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Weggenossen

Die Begegnung mit Liszt

Wohltaten verbinden oft die Menschen; wo aber diese nicht vergolten werden können, bleibt zwischen Geber und Empfänger immer eine Kluft, welche sie wohl Jahr und Tag mit den Schlingpflanzen der Anhänglichkeit zudecken, aber nie ausfüllen können.

Andersen.

Schwer ist es, jemanden hoch zu verehren und zugleich sehr zu lieben.

La Rochefoucault.

 

»Sehr geehrter Herr,

es ist mir ein großes Vergnügen, Ihnen die aufrichtige Freude auszusprechen, die ich beim Lesen Ihrer Sonate op. 8 empfunden habe. Sie zeugt von einem starken, mit Überlegung schaffenden, erfinderischen, vortrefflich gearteten Kompositionstalent, das nur seinem natürlichen Wege zu folgen braucht, um eine hohe Stufe zu erreichen. Ich möchte gern glauben (je me plais à croire), daß Sie in Ihrem Lande den Erfolg und die Aufmunterung finden, die Sie verdienen; sie werden Ihnen auch anderwärts nicht fehlen; und wenn Sie diesen Winter nach Deutschland kommen, so lade ich Sie herzlich ein, in Weimar ein wenig zu verweilen, damit wir uns näher kennenlernen.«

Diesen Brief sandte Franz Liszt aus Rom am Ende des Jahres 1868 dem damals noch wenig bekannten Grieg, dessen erste Violinsonate er zufällig zu Gesicht bekommen hatte. Niemand wußte besser als er, wie bitter das Los junger Komponisten ist, die eigene Wege wandeln und keinen Gönner haben, der für sie wirbt. Um aber den Nationalstolz des jungen Norwegers nicht zu verletzen und ihn auch persönlich nicht zu demütigen, deutet er in seinem Schreiben seine Hilfsbereitschaft nur ganz leise an und verrät seine Kenntnis der Verhältnisse lediglich durch die ein wenig ironische Form »Ich möchte wohl glauben …« Was natürlich, in unsere »plumpe Sprak« übersetzt, etwa so lauten müßte: »Ich weiß sehr wohl, daß man noch gar nicht mal ein Prophet zu sein braucht, um in seinem Vaterlande nichts zu gelten, und daß auch Sie es schwer haben, aber gerade deshalb möchte ich Ihnen eine kleine Freude machen und Ihnen zeigen, wie gern ich bereit bin, Sie in Ihrem Schaffen zu fördern.« Wenn wir an die heutigen Musikverhältnisse denken, so wird uns dieser Lisztbrief fast unverständlich: Sind nicht alle großen Künstler unserer Tage rücksichtslose Egoisten, können wir uns überhaupt vorstellen, daß Richard Strauß oder irgendein anderer führender Komponist an einen jungen Tonsetzer aus eigenem Antrieb einen solchen Brief schriebe? Und doch, wie natürlich ist es, daß ein auf hoher Warte stehender Künstler, der sich gleich Liszt als ein Priester seiner Kunst fühlt, beständig Ausschau nach neuen Talenten hält, daß er alle die zu sich heranzuziehen sucht, deren ernstes künstlerisches Streben Anerkennung und Förderung verdient. Niemand hat mehr als Liszt jegliche Art von Protektionswirtschaft gehaßt, niemand war so abweisend wie er den Zudringlichen gegenüber, die ihren Mangel an Begabung durch »Beziehungen« ausgleichen wollten. Jederzeit aber drängte ihn sein grundgütiges Herz dazu, die Schwachen zu stützen, die Mutlosen aufzurichten und die Verkannten zu trösten. Wußte er einen jungen, ehrlich ringenden Künstler in seelischer oder materieller Not, so suchte er ihm stets in selbstloser Weise zu helfen; und wohl niemand klopfte vergebens an seine Tür. Nicht einer der in unserer Zeit Erfolgreichen hat seines Geistes einen Hauch verspürt. Und wie furchtbar ist inzwischen die äußere und innere Bedrängnis derer gewachsen, die noch Künstler genannt zu werden verdienen … Nicht einmal »Zeit« haben unsere »Großen« für ihre jungen Kollegen, nicht einmal einen freundlichen Zuspruch oder einen guten Rat spenden sie ihnen. Und wie oft genügen ein paar Worte, um Lebensschicksale zu entscheiden! So hatte auch Liszts Weihnachtsbrief an Grieg neben der Wirkung auf das Gemüt des jungen Künstlers einen großen äußeren Erfolg: er brachte dem sein Brot mit Tränen Essenden ein Staatsstipendium ein und ermöglichte ihm dadurch seine zweite Romreise.

Das erste Zusammentreffen mit Liszt schildert Grieg in einem sehr ausführlichen Briefe an seine Eltern: »Liszt hat sich nach Tivoli zurückgezogen, wo er die Villa Este bewohnt. Er kommt nur selten nach der Stadt, und da ich bei einer solchen Gelegenheit von seiner Ankunft erfuhr, ging ich gleich zu ihm, traf ihn aber nicht zu Hause und gab meine Karte ab. Nach einigen Tagen verließ er wieder Rom, aber da begegnet mir auf der Straße Ravnkilde, der dänische Musiker. Er erzählt mir, daß er eine Karte von einer deutschen Malerin bekommen habe, die von Liszt beauftragt war, mich ausfindig zu machen. Ich sollte den Bescheid erhalten, es täte ihm sehr leid, keine Zeit zu haben, um mich aufzusuchen, und ich möchte so gut sein und den folgenden Tag um zehn Uhr zu ihm zu kommen. Er war also in der Stadt und erwartete mich. Ich sofort zu ihm! Er wohnt in einem alten Kloster in der Nähe vom Titus-Triumphbogen und Forum Romanum. Ravnkilde hatte mir versichert, Liszt sähe es gern, daß man ihm etwas mitbrächte, aber ich habe ja leider gegenwärtig meine besten Kompositionen zu Hause oder in Deutschland. Ich mußte also zu Winding laufen, dem ich früher ein Exemplar meiner letzten Violinsonate geschenkt hatte, – als Geber, der sein Geschenk zurücknimmt. Winding behielt den Umschlag, ich aber nahm die Eingeweide und schrieb darauf: ›Herrn Dr. F. Liszt in Bewunderung‹, nahm auch den Trauermarsch auf Nordraaks Tod und das Liederheft, worin ›Die Ausfahrt‹ steht, unter den Arm und wanderte mit etwas Magenweh, wie ich gestehen muß, die Straße entlang. Ich hätte mir dies aber ersparen können, denn eine größere Liebenswürdigkeit als die Liszts läßt sich schwer finden. Er kam mir lächelnd entgegen und sagte auf seine gemütliche Weise: ›Nicht wahr, wir haben ein bißchen korrespondiert?‹ Ich erzählte ihm, daß ich mein Hiersein seinem Briefe verdankte, was ihn zu einem wahrhaft Ole Bull'schen Gelächter hinriß. Während dessen suchte sein Blick mit einem gewissen ›gefräßigen‹ Ausdruck das Paket, das ich unter dem Arme trug. Aha, dachte ich, Ravnkilde hatte recht. Und Liszts lange, spinnenartige Finger näherten sich meinem Paket so beängstigend, daß ich es für das ratsamste hielt, es sofort zu öffnen. Er fing an die Sonate durchzulesen, und daß kein Schwindel dabei war, bewies er dadurch, daß er die besten Stellen durch ein bedeutungsvolles Kopfnicken, ein ›bravo‹ oder ›sehr schön‹ hervorhob. Ich fing an, in Stimmung zu kommen; als er mich aber bat, die Sonate zu spielen, sank mein Mut allerdings unter Null. Es ist mir nämlich nie eingefallen, das Ganze (beide Stimmen) auf dem Klavier allein zu spielen, und ich hatte ja nicht Lust, mich vor ihm zu blamieren. Aber hier half keine Ausrede. Ich nahm mich also zusammen und begann auf seinem schönen Chickering-Flügel zu spielen. Schon im Anfang, wo die Geige mit einer etwas barocken, aber nationalen Passage einsetzte, rief er: ›Ei, wie keck! Hören Sie mal, das gefällt mir. Bitte, noch einmal.‹ Und als die Geige zum zweiten Mal im Adagio eingreift, spielte er die Stimme oben am Klavier in Oktaven, und zwar mit einem so schönen Ausdruck, daß ich stillvergnügt vor mich hin lächelte. Es waren die ersten Töne von Liszt, die ich hörte! Und jetzt ging es mit voller Fahrt ins Allegro hinüber. Er spielte die Geige, ich das Klavier. Ich geriet immer mehr in Stimmung, da ich mich über seinen Beifall freute, der mir in der Tat so reichlich zuströmte, daß ich von tiefster Dankbarkeit ergriffen wurde. Sobald der erste Teil vorüber war, bat ich ihn, etwas für Klavier allein spielen zu dürfen, und wählte das Menuett aus den Humoresken, dessen Ihr Euch gewiß entsinnt. Als ich die ersten acht Takte vorgetragen hatte, sang er die Melodie mit, und tat es mit einem Ausdruck heroischer Kraft, der sofort meine vollste Zustimmung fand. Ich bemerkte, daß es die nationale Eigenart war, die ihm gefiel. Das hatte ich schon geahnt und deshalb Sachen mitgenommen, in denen ich versucht hatte, nationale Saiten anzuschlagen. Als nun das Menuett vorüber war, empfand ich deutlich, wenn je, so würde es mir in diesem Augenblick gelingen, Liszt zum Vorspielen zu bringen, da er scheinbar in der besten Stimmung war. Ich bat ihn, etwas zu spielen, er zog zwar die Schultern ein wenig, als ich aber sagte, es sei doch nicht seine Absicht, mich aus dem Süden fortziehen zu lassen, ohne einen Ton von ihm gehört zu haben, drehte er sich ein wenig um und murmelte: ›Nun, ich spiele, was Sie wollen, ich bin nicht so,‹ und plötzlich nahm er eine Partitur hervor, die er eben vollendet hatte, eine Art Trauerzug nach Tassos Grab, eine Ergänzung seiner berühmten symphonischen Dichtung ›Tasso lamento e triumfo‹. Er setzte sich dann zum Flügel und bewegte die Tasten. Ich versichere Euch, er ›speite‹ förmlich, wenn ich einen so unschönen Ausdruck verwenden darf, eine Glut, eine Feuermasse lebendiger Gedanken nach der andern aus. Es klang, als rufe er die Manen Tassos. Er malte in grellen Farben, aber ein solcher Vorwurf ist wie für ihn geschaffen; tragische Größe zu schildern ist gerade seine Stärke. Ich wußte einfach nicht, wen ich am meisten bewundern sollte, den Komponisten oder den Klavierspieler, denn sein Spiel war gewaltig. Nein, er spielte eigentlich nicht, – man vergißt, er sei Musiker, er wird ein Prophet, der den letzten Tag verkündet, alle Geister des Universums zittern unter seinen Fingern. Er dringt in die geheimsten Tiefen der Seele ein und wühlt mit dämonischer Macht in unserm Innern. Als alles vorüber war, sagte Liszt leicht hingeworfen: ›Jetzt wollen wir mal die Sonate weiterspielen‹, worauf ich natürlich erwiderte: ›Nein, vielen Dank, jetzt möchte ich es sehr ungern.‹ Liszt aber sagte: ›Nun, warum nicht, geben Sie mal die Sonate her, dann werde ich es tun.‹ Jetzt muß ich Euch bitten zu bedenken, daß er erstens die Sonate garnicht kannte, sie weder gehört noch gesehen hatte, und zweitens, daß es sich um eine Geigensonate handelte, also eine Sonate mit einer Geigenstimme, die sich selbständig bald oben, bald unten bewegt, vom Klavier ganz unabhängig. Aber was tut Liszt? Er spielt das Ganze mit Haut und Haaren, Geige, Klavier, ja mehr noch, denn er spielte voller, breiter. Die Geige kam mitten in der Klavierstimme zur Geltung. Liszt war buchstäblich gleichzeitig überall, ohne eine Note fortzulassen. Und wie spielte er! Mit einer Größe, Schönheit und Genialität sondergleichen. Ich lachte, glaube ich, lachte wie ein Wahnsinniger, und als ich einige Worte der Bewunderung stammelte, murmelte er: ›Nun, nun, das werden Sie mir doch zutrauen, daß ich etwas vom Blatt spielen kann, ich bin ja ein alter, geübter Musiker.‹ Ist das nicht Liebenswürdigkeit vom Anfang bis zum Ende? So ist, meiner Erfahrung nach, kein anderer großer Mann. Dann spielte er zum Schluß den Trauermarsch, der ihm auch gefiel, und nachher sprachen wir von allerlei. Ich erzählte ihm u. a., mein Vater hätte ihn 1824 in London gehört, was ihn sehr amüsierte. ›Ja, ja, ich habe in der Welt viel herumgespielt, zuviel‹, sagte er. Endlich nahm ich Abschied und ging nach Hause, sonderbar heiß im Kopfe, aber mit dem Bewußtsein, zwei der interessantesten Stunden meines Lebens verbracht zu haben.«

Einen Tag nach diesem Besuche spielte Sgambati (der bekannte Tonsetzer und Pianist) mit Pinelli (einem Schüler Joachims) die Griegsche Sonate in einem Vormittagskonzert vor einem sehr eleganten Publikum. Grieg schreibt darüber: »Liszt kam mitten im Konzert, und das war sehr günstig. Denn den Beifall, den die Sonate erhielt, schreibe ich nicht auf mein Konto. Die Sache ist, daß alle applaudieren, wenn Liszt klatscht, der eine wütender als der andere.«

Nicht lange danach erhielt Grieg, als er gerade im Skandinavischen Verein Whist spielte, durch Sgambati eine neue Einladung Liszts, und zwar für den nächsten Vormittag pünktlich um elf Uhr. Über diesen zweiten Besuch hat Grieg einige Wochen später gleichfalls sehr eingehend seinen Eltern berichtet: »Ich hatte glücklicherweise gerade das Manuskript meines Klavierkonzertes aus Leipzig empfangen, das ich also mitbringen konnte. Außer mir waren zugegen: Winding, Sgambati, ein mir unbekannter deutscher Lisztianer, der das Plagiat so weit treibt, daß er im Abbékostüm herumstolziert, und einige junge Damen der bekannten Art, die Liszt gern mit Haut und Haaren gefressen hätten. Ihre Bewunderung ist geradezu komisch. Sie wetteifern, den Saum seines Abbémantels zu berühren und Gelegenheit zu bekommen, seine Hand zu drücken. Ja, vollständig den Raum ignorierend, den jeder Spieler zu seinen Armbewegungen braucht, drängten sich die Damen, als er nachher spielte, um seinen Platz am Klavier herum, die gefräßigen Blicke auf seine Finger gerichtet, als wären diese dazu ausersehen, im nächsten Augenblick in dem schon weit geöffneten Rachen der kleinen Raubtiere zu verschwinden. Winding und ich waren sehr gespannt, ob er wirklich mein Konzert vom Blatt spielen würde. Ich meinerseits hielt es für eine Unmöglichkeit, Liszt dagegen faßte die Sache anders auf. Er sagte: ›Wollen Sie spielen?‹ Ich antwortete aber sofort: ›Nein, ich kann nicht‹ (ich habe es bis jetzt ja nie geübt). Dann nahm Liszt das Manuskript und sagte mit dem ihm eigentümlichen Lächeln: ›Nun, dann werde ich Ihnen zeigen, daß ich es auch nicht kann‹, und fing nun an zu spielen. Ich gebe zu, daß er den ersten Teil des Konzertes etwas schnell nahm und daß der Anfang dadurch etwas abgehetzt wurde; aber später, als ich selber Gelegenheit hatte, das Tempo anzugeben, spielte er vollendet. Seine Musik ist unbezahlbar. Er begnügt sich nicht mit dem Spielen, nein, er konversiert und kritisiert gleichzeitig. Er wirft geistreiche Bemerkungen ein, bald zu dem einen, bald zu dem andern in der Versammlung, nickt bedeutungsvoll nach rechts und links, am meisten, wenn ihm etwas besonders gefällt. Im Adagio und noch mehr im Finale kulminierte sowohl sein Vortrag wie sein Beifall. Eine ganz göttliche Episode darf ich nicht vergessen: Gegen den Schluß des Finales wird, wie Ihr Euch wohl erinnert, das zweite Thema in einem großen fortissimo wiederholt. In den allerletzten Takten, wo die erste Note der ersten Triole gis im Orchester zu g verändert wird, während das Klavier in einer gewaltigen Skalenfigur seinen ganzen Umfang durchrast, hielt er plötzlich ein, erhob sich in seiner ganzen Höhe, verließ das Klavier und schritt mit großartigen Theaterschritten und gehobenem Arm durch die große Klosterhalle, indem er das Thema förmlich brüllte. Bei dem erwähnten g streckte er wie ein Imperator seinen Arm gebieterisch aus und rief: ›G, g, nicht gis! Famos! Das ist so echt schwedischer Banco!‹ Und dazu, wie in Parenthese, ganz pianissimo: ›Der Smetana hat mir neulich etwas davon geschickt.‹ Er ging wieder ans Klavier, wiederholte die ganze Strophe und schloß ab. Zuletzt sagte er mit einer seltsamen, innigen Betonung, indem er mir mein Werk wiedergab: ›Fahren Sie so fort, ich sage Ihnen, Sie haben das Zeug dazu, und – lassen Sie sich nicht abschrecken!‹ Diese Schlußworte haben für mich unendlich viel Bedeutung. Es lag etwas darin, das ihnen eine gewisse Weihe gab.

Manchmal, wenn Enttäuschungen und Bitterkeit kommen, werde ich seiner Worte gedenken, und die Erinnerung an jene Stunde wird eine wunderbare Macht bewahren und mich in Tagen des Mißgeschicks aufrecht erhalten.« –

In Henry T. Fincks Grieg-Biographie finden sich Äußerungen des amerikanischen Komponisten Frank van der Stucken über Griegs Beziehungen zu Liszt, die einiges Beachtenswerte enthalten. Sie sollen deshalb hier zitiert werden; ohne daß damit jedoch eine Verantwortung für ihre Zuverlässigkeit übernommen wird: »Griegs Klavierkonzert in A-moll verschaffte ihm die Protektion Liszts. Wenn Liszt auch die Originalität der Musik sehr bewunderte, so schlug er doch einige Änderungen in der Instrumentation vor. Der Komponist, der sich zu jener Zeit in seiner Kenntnis des Orchestralen noch nicht so ganz sicher fühlte, nahm diese Vorschläge gern an, und so kam die Partitur mit diesen Abänderungen heraus. Aber bei dieser Gelegenheit hatte Liszt den Irrtum begangen, seinem eigenen feurigen Temperament zu folgen, anstatt Griegs mehr idyllisch veranlagte Natur in Betracht zu ziehen; dadurch wurde die Instrumentation zu überladen für ihren poetischen Inhalt. Später veröffentlichte Grieg eine revidierte Ausgabe seines Konzerts, in welcher er teilweise auf seine frühere, einfachere und passendere Orchestrierung zurückkam. Ein einziges Beispiel zeigt deutlich den Unterschied der beiden Auffassungen: Das wundervolle zweite Thema des ersten Satzes sollte nach Grieg von den Celli gespielt werden, entsprechend der zarten Cantabile-Natur der Melodie; Liszt dagegen schlug die Trompete vor, wodurch sofort ein theatralischer Effekt hineinkam, den Grieg niemals beabsichtigt hatte. Längere Zeit verblieb das Manuskript in den Händen Carl Reineckes, da Grieg gern das Urteil seines früheren Lehrers über sein Werk gehört hätte. Nachdem er vergeblich auf ein paar Zeilen darüber gewartet hatte, besuchte er Reinecke, um die Partitur abzuholen, und wurde sehr herzlich empfangen. Von allem Möglichen wurde gesprochen, aber sein Konzert wurde mit keinem Worte erwähnt. Und so wanderte der Norweger nach Hause, seine Partitur unter dem Arm und Bitterkeit im Herzen. Grieg war, wie Wagner, sehr empfindlich gegen widrige Kritiken. Ich erinnere mich sehr wohl seiner drastischen Ausdrücke über einige Musikschriftsteller jener Zeit … Auf Griegs Veranlassung besuchte ich Liszt in Weimar, ich verdanke ihm auf diese Weise meine ganze Karriere, da ein Konzert meiner eigenen Kompositionen unter Liszts Protektorat im November 1883 die Aufmerksamkeit der Presse auf meinen Namen lenkte. Grieg wohnte meinem Konzerte bei, und wir besuchten gemeinsam noch zwei interessante Gesellschaften Liszts, der während meines Aufenthaltes in Weimar sehr gütig zu mir war.«

Eine weitere Ergänzung zu Griegs Bericht über die Wiedergabe seines A-moll-Konzerts durch Liszt findet sich in den Erinnerungen des Pianisten Oscar Meyer an Grieg (Neue Musikzeitung, Stuttgart 1910): »Liszt spielte Griegs Klavierkonzert prima vista mit grandioser Auffassung und fehlerlos, wobei es ihm aber passierte, daß er beim Umblättern einen Tonartwechsel nicht deutlich erkannte und eine Fortissimo-Orchesterstelle mit großem Pomp in Dur spielte statt in Moll. Als Grieg ihn auf den Irrtum aufmerksam machte, sah ihn Liszt indigniert an, holte vom Pult einen Rotstift, malte einige mächtige Auflösungszeichen in die Noten und fuhr nach wiederholten grimmigen Seitenblicken, ohne ein Wort zu sagen, im Spiel fort. Bei dieser Erzählung ahmte Grieg den Altmeister, den ich früher oft gehört und gesehen, in Spiel, Bewegungen und Gang so täuschend nach, daß ich mich des Lachens nicht enthalten konnte.«

Auch Richard Wagner, Hans von Bülow u. a. haben ihre Zeitgenossen oft und mit viel Witz nachgeahmt. Die kleinen komischen Äußerlichkeiten der Kollegen entgehen wohl keinem Künstler, und so empfindlich ein jeder auch der harmlosesten Verulkung gegenüber zu sein pflegt, so unbarmherzig zieht er selbst gelegentlich die Schwächeren der andern ans Licht.

Als Grieg mit seiner Frau, die ihn auf seiner zweiten Romreise begleitet hatte, nach Christiania zurückgekehrt war, komponierte er sein erstes Chorwerk, das er seinem edlen Gönner Franz Liszt widmete: die dramatische Szene »Vor der Klosterpforte« op. 20. Später sind Grieg und Liszt noch einige Male in Deutschland zusammengetroffen; es blieb aber bei gelegentlichen Besuchen, zu einem regelmäßigen Verkehr ist es zwischen ihnen nicht gekommen. »Liszt war der einzige unter den modernen Meistern,« hat Grieg wiederholt erklärt, als er selbst bereits zu den Meistern zählte, »der mir voll und warm, wie es seine Natur war, entgegengekommen ist, und dem ich bis auf den heutigen Tag viel zu verdanken habe.«

Die Bekanntschaft mit Ibsen

Die wenigsten Menschen haben von einem wahren Freundschaftsverhältnis einen Begriff. Sie sehen nicht ein, daß ein solches Verhältnis eine Aufgabe ist, die von beiden Seiten mit Ernst und Anstrengung gelöst sein will, und daß es, statt im Genuß, in gemeinschaftlicher Tätigkeit, im gemeinschaftlichen Streben nach einem gleichen Ziel eine feste Basis haben muß, wenn es dauern soll.

Hebbel.

Ein Aristokrat ist jeder, welcher sich mit wohlbegründeter Verachtung von dem Pöbel, dem vornehmen wie geringen, abwendet.

Scherr.

Während seines ersten Aufenthalts in Rom hatte Grieg Norwegens größten Dramatiker, Henrik Ibsen, kennengelernt. (Auch der verdankte seine Entdeckung dem Scharfblick Ole Bulls.) Bei einer Aussprache über die Kunstverhältnisse in Norwegen waren beide ein wenig aneinander geraten, hatten aber ihre verschiedenen Meinungen so geschickt verfochten, daß der anfängliche Zorn bald einer gegenseitigen Hochachtung wich.

Grieg wie Ibsen fühlten sich in ihrem Lande als Prediger in der Wüste, und der Unmut, der sie manchmal überkam, spricht noch aus den Versen, die Ibsen (Anfang Februar 1866) in Griegs Stammbuch schrieb:

»Orpheus mit der Töne Reine
Zwang die Tiere und die Steine.
Steine haben wir in Massen,
Tiere auch auf allen Gassen.
Spiele, daß die Steine glühen
Und aus Tierhaut Menschen sprühen.«

Trotz gemeinsamen Idealen und verwandten Anschauungen auf manchen Gebieten ist es zu einer herzlichen Freundschaft zwischen den beiden Künstlern niemals gekommen. Sie hatten große Hochachtung vor einander, die sich später auch in Äußerlichkeiten, wie z. B. in der Form ihrer Briefe, zeigte. (Grieg verwandte auf die Stilistik seiner Episteln an Ibsen stets eine außerordentliche Sorgfalt und gestand einmal, daß er an ihnen weit mehr gefeilt habe als an seinen Kompositionen.) Aber sie fühlten den Gegensatz ihrer Temperamente und ihrer Weltanschauungen doch so stark, daß sie beständig fürchteten, einander zu verletzen. Und deshalb konnte ein ungezwungener Verkehr nicht aufkommen.

Am Anfang des Jahres 1874 schrieb Ibsen aus Dresden an Grieg und fragte ihn, ob er die Musik zu einer Bühnenbearbeitung seines Peer Gynt liefern wolle. Das Schreiben enthält ganz genaue Anweisungen und mutet dem Komponisten bei aller Höflichkeit die bescheidene Rolle eines – sagen wir musikalischen Regisseurs zu, der dafür zu sorgen hat, daß an bestimmten Stellen eine bestimmte Musik einsetzt, aber beileibe nicht musizieren darf, wann und wie er will. Statt des vierten Aktes dachte sich Ibsen »ein großes Tongemälde, welches Peer Gynts Irrfahrten in der weiten Welt vorstellen soll; amerikanische, englische und französische Melodien mögen darin vorkommen und als Motive wiederkehren. Der Chor der Anitra und der Mädchen soll, vom Orchester begleitet, hinter dem Vorhang zu hören sein. Mittlerweile steigt der Vorhang, und die Zuschauer sehen, wie in einem Traum, das beschriebene Bild, in welchem Solvejg als Frau in mittleren Jahren im Sonnenschein vor dem Hause sitzt und singt. Nachdem sie ihr Lied beendet hat, fällt der Vorhang langsam, das Orchester spielt weiter und malt den Sturm auf hoher See, mit welchem der fünfte Akt beginnt.« (So, wie Ibsen die Musik zu seinem Peer Gynt haben wollte, ist sie dann doch nicht geworden, vielmehr wurde der ursprüngliche Plan durch Änderungen, Kürzungen und Zusätze recht erheblich umgewandelt.)

Grieg überlegte sich zunächst Ibsens Angebot reiflich. Wohl lockte ihn das Wagnis; aber, – ob ihm außer den mehr lyrischen auch die dramatischen Szenen gelingen würden, das war ihm doch recht zweifelhaft. Schließlich nahm er an und machte sich dann auch bald ans Werk. In Sandviken bei Bergen begann er die Arbeit, deren Entwurf er im Winter desselben Jahres beendete; die Orchesterpartitur schrieb er ein halbes Jahr später im dänischen Fredensborg. Am 24. Februar 1876 fand die erste Aufführung im Theater zu Christiania ohne Anwesenheit des Komponisten statt. Der Erfolg war so gewaltig, daß im ersten Jahre sechsunddreißig Aufführungen veranstaltet werden konnten; bald danach erschien das Werk auch auf den anderen Bühnen Norwegens und hat hier bisher im ganzen wohl mehrere hundert Vorstellungen erlebt. Außerhalb Norwegens dagegen vermochte sich der Peer Gynt nicht einzubürgern; nur in Kopenhagen glückte die Einführung. Grieg selbst schreibt hierüber zwei Jahre vor seinem Tode: »Es ist sehr schade, daß der (?) lokale Kolorit und der vielfach philosophische Dialog für die Popularität des Ibsenschen Werkes außer Skandinavien ein großes Hindernis ist. In Paris, wo das Werk vor einigen Jahren über die Bretter ging, hatte die Musik (von dem Lamoureuxschen Orchester ausgeführt) einen kolossalen Erfolg. Ibsen blieb aber unverstanden. In Berlin fiel das Werk voriges Jahr einfach durch. Und doch halte ich es für Ibsens größte Schöpfung. Im Vaterlande wird sie aber immer wie ein Monument über (?) Ibsen betrachtet werden und den Platz auf der Bühne, sogar als Volksstück, behaupten.« Der Mißerfolg des Peer Gynt im Auslande veranlaßte Grieg, die schönsten »Nummern« des Werkes zu einer Suite zu vereinigen, der er später auf Wunsch seines Verlegers eine zweite Reihe von Musikstücken folgen ließ. Ohne diese beiden Suiten hätte man auch in Deutschland Ibsens Werk lange Jahre hindurch nicht einmal dem Namen nach gekannt. Seit 1914 ist es dann doch noch in Berlin und anderen deutschen Städten heimisch geworden. In Berlin war der Erfolg sogar so groß, daß es auf zwei Bühnen gleichzeitig gespielt werden konnte. Wer im Jahre 1920 die Aufführungen im ehemals Königlichen Schauspielhause gehört hat, wird erstaunt darüber gewesen sein, daß das Werk trotz verstümmelter Wiedergabe der Musik durch ein unglaublich mißtönendes Orchester eine außerordentlich starke Wirkung erzielte. Seltsam, daß gewisse Tonwerke »überhaupt nicht umzubringen« sind; es scheint doch so, als ob in der Musik die Gehörseindrücke nicht das A und O seien. Denn wenn diese, wie so oft, durchaus nicht erfreulich sind: wie erklärt sich dann die Begeisterung der Hörer? Es muß doch musikalische Eindrücke geben, die mehr, ja etwas ganz anderes bedeuten als bloßen Ohrenschmaus. Damit soll natürlich nicht behauptet werden, daß die rein sinnliche Klangschönheit etwas Nebensächliches oder gar Überflüssiges sei. Nur: Musik, die gut klingt, ist darum noch keine gute Musik. Auch unter den Kompositionen Griegs finden sich manche, deren akustische Wirkung vortrefflich ist, ohne daß sie deshalb tiefen Eindruck machen oder gar besonderen musikalischen Wert haben. Andere wiederum empfinden wir trotz ihrer Dissonanzen als »schöner« klingend, weil sie uns ästhetisch mehr befriedigen. Die seelische Erregung, die jede gute Musik in jedem empfänglichen Hörer hervorruft, kommt nicht in den Gehörsorganen zustande; eine gute Aufführung kann sie deshalb erhöhen und eine schlechte kann sie abschwächen, aber selbst die beste Aufführung vermag ein minderwertiges Tonwerk nicht zu retten, und selbst die schlechteste Wiedergabe kann einem guten Werke nicht alle Wirkung rauben.

Der Erfolg des Peer Gynt festigte die Beziehungen zwischen dem Dichter und dem Komponisten, ein lebhafter Meinungsaustausch begann, und es ist gewiß kein Zufall, daß fast alle Lieder Griegs mit Texten von Ibsen bald nach den ersten Aufführungen des Peer Gynt geschrieben sind. Später wurde der Verkehr zwischen den beiden wieder schwächer, der Ton wieder kühler und gemessener. Eine ernste Mißstimmung hat es wohl nicht zwischen ihnen gegeben; aber ein jeder ging wie vordem wieder seinen eigenen Weg. Als Grieg in Christiania sein fünfundzwanzigjähriges Jubiläum als Konzertgeber feierte, war auch Ibsen anwesend, sonst sahen sie sich selten. Erst 1893 führte ein neuer künstlerischer Plan den alternden Dichter nochmals zu Grieg. Darüber heißt es in einem Brief des Komponisten an seinen Verleger: »Gestern war Ibsen hier. Er will mir durchaus einen Operntext machen, nämlich: ›Eine nordische Heerfahrt‹, ein Stoff, welchen er fürs Schauspiel benutzt hat, und für Musik allerdings ganz ausgezeichnet ist.« (Grieg konnte auch ein besseres Deutsch schreiben.) »Wenn ich nur gesund wäre! … Ich muß mir die Sache noch überlegen und vor allem sehen, wie. Ibsen die Sache machen wird. Er hat nämlich, wie er sagte, schon bald einen Akt fertig.«

Daß Grieg sich abwartend verhielt, war sehr berechtigt, da Ibsen ihm schon früher einen Operntext (»Olav Liliekrands«) versprochen, aber niemals geliefert hatte. Als Ergänzung hierzu seien noch einige vom Leipziger Tageblatt 1908 veröffentlichte Äußerungen der Gattin Griegs wiedergegeben: »Es ist sein (Griegs) größter Wunsch, einmal eine Oper schreiben zu können. Er hat vom Inland und Ausland auch viele Texte erhalten; aber keiner paßte ihm recht. Er selbst glaubte, daß es dieser Mangel an Gelegenheit war, der ihn verhinderte, eine Oper zu komponieren. Doch ist es wohl auch möglich, daß seine physischen Kräfte nicht ausreichten.« Nicht nur die physischen Kräfte waren zu schwach, um ein Werk von großen Dimensionen zu vollenden. Mehr noch hat sich Grieg durch das Bewußtsein, daß seiner rein lyrischen Natur die Eignung für das Dramatische fehle, zu weiser Selbstbeschränkung führen lassen, mochten dabei auch manche geheimen Wünsche begraben werden. So ist aus der nordischen Nationaloper, die Kretzschmar u. a. von Grieg erwarteten, nichts geworden.

Je länger Grieg und Ibsen sich kannten, desto fremder wurden sie sich. Dem grüblerischen Ibsen war Grieg eine allzu unproblematische Natur, und dieser fühlte sich von Ibsens Pessimismus und Menschenverachtung abgestoßen. Als Ibsen 1906 starb, schrieb Grieg an einen Schweizer (»Die Musik« 1907): »Von Ibsens Tod erhielt ich die Nachricht in London, gerade vor einem Konzert, das ich zu dirigieren hatte. Ich darf nicht sagen, daß ich tief erschüttert wurde, weil er für mich schon jahrelang tot war, und weil wir die Todesnachricht jeden Tag erwarteten. Nachher ist es mir anders gegangen. Ich empfinde die Leere nach seiner eminenten Persönlichkeit immer schmerzvoller.« Ibsen würde sich, wenn er den Tod Griegs erlebt hätte, kaum wesentlich anders geäußert haben. Diese beiden großen Künstler, die gemeinsame Ideale verfolgten, gemeinsam ein großes Werk schufen, gemeinsame Freunde und (was noch mehr verbindet) gemeinsame Feinde hatten, zogen tief den Hut, wenn sie sich auf der Straße begegneten, aber sie schüttelten sich nicht die Hände: steif, mit zugeknöpften Röcken sind sie ein Stück Weges neben einander her gegangen und haben sich dann, ohne Abschied, getrennt.

Die Freundschaft mit Björnson

Wahre Freundschaft kann nur beruhen auf der Verbindung ähnlicher Naturen. –
Der Grund der Freundschaft heischt die größte Ähnlichkeit der Seelen und Herzen der Menschen.

Beethoven.

Große Empfindungen zeigen eine starke, umfassende Seele an. Wo der Wind das Meer nur flüchtig kräuselt, da ist es flach; aber wo es Wellen türmt, da ist es tief.

Kleist.

Als Grieg nach Christiania übergesiedelt war, galt einer seiner ersten Besuche dem Direktor des dortigen Theaters, der auch eine Zeitung redigierte und sich mit einer Reihe von Dramen sowie einigen Novellen einen großen Namen gemacht hatte: Björnstjerne Björnson. (Auf deutsch: Bärenstern Bärensohn.) Er war ein Vetter Nordraaks, elf Jahre älter als Grieg, ein Hüne an Gestalt und ein gewaltiger Eiferer mit einer machtvoll dröhnenden Stimme; alle Welt fürchtete seine überschäumende Kraft- und Kampfnatur, denn wenige nur wußten, daß die breite Brust des grimmigen Polterers ein großes, gutmütiges Kinderherz umschloß. Den jungen Grieg nahm Björnson sogleich mit größter Herzlichkeit bei sich auf, und schon nach wenigen Begegnungen ward ein Freundschaftsbund fürs Leben geschlossen. Sehr anschaulich schildert Grieg in einer Festschrift zu Björnsons siebzigstem Geburtstag die erste Weihnachtsfeier, die er im Hause des in jeder Hinsicht großen Mannes verlebte: »Meine Frau und ich waren, soweit ich mich erinnere, die einzigen Gäste. Der Jubel der Kinder war groß. Mitten auf dem Fußboden thronte ein ungeheurer Christbaum in vollem Lichterglanz. Alle Dienstboten kamen herein, und Björnson redete, schön und warm, wie er das kann. ›Jetzt kannst du den Choral spielen, Grieg,‹ sagte er dann, und obwohl es mich innerlich ein bißchen wurmte, daß ich Organistendienste verrichten sollte, gehorchte ich selbstverständlich ohne zu mucksen. Es war ein Grundtvigscher Choral, zweiunddreißig Verse! Mit stoischer Ruhe ergab ich mich in mein Geschick. Anfangs hielt ich mich wacker, aber die endlosen Wiederholungen wirkten einschläfernd. Ich wurde nach und nach stumpfsinnig wie ein Medium. Als wir uns endlich durch alle Verse durchgeschlängelt hatten, sagte Björnson: ›Ist er nicht wunderschön? Jetzt werde ich ihn euch vorlesen.‹ Und wieder gings los mit allen zweiunddreißig Versen. Ich war ganz und gar überwältigt. Unter den Weihnachtsgeschenken war für mich ein Buch von Björnson, seine ›Stücke‹. Auf das Titelblatt hatte er geschrieben: ›Dank für Deine Stücke! Hier auch ein paar!‹ Ich hatte ihm nämlich am selben Tage das erste Heft meiner eben erschienenen ›Lyrischen Stücke‹ verehrt. Unter diesen ist eines mit der Überschrift ›Vaterländisches Lied‹. Dies spielte ich Björnson vor, und es gefiel ihm so gut, daß er Lust bekam, einen Text dazu zu schreiben … Am nächsten Vormittag, als ich in meiner Mansarde in der Oberen Wallstraße saß und einer jungen Dame Klavierstunde gab, hörte ich es draußen an der Entréetür klingeln, als sollte der ganze Läuteapparat herunterstürzen. Dann ein Gepolter wie von einer einbrechenden wilden Horde und ein Gebrüll: ›Vorwärts! Vorwärts! Hurra! Jetzt hab ichs! Vorwärts!‹ Meine Schülerin zitterte wie Espenlaub. Meine Frau im Nebenzimmer war fast besinnungslos vor Schreck. Als aber dann die Tür aufflog und Björnson dastand, froh und strahlend wie eine Sonne, erhob sich allgemeiner Jubel. Und dann hörten wir das schöne, eben vollendete Gedicht:

›Fremad! Fadres hoie Hartag var.
Fremad! Nordmand, ogsaa vi det tar!‹

Das Lied wurde zum ersten Mal von den Studenten bei ihrem Fackelzug für Welhaven 1868 gesungen.«

Daß bei einer so vortrefflichen Harmonie zwischen Grieg und Björnson manches gemeinsame Werk entstehen würde, war vorauszusehen. Aus Björnsons Romanzyklus »Arnljot Gelline« nahm Grieg den Text für sein Chorwerk »Vor der Klosterpforte« op. 20; aus der Novelle »Das Fischermädchen« wählte er die Texte für seine Lieder op. 21. Dann schrieb er innerhalb einer ihm gestellten Frist von acht Tagen die Musik zu Björnsons Schauspiel » Sigurd Jorsalfar«. Zwei Gesänge daraus erschienen später als op. 22, während drei Orchesterstücke aus dem gleichen Werk seltsamerweise die Opuszahl 56 erhielten. Die erste Aufführung fand am 17. Mai 1870 im Theater zu Christiania statt. Sie war so mittelmäßig, daß Grieg bald nach Beginn mehr und mehr in sich zusammensank. Bis Björnson, der schon vergeblich ein »Sitz ordentlich!« gebrummelt hatte, ihm einen kräftigen Rippenstoß versetzte und ihn auf diese zwar wortlose, aber doch höchst beredte Weise dazu ermahnte, eine würdige Haltung zu bewahren. Am Schlusse kam es dann unerwartet zu lebhaften Beifallsbezeugungen des Publikums, und es muß recht hübsch ausgesehen haben, wie der große, starkknochige Björnson mit dem kleinen, schmächtigen Grieg an der Hand auf der Bühne erschien.

Ein paar Jahre später versprach der Dichter dem Komponisten einen Operntext. Er schrieb auch bald den ersten Akt des » Olav Trygvason«, und Grieg machte sich sogleich an die Arbeit. Dann aber verlor Björnson die Lust an dem Werk und schlug dem Freunde schließlich eine gemeinsame Romreise vor, auf der das Drama vollendet werden sollte. Grieg lehnte verstimmt ab und redete sich allmählich in eine solch verbitterte Stimmung hinein, daß er Björnson jahrelang mied. Wir sehen hier dieselbe Empfindlichkeit, die ihm schon den Verkehr mit seinen Mitschülern erschwert hatte, und die ihn zeitlebens jede ungünstige Beurteilung seiner Werke als eine schwere persönliche Kränkung empfinden ließ. Erst 1889, als das Fragment zum ersten Mal aufgeführt wurde, söhnte sich Grieg mit Björnson wieder vollkommen aus. Eine Weiterarbeit an dem Werke wurde nochmals erwogen, aber Björnson erklärte nach längerer Überlegung: »Ich kann den Faden nicht wiederfinden.« Die drei vollendeten Szenen erschienen dann als op. 50 im Druck.

Noch zwei weitere größere Werke haben Grieg und Björnson gemeinsam geschaffen: das für Männerchor, Baritonsolo und Orchester komponierte Gedicht »Landerkennung« op. 31 und das Melodrama »Bergliot« op. 42.

Aus einem vom Illustr. Wiener Extrablatt 1896 veröffentlichten Interview erfahren wir, warum Grieg sich so viel mehr zu Björnson als zu Ibsen hingezogen fühlte: Björnson sei Demokrat und Optimist, Ibsen Aristokrat und Pessimist gewesen. Der wortkarge, in sich gekehrte Dichter des Peer Gynt beschäftige sich in seinen Werken zu sehr mit den Nachtseiten des Lebens, während Björnson sich stets als ein lebensfroher, echt volkstümlicher Dichter zeige. »Und das bereitet mir herzinnige Freude, wenn ich Menschen begegne, die so menschlich fühlen, die an der Menschheit nicht verzweifeln.« Dann fügt Grieg noch hinzu: »Björnson und Ibsen halten sich die Wage, sie repräsentieren die zwei Seiten des norwegischen Nationalcharakters. Der Norweger versenkt sich in Trübnis und kann rasch in tollste Freude übergehen. Neben der größten Wehmut schlummert der Hang zur Ausgelassenheit in ihm, ganz wie bei den Ungarn, nur äußern sich Schmerz und Freude bei uns anders.« Ähnlich spricht sich Grieg in den schon erwähnten Briefen an einen Schweizer aus: »Björnson und Ibsen ergänzen sich in ihrer Auffassung. Das norwegische Volk, vor allem das Bauernvolk, hat scharf kontrastierende Eigenschaften, und es liegt auf der Hand, daß Björnson, der Optimist, das Volk verherrlicht, während Ibsen, der Pessimist, es geißelt. Der Komponist vermag recht wohl beide Gegensätze in sich aufzunehmen, ohne unwahr zu erscheinen … Ich nahm zwar nicht an Ibsens Jubiläum teil, bin aber ein schwärmerischer Verehrer von vielen seiner Dichtungen, und ganz besonders von Peer Gynt. Mein Verhältnis zu Björnson ist ein anderes. Mit der großen Sympathie und Verehrung für ihn als Dichter verbindet uns außerdem eine intime Freundschaft.«

Wer von den beiden Freunden die stärkere Persönlichkeit war, kann wohl nicht zweifelhaft sein. Und es erscheint auch ganz natürlich, daß Grieg sich in seinen Handlungen oft von Björnson beeinflussen ließ. Da nun der kampfesfrohe Dichter sein hitziges Temperament niemals verleugnen konnte, ward auch Grieg (ohne es zu wollen) zuweilen ein recht streitbarer Kämpe, hatte aber in solchen Fällen kein sonderliches Glück. So geriet er z. B. während der bekannten Dreyfus-Affäre durch Björnson in einen bösen Konflikt mit den Parisern. Grieg weilte, als der Prozeß in Rennes stattfand, bei seinem Freunde in Aulestad zu Besuch, und der Dichter schleuderte so ungeheure Massen seines vulkanischen Zornes aus sich heraus, daß auch Griegs Empörung keine Grenzen mehr fand. Da kam plötzlich eine Einladung von Edouard Colonne zu einem Konzert im Pariser Châtelet-Theater. Griegs Antwort lautete: »Indem ich Ihnen für Ihre liebenswürdige Einladung vielmals danke, bedauere ich bekennen zu müssen, daß ich mich jetzt nach dem Ausgang des Dreyfus-Prozesses nicht entschließen kann, nach Frankreich zu kommen. Wie alle Nichtfranzosen bin ich empört über die Ungerechtigkeit in Ihrem Lande und daher nicht imstande, in irgendwelche Beziehungen zu dem französischen Publikum zu treten. Verzeihen Sie mir, daß ich nicht anders empfinden kann, und versuchen Sie, meine Gefühle zu verstehen.« Björnsons Schwiegersohn, der Münchener Verleger Albert Langen, der damals auch gerade in Aulestad weilte, übersetzte den Brief ins Französische und schickte den Text mit Griegs Zustimmung an die Frankfurter Zeitung. Die Folge davon war, daß alle großen europäischen Zeitungen den Brief nachdruckten und Grieg dann eine Flut von Schmähsudeleien aus Frankreich erhielt. Colonne antwortete sehr höflich, ließ es aber doch an einer Zurechtweisung nicht fehlen, und Grieg sah nun wohl ein, welch grobe Taktlosigkeit er begangen hatte, und wie töricht die Veröffentlichung seiner Epistel gewesen war. Aber seine Entgegnung fiel wiederum recht wenig geschickt und recht wenig geschmackvoll aus. Es heißt darin: »Als ich meine Antwort schrieb, war ich auf dem Lande, in dem gastfreien Hause des Dichters Björnson, dessen ganze Familie, wie auch meine Frau und ich, für Dreyfus sind. So kam die Geschichte ganz natürlich.« Eine sehr schwache Entschuldigung. Dann geht es weiter: »Ich wünschte, ich könnte Ihnen all die abscheulichen Briefe zeigen, die ich täglich aus Ihrem Lande erhalte. Mir sind sie nur Beweise eines schlechten Gewissens und der Unschuld des unglücklichen Dreyfus. Einer der Briefe aus Paris drohte, mich in Ihrer Stadt mit Fußtritten in die unnobelste Gegend meiner Person zu empfangen. Ich glaube jedoch, daß die leicht erregbare Leidenschaft der französischen Nation bald wieder einer vernünftigen Auffassung Platz machen wird, die den von der französischen Republik im Jahre 1789 proklamierten Rechten der Menschheit mehr gleichkommt. Ich hoffe dies vor allem für Frankreich, aber auch für mich selbst, damit ich Ihr schönes Land noch einmal sehen kann.« Trotz des versöhnlichen Schlusses verzichtete Colonne begreiflicherweise darauf, nochmals zu antworten. Er schwieg mehrere Jahre und schickte dann, in dem Glauben, alles sei inzwischen vergessen, eine neue Einladung. Grieg sagte zu, und das Konzert fand im April des Jahres 1903 unter Mitwirkung von Raoul Pugno und Ellen Gulbranson statt. Als der Komponist am Dirigentenpult erschien, gab es einen ungeheuren Lärm, die einen zischten und pfiffen, die andern klatschten, und Rufe wie »Entschuldigen Sie sich!« tönten durch den Saal; schließlich, nach Entfernung der Hauptschreier, beruhigte man sich, und die allmählich immer mehr wachsende Begeisterung der Hörer verhalf dann dem nordischen Meister doch noch zu einem großen, unbestrittenen Erfolge. Als Grieg das Theater verließ, fand er den Zugang zu seinem Wagen durch eine dreifache Kette von Polizisten abgesperrt. »Ich fühlte mich wie ein Cromwell«, schreibt er stolz.

Im gleichen Jahre feierte Grieg in Bergen seinen sechzigsten Geburtstag. Auch Björnson war erschienen und hielt bei dieser Gelegenheit zwei große Reden. Die erste beginnt sehr launig: »Die sich bereits genommen haben, müssen schon entschuldigen, wenn ihnen der Lachs kalt wird. Was ich zu sagen habe, ist nämlich ziemlich lang. Aus dem gleichen Grunde bitte ich alle, die ungünstig sitzen, ihre Stühle nach mir herumzudrehen. Das Gefühl, daß sie einen steifen Nacken bekommen könnten, macht mich nervös.« Dann folgen historische und philosophische Ausführungen von wirklich etwas rücksichtsloser Länge, deren Zusammenhang mit dem Fest nicht recht erkennbar ist. Erst ganz am Schlusse kommt Björnson auf Grieg zu sprechen: »Er hat mehr als irgendein anderer Stimmungen aus dem Naturleben und dem Menschenleben genommen. Seine Melodiebilder sind wie die norwegische Landschaft, die meist nicht sehr ausgedehnt und bisweilen schwer zugänglich ist … Er hat es dahin gebracht, daß norwegische Stimmungen und norwegisches Leben in fast jedes Musikzimmer der ganzen Welt eingezogen sind … Ja, herrlich ists, was du uns da draußen gewonnen hast, aber es ist doch nichts gegen das, was du uns hier daheim geschenkt hast, indem du aus unseren zartesten und erhabensten Stimmungen schöpftest und sie uns wiedergabst, so verklärt und so nach dem Ideal der Vollkommenheit, wie du konntest. Das ist die schönste Huldigung für unser Volk und für unsere Arbeit; es geht direkt durch die Phantasie und das Gefühlsleben in uns hinein.« Auch von der ungeschriebenen Nationaloper, an die Grieg »dicht herangekommen« sei, wird beiläufig gesprochen. Die zweite, nur dem Inhalt nach bekannte Rede ist etwas wunderlich. Björnson beginnt diesmal mit einer bekannten Inschrift an den Mauern der öffentlichen Gebäude »Spucke nicht auf den Fußboden«, geht dann zu der Mahnung über »Spucke nicht auf die Kunst, noch auf die Wissenschaft, noch auf die, welche anders als du denken«, und schließt mit dem Ausruf »Es lebe die Toleranz!« Als Festrede bei einer Geburtstagsfeier etwas eigenartig. Denn man hätte daraus eigentlich nur die Mahnung entnehmen können: »Schimpft nicht auf den Jubilar, sondern duldet ihn und seine Musik.« Immerhin, Grieg fühlte sich dieses Mal nicht verletzt, sondern schrieb: »Der Eindruck war unbeschreiblich. Nun müßt Ihr bedenken, daß Björnson auch alle äußeren bestechenden Eigenschaften des großen Redners hat. Wäre er in einem großen Kulturland mit einer Weltsprache geboren, man würde, glaube ich, ihn für den ersten Redner überhaupt halten.« Viel große Redner hat Grieg in seinem Leben wohl nicht gehört.

Ende 1903 verlebten die beiden nunmehr weißhaarig gewordenen Freunde nochmals gemeinsam die Weihnachtstage. »Der Winter hier ist wunderschön«, schreibt Grieg aus Aulestad, »und ich habe mich, Gott sei Dank, sehr erholt. Der Kranke war diesmal Björnson, der wegen Bronchitis acht Tage das Bett hüten mußte. Jetzt ist aber auch er allright, und sein Geist sprüht und tobt. Und wahrhaftig, er hat allen Grund zu toben, denn seine Landsleute behandeln ihn scheußlich. Hier versteht man keine geistige Entwicklung eines Menschen. Wer nicht Chauvinist bleibt, der ist gerichtet. Aber er läßt seinen Gegnern keine Ruhe. Selbst im Bett schreibt er Zeitungsartikel und sagt den Leuten die Wahrheit in nobler und hochsinniger Weise.« Der sprühende und tobende Dichter war damals über siebzig Jahre alt; er starb im Jahre 1910, ohne daß sein Geist auf das Ende vorbereitet gewesen wäre. Was sind achtundsiebzig Jahre? Ein Anfang, eine Vorbereitung; jetzt hätte das Leben recht eigentlich erst beginnen sollen. Aber der alternde Körper hielt den ungestümen, ewig jugendfrischen Geist nicht mehr aus. »Ich ziehe bald um, die Wohnung paßt mir nicht mehr«, sagte er kurz vor seinem Ende, und reckte lachend die nervigen Arme mit den geballten Fäusten. Glaubte er an Unsterblichkeit? Goethe sagte 1829 zu Eckermann: »Die Überzeugung unserer Fortdauer entspringt mir aus dem Begriff der Tätigkeit; denn wenn ich bis an mein Ende rastlos wirke, so ist die Natur verpflichtet, mir eine andere Form des Daseins anzuweisen, wenn die jetzige meinen Geist nicht ferner auszuhalten vermag.« Der immer rastlos tätige Björnson hätte vielleicht eingeworfen: »Fragt sich nur, ob die Natur die Verpflichtung auch erfüllt.« Und der Olympier hätte wohl mit einem unergründlichen Lächeln entgegnet: »Man darf es hoffen.«

Im Nachlaß Griegs fand man ein Lied aus dem Björnsonschen Oratorium »Der Friede«. Der Berliner Börsen-Courier berichtete 1899 darüber: Das Werk sei für den 1900 in Paris tagenden Friedenskongreß bestimmt, und der Text solle von Catulle Mendès ins Französische übertragen werden. Grieg hatte Björnson zu der Dichtung aufgefordert; als der Dichter dann aber das Werk drucken lassen wollte, ohne die Vollendung der Griegschen Musik abzuwarten, verlor der Komponist die Lust zum Weiterarbeiten. Das ist aufs tiefste zu beklagen. Denn ein groß angelegtes Oratorium Griegs hätte vielleicht den Gipfel seines Schaffens bedeutet. Unter allen Tonsetzern seiner Zeit war er einer der wenigen, von denen man als größte Tat ein Oratorium (nicht eine Oper) erwarten durfte. Aber die schönsten Werke, die ein Künstler schaffen könnte, gehen ja fast immer ungeboren mit ihm ins Grab. Die »Bruchstücke einer großen Konfession« (wie Goethe seine Werke nennt) bleiben der Nachwelt, doch das eigentliche große Lebenswerk wird wohl immer nur geträumt, geahnt, zuweilen vielleicht visionär geschaut –, doch nie gestaltet, nie zum Leben erweckt. Und wie der Weise am Ende seines Lebens erkennt, daß er nichts weiß, so ahnt ein großer Künstler schließlich immer, daß er nichts kann. Ahnt ers nicht nur, wird es ihm zur Gewißheit, so geht er – als Künstler – zugrunde. Meist auch als Mensch. Darum sagte Verlaine so treffend zu seinem Arzt: »Sie glauben, ich sterbe an Ihrer dummen Krankheit? Dichter sterben an ihrer Kunst wie die kleinen Mädchen an einer unglücklichen Liebe.« Auch das Umgekehrte wird zuweilen Ereignis. So hätte Grieg nach menschlichem Ermessen und sachverständigem Urteil höchstens dreißig Jahre alt werden können. Daß er aller ärztlichen Erfahrung zum Trotz mehr als doppelt so alt wurde, verdankt er hauptsächlich seinem unbeirrbaren Glauben an sich und seine hohe künstlerische Mission. Zeitlebens hat der Tod hinter ihm gestanden und ihm seine knöchernen Finger in die Brust gekrallt, täglich, stündlich. Aber in diesem furchtbaren Kampf blieb der schwächere Grieg Sieger, solange er als Künstler noch etwas zu sagen hatte. Erst als er fühlte, daß er sich ausgeschrieben habe, gewann der Tod Gewalt über ihn und drückte ihm die Brust so heftig zusammen, daß die Rippen sich teilweise übereinanderschoben (Sektionsbefund). So grausam mordet die »weise« und »gütige« Mutter Natur ihre edelsten Geschöpfe; während die Menschenmütter ihre schwächlichsten Kinder besonders zärtlich lieben.

Wir müssen dieses Bild des unablässigen Ringens mit dem Tode immer vor Augen haben, wenn wir die weiteren Lebensschicksale des Tondichters verfolgen. Denn die bloße Kenntnis des äußeren Lebensganges genügt nicht zu irgendwelchem Verständnis. Warum wird Grieg von allen warmfühlenden Musikfreunden der ganzen Welt geliebt, während andere, größere Meister weniger bekannt sind und weniger nachhaltig gewirkt haben? Vielleicht spricht Griegs tragisches Schicksal hierbei mit, denn es hat seine Musik vertieft und veredelt; hätte er ein fröhliches, sorgenfreies Leben führen können, so wäre er wahrscheinlich nur ein achtbarer Salonkomponist geworden. Außerdem ist noch etwas anderes zu bedenken: Es gibt große Komponisten, die man mit großen Schauspielern vergleichen kann: Sie wissen alle Leiden und Freuden vollendet darzustellen; aber es sind doch nicht ihre eigenen Leiden, nicht ihre eigenen Freuden. Und das macht sich trotz ihrer hohen Kunst fühlbar.

Im Gegensatz zu dieser »darstellenden« Musik sind Griegs Kompositionen durchaus nicht mit großer Virtuosität »gestaltet«, ja, sie sind eigentlich überhaupt nicht »geschaffen«, sondern – »bloß« erlebt; – im Geiste empfangen und dann geboren. Daher die freundliche Geringschätzung mancher Fachgenossen. (Für den Schauspieler ist der Nichtschauspieler, wenn er jubelt oder in Schmerzen aufbrüllt, immer nur ein armer Dilettant. Er kanns besser.) Daher aber auch die starke Wirkung auf alle Menschen, die selbst tiefe Schmerzen und große Freuden empfunden haben: Sie fühlen, daß Griegs Musik »echt« ist. Und daß man unsagbar gelitten haben muß, um so eindringliche Musik zu machen wie dieser schlichte Meister. Ihr eigenes Erleben wird wieder wach, klingt mit, wenn sie seine Werke hören; und deshalb werden sie im tiefsten Innern ergriffen. Trotzdem im »Führer« oder in der Zeitung steht, Grieg habe nur die kleinen Formen beherrscht, sein Schaffen lasse eine kunstvolle Durcharbeitung des thematischen Materials vermissen, und somit zähle er überhaupt nicht zu den ganz Großen. Publikum und Kritik wollen selten das gleiche. Der Musikfreund sucht unbewußt in den Offenbarungen der Tondichter eine Verklärung seiner eigenen Freuden und Leiden, während den Fachmann das Menschliche weniger interessiert als das Artistische. (So verstehen sie sich oft nicht, und es gibt daher manches schätzenswerte Buch über Musik, das kein Mensch liest.)


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