn es nicht die Kraft und Neigung ist, die Mittel der umgebenden Welt an uns heranzuziehen und unseren Zwecken dienstbar zu machen«.

Wenn Frankreich zum Lehrmeister der künstlerischen Gestalt für das Europa des 13. Jahrhunderts geworden ist, so war Deutschland allerdings sein begabtester Schüler. Was den Schüler aber vom Nachahmer unterscheidet, ist eben der Drang des Lernenden, sein eigenes Wesen durch Aufnahme fremder Anregungen zu vollenden, während Nachahmung immer das Zeichen von Erstarrung, Ermüdung und Unfruchtbarkeit ist. Allein, wo wäre bei dem jugendlich frischen Geist, der während jener Zeitwende in der deutschen Kunst wehte, etwas von erlahmender Volkskraft zu verspüren! Wie reiche Völker durch Übernahme fremden Kulturguts gerade wachsen und an Reichtum gewinnen, hat auch das Deutschland des Übergangsstils die entlehnten Formen derart umgeschmolzen und eingedeutscht, daß sie den Anspruch auf Eigenform und selbständige schöpferische Leistung erheben dürfen, abgesehen davon, daß sie das Vorbild oft weit hinter sich lassen. Es ist ein förmliches Ringen, das wir dabei beobachten. Die mittelhochdeutsche Ritterdichtung hatte die orientalischen Muster geradezu verschlungen. Aber wie Hartmann im »Iwein« die französische Feinsinnigkeit mit deutscher Einfalt zu vermählen sucht, formt Wolfram die Contes de graal seiner französischen Quelle, obwohl er ihr zuweilen bis in die Einzelheiten folgt, im »Parzival« zu einer Menschheitsdichtung um von ausgeprägter deutscher Gemütstiefe.

Nicht anders verhält es sich in der Plastik. Trotz größter, manchmal täuschender Familienähnlichkeit des Atlanten, der Synagoge, der hl. Elisabeth, der Propheten von Reims und des Beau Dieu d'Amiens mit der Baumeisterfigur und dem Weltenrichter vom Mainzer Ostlettner, mit der Synagoge vom Münster in Straßburg, der Sibylle vom Bamberger Dom und den Propheten der Liebfrauenkirche von Trier haben alle diese Gestalten eine Verinnerlichung und Beseelung erfahren, die ihnen gegenüber der klassischen Kühle ihrer französischen Verwandtschaft lebenswarme Individualität und visionäre Größe verleiht. Es gibt auch kein deutscheres Frauenlächeln und keinen deutscheren Frauenernst als in den Zügen der Uta und Reglindis von Naumburg, die nichts davon verraten, daß ihr Schöpfer, der die ganze Welt der statuarischen Plastik Frankreichs in den Schatten stellt, von Reims und Amiens kommt. Dafür sehen wir in Straßburg freilich die deutsche Unterschicht von französischem Einfluß ganz überlagert, während wir uns in Bamberg noch mitten im Kampf sich überkreuzender Richtungen befinden, deren Spannweite von der Kopie des » Sourire de Reims« bis zu dem Triumph des Deutschtums reicht, der sich in der sieghaften Gestalt des »Reiters« verkörpert.

 

Nicht minder heftig wogte der Wettstreit gegenseitiger Beeinflussung in der Baukunst. Innerhalb dieser am aufregendsten dort, wo das Deutschtum am unmittelbarsten bedroht war: in den Rheinlanden. Wir berühren die letzten Ursachen der Stilbewegung, wenn wir daran erinnern, daß wir hier in die Zone eintreten, wo der Kampf um die Kultursynthese zweier Völker, die wir als Abendland bezeichnen, von jeher ausgetragen worden ist. Darum ging es auch jetzt; und hierin haben wir letzten Endes den tieferen Sinn des Übergangsstils zu erblicken. Wenn dem phantastisch-sehnsüchtigen, blind-dynamischen, denkerisch-abgründigen Wesen des indogermanischen Menschentums das Gefühl für organisches Ebenmaß fehlt, so haben die Völker rings um das blaue Mittelmeerbecken mit ihrem Sinnenglück und spielerisch-ruhevollen Gestalten diese Komponente in die abendländische Kultur hineingetragen, die aus den Spannungen zwischen Nord und Süd, Sehnsucht und Glauben, Geist und Eros, Maßlosigkeit und dem Instinkt ordnender Kräfte hervorgegangen ist.

Im Rheinland, wo die Gegensätze am frühesten aufeinander stießen, war der Mischkrug, wo das Blut sich gegenseitig durchdrang und zu dem vereinte, was die gesamteuropäische Kulturentwicklung anbahnte und auch die deutsche Kultur ausmacht. Hier näherten sich die Verhältnisse am meisten denen der romanischen Länder. Wenn Ammian vom Mittelrhein bemerkt » Domicilia curatius ritu romano constructa«, so wird uns das Wort auf dem ausgegrabenen Tempelbezirk von Trier, wo ein fränkischer Töpferofen über einem römischen steht, oder in der berühmten Jagdvilla von Bitburg sofort in die lebhafteste Anschauung übersetzt. Die Überreste früherer Zivilisation, die man hier nebst den geübten Händen, die sie nachbilden konnten, allenthalben vorfand oder bei dem regen Verkehr des Grenzlandes leicht von auswärts zu erlangen in der Lage war, verschafften dem Rheinland gegenüber dem jungfräulichen Boden anderer Gegenden einen solchen Vorsprung, daß es in der Schule der bis hierher vorgedrungenen Mittelmeerkultur zum Kronland aller wirtschaftlichen, technischen und geistigen Bestrebungen wurde. Dabei schlug der rasche, wirklichkeitsnahe, aufnahmefähige rheinische Mensch auch leicht die Brücke zu der anderen Hälfte des ehemals großfränkischen Reiches und stellte damit einen niedergermanischen Kulturzusammenhang zwischen dem Rheinland, Nordfrankreich und Brabant her, bei dem ihm selbst die Vermittlerrolle zwischen Ost und West zufiel. Daher mußte auch die von Nordfrankreich ausgehende neue Kunstströmung nun hier münden und zu dem weltgeschichtlichen Prozeß führen, in dem sich germanische Art mit der Mittelmeerkultur Frankreichs auseinandersetzte. Morgenland und Abendland standen sich wieder in einem Rassenkampf gegenüber, in dem die lateinische und die germanische Front die geistliche und die weltliche Richtung der Kunst darstellten. Schieden sich die Geister oder gab es Versöhnung? Das Rheinland hatte einen schweren Stand, wenn es als germanische Vormacht dem neuen Geist die Pforten öffnen und doch auch wieder hier, in der Mitte des Reichs, das eigene Volkstum nicht gefährden, sondern unangetastet bewahren wollte. Aufgewühlt von Stürmen, die in den Sackgassen landschaftlicher Zersplitterung dumpf und nutzlos zu verwogen drohten, war es selbst bei einem entscheidenden Punkt seiner Entwicklung angekommen; und wie der germanische Mensch immer, wenn er Sehnsucht nach Klarheit empfindet, die er aus eigener Kraft nicht zu finden vermag, faustisch in die Ferne stürmte – mochte sie Orient, Italien, Griechenland oder Sizilien heißen – so warf er sich auch jetzt berauscht dem Südwind des Mittelmeers entgegen, den der westliche Nachbar mitbrachte, um sich in fremder Sphäre zu verjüngen und die Vereinsamung des nordischen Blutes zu verhindern.

Es war derselbe Grund, weshalb der geniale Staufenkaiser in sieben Sprachen verkehrte und in Sizilien sich in der Phantastik jener mohammedanisch-levantinischen, semitisch-arabischen Umwelt bewegte, die ihm die Völkererfahrung des ganzen Orients zutragen sollte.

Freilich: Nur das Verwandte zieht sich an. Aber da in dem Nordfranzosen sich ein germanischer Einschlag befand wie in dem Rheinfranken ein romanischer, so fühlte der Deutsche im Fremden das Bekannte und fand in der Berührung mit ihm erlöst das eigene Selbst – wie immer, wenn das nordische Menschentum, dessen nebelhafte Überfülle allein zu harmonischer, in Urschönheit leuchtender Schöpfung nicht durchdringen zu können scheint, sich dem klaren gebändigten schwerelosen Geist des Mittelmeerkreises vermählt.

 

Was das Zeitalter der übervölkischen Synthese verdankte, die aus der Paarung der besten seelischen und geistigen Kräfte beider Völker hervorging, versinnbildlichen zwei Bauwerke, die beide nicht zu überbietende Gipfelpunkte der Entwicklung darstellen und zugleich die beiden miteinander ringenden Mächte noch einmal im Stein gefangenzuhalten scheinen: Der Dom zu Limburg und das Münster zu Straßburg.

Sie bezeichnen zwei verschiedene Wege der Auseinandersetzung mit dem neuen Stilwillen.

Der Weg nach Straßburg führt über die Lahntalkirche in Marburg, den ersten ganz in gotischer Formensprache erdachten und ebenso wie Liebfrauen in Trier, seine Schwester, von Soissons abhängigen Bau, der dennoch bis auf den rosenübersponnenen Tympanongrund der Portale deutschen Geist atmet.

Er gehört derjenigen Richtung an, die in Erwin voll Steinbachs Plan der Straßburger Münsterfassade zu Ende gedacht ist. Wäre der von Erwin ausgezeichnete Riß B ausgeführt worden, der die ganze Fassade mit den Harfensaiten des duftigsten freistehenden Stab- und Maßwerks überspannt, so wäre die sublimste, die Materie in Sphärenmusik auflösende Form der Gotik in diesem Himmelgehäuse der deutschen Seele Ereignis geworden.

Während dieser Lösungsversuch aber die bisherige rheinische Formensprache preisgibt und sich auf dem in seiner Gesamtheit übernommenen französischen System aufbaut, hat kein deutscher Bau mächtiger als der Dom zu Limburg der von Westen herflutenden gotischen Welle das nationale Bollwerk der heimischen Art entgegengestellt. Hier vollzieht sich die organische Durchdringung beider miteinander ringenden Zeitströmungen auf der gewachsenen Grundlage mittelrheinischer Überlieferung, deren Formenwelt und Raumbild trotz der Einbeziehung neuer Stilgedanken die Herrschaft behauptet und die Fülle des Volkstums nur um so fühlbarer in der geglückten Einheitlichkeit des Ganzen schwingen läßt.

Aus fernen Jahrtausenden in die Gegenwart reichende Kräfte, aus deren Spannungen die abendländische Kultur entstand, haben in dem St. Georgendom miteinander gerungen und in seiner steingewordenen Vollendung befreundet nebeneinander Ruhe gefunden.

So ragt in der siebentürmigen Gottesburg auf dem Lahnfelsen, die aus dem Schicksal des Volkes gewachsen ist, Nord und Süd, das gesamte Deutschland in den Raum.


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