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Der Aufstieg

In Kopenhagen

Es genügt nicht, zu wissen, wo man hinaus will; man muß auch wissen, wie man es anzufangen hat.

Abbé Galiani.

Die freien Künste und die so schöne Wissenschaft der Komposition dulden keine Handwerksfesseln. Frei muß das Gemüt und die Seele sein.

Haydn.

Als Grieg von seiner Rippenfellentzündung geheilt war, holte ihn seine Mutter in die Heimat, damit er hier wieder zu Kräften komme und im Kreise seiner Lieben neuen Lebensmut gewönne. Sie wollte ihn auch so bald nicht wieder ziehen lassen, suchte durch den Hausarzt zu erreichen, was ihr selbst nicht gelang, und tat überhaupt, was sie nur konnte; aber Grieg hatte daheim keine Ruhe, kehrte sechs Monate später nach Leipzig zurück und vollendete hier seine Studien. Dann weilte er abermals einige Zeit in Bergen, ruhte auf seinen Lorbeeren aus und widmete sich gesellschaftlichen Zerstreuungen; gab aber auch ein Konzert, in dem sein Konservatoriums-Quartett, seine Klavierstücke op. 1 und die vier Gesänge op. 2 aufgeführt wurden. Die Einnahmen dieses Konzerts verwandte er dazu, eine Anzahl Partituren zu kaufen, die er dann fleißig studierte. Im Frühjahr 1863 verlegte er seinen Wohnsitz nach Kopenhagen, und damit beginnt ein neuer Abschnitt in seinem Leben. –

Wer in der Schule Französisch oder Englisch gelernt hat und dann ins Leben hinaustritt, wird im Kreise von Franzosen oder Engländern gar bald merken, wie schlecht er sich mit ihnen verständigen kann; wie schief und unbeholfen er ausdrückt, was er denkt und empfindet. Ähnlich erging es dem jungen Grieg, als er das Leipziger Konservatorium verließ: Die Sprache der Musik mit derselben Leichtigkeit und Natürlichkeit zu gebrauchen wie seine Muttersprache, das hatte er nicht gelernt, ganz und gar nicht. Er sehnte sich danach, sein Empfinden in Tönen wiederzugeben; aber so sehr er sich auch mühte, es wurde nichts Rechtes. So suchte er denn Verkehr mit Musikern, die in ihren Werken ein sicheres musikalisches Sprachempfinden zeigten; die sich der Musik als Ausdrucksmittel bedienten, weil sie das, was sie zu sagen hatten, in keiner anderen Sprache klarer oder schöner hätten ausdrücken können. In Bergen waren solche Persönlichkeiten nicht zu finden, darum ging er nach der dänischen Hauptstadt, wo er dann im Verkehr mit Gade, Hartmann und anderen allgemach lernte, was ihn in Leipzig niemand gelehrt hatte.

Trotzdem fühlte er sich unbefriedigt und zweifelte oft an sich selber. Wie in einer Druckerei die Arbeiter aus Lettern Worte, aus Worten Sätze, Zeilen, Seiten und schließlich ganze Werke »komponieren«, d. i. zusammensetzen, so hatte er aus Tönen erst Harmonien und Melodien, dann ganze »Stücke« regelrecht zusammenzusetzen gelernt – nach Beispielen und fremden Vorbildern, so wie ja auch der Setzer seine Arbeit nach einer ihm fremden Druckvorlage macht. Ein Setzergehilfe ist aber noch lange kein Dichter, und einer, der auf dem Konservatorium »komponieren« gelernt hat, noch längst kein Tondichter, das erkannte Grieg gar bald.

Es war also nicht ausreichend, mit ebensolcher Leichtigkeit und Natürlichkeit musikalisch reden zu lernen, wie ein Engländer englisch redet, das konnten ja viele und hatten doch nicht wirklich Großes in der Musik erreicht. Es war außerdem noch zu erforschen und zu lernen: – wie man ein Tondichter wird. Das freilich erschloß dem heiß mit seinem Gotte Ringenden auch der Verkehr mit Gade und dessen Freunden nicht. Aber als er den jungen Norweger Rikard Nordraak kennenlernte, da fiel es (seinem eigenen Bekenntnis zufolge) wie Schuppen von seinen Augen, da fand er den Weg zu sich selbst, fand seinen Stil, sein Thema – und war über Nacht ein Dichter im Reiche der Töne geworden. Ähnlich erging es Richard Strauß, als er Alexander Ritter kennenlernte; ähnlich war es auch Richard Wagner ergangen, als er mit Berlioz und Liszt zusammentraf. Das ist ein schwer zu erklärendes psychologisches Rätsel. Man sollte eher meinen, daß sich des kleineren Geistes Licht am Feuer des größeren Genius entzünde, aber es ist gerade umgekehrt. Im Tempel Polyhymnias schweben, wie am Abend in einer katholischen Kathedrale, beständig Lichtlein durch die weiten Hallen, bis dann bald hier bald da durch ihre Berührung ein größeres Licht hell aufflammt. Die kleinen Lichtlein brennen immer und überall, oft hüpfen und tanzen sie in lustigem Zickzack durch den schweigenden Raum; währenddem harren die großen Lichtspender im Dunkel ihrer besonderen Kapellen, bis ihre Stunde gekommen ist. Niemand sieht sie, aber wenn dann ihr Licht zu leuchten beginnt, so nahen sich von allen Seiten die Schatten derer, die für Augenblicke die Last und Plage des Alltags zu vergessen suchen.

Daß sich das Genie des Künstlers am eigenen Feuer entzünde, daß es »von selbst« hervorbreche und seinen Weg sich bahne, wird immer wieder von denen behauptet, die nie große Begabungen haben verkümmern sehen. Wer seine Zeit wirklich miterlebt, wird anderer Meinung sein. Immer, wenn die »Geschichte« außerordentliche Begabungen brauchte, waren sie da. Überall, wo sich Helden zeigten, waren Dichter, die sie besangen. Nicht jedes Genie fand hohe Aufgaben, jede große Aufgabe aber einen genialen Mann, der sie löste. Der Weltkrieg hob einen Hindenburg empor, aber kein Hindenburg könnte je einen Weltkrieg entfesseln. Als ob jemals große Ereignisse darauf gewartet hätten, daß bedeutende Menschen entstünden, die mit ihnen fertig würden! Als ob nicht das Material für die Zwecke des Weltgeschehens stets überreich vorhanden wäre! Jedes Jahr, jeden Tag werden Talente, ja Genies geboren, keine Zeit ist arm an großen Geistern; aber die meisten von ihnen wandeln unter uns wie Harun Al Raschid zur Nacht unter seinem Volk: unerkannt. Sie leben und sterben wie wir alle, und kommen nicht einmal ins Konversationslexikon. Warum nicht? Weil niemand Großes schaffen kann, solange nicht durch geistige Befruchtung große Gedanken in ihm wach werden, und solange nicht das Zufallsgeschenk einer großen Aufgabe ihm in den Schoß fällt. Ohne Zeugung gebiert auch der Geist nichts Lebendiges. So müssen wir uns mit dem Bewußtsein abfinden daß es zu allen Zeiten außergewöhnliche Menschen – und unter ihnen auch große Tondichter – gegeben hat, von denen niemand etwas weiß. Kaum einer unter uns würde den Tondichter Grieg kennen, wenn nicht die Ideen seines Freundes Nordraak befruchtend auf ihn gewirkt hätten. Ohne diese zufällige Freundschaft (andere werden von »Fügung« sprechen) wäre Grieg nicht Grieg geworden, würde die Menschheit achtlos an der kleinen Seitenkapelle Griegs vorübergegangen sein; denn sein Licht hätte dann nicht geleuchtet.

Rein menschlich betrachtet war die Freundschaft zwischen Grieg und Nordraak gewiß nichts Außergewöhnliches. Auch große Menschen haben vorwiegend kleine, an und für sich unbedeutende Erlebnisse. Nur wenn wir hinter diesen Alltagserlebnissen die tieferen, allgemein-menschlichen Zusammenhänge suchen, hat es Sinn und Zweck, ihnen nachzuspüren. Bei solcher inneren Einstellung aber gewinnen scheinbar unwichtige Dinge oft eine höhere Bedeutung. Das dürfen wir nicht übersehen, wenn wir uns bei oberflächlicher Betrachtung sagen müssen, daß Grieg mit vielen »interessanten« und hervorragenden Persönlichkeiten in Berührung gekommen ist, denen gegenüber der junge Nordraak sehr unbedeutend erscheint. Das ist gewiß zutreffend. Aber keiner von all den großen Männern hat auf Griegs Leben und Schaffen einen so tiefen und nachhaltigen Einfluß gewonnen wie eben dieser junge nordische Künstler. Und das ist hier wichtiger als der Eigenwert des einen oder andern.

Als Grieg mit Gade in Klampenborg bei Kopenhagen zum ersten Mal zusammentraf, fragte der dänische Meister nach größeren Werken seines jungen Kollegen. Der hatte jedoch nicht viel aufzuweisen. (»Wir Norweger«, sagt er selbst, »pflegen uns sehr langsam zu entwickeln; vor dem achtzehnten Lebensjahre zeigt einer selten, was an ihm ist.«) Er ging aber gern auf die Anregung Gades ein, es mal mit einer Symphonie zu versuchen. In vierzehn Tagen war der erste Satz fertig, und da Gade es an Aufmunterung nicht fehlen ließ, entstand bald darauf auch der zweite und der dritte Satz. Das Ganze ist einmal im Tivoli, dem bekannten Kopenhagener Vergnügungspark, aufgeführt worden. Die beiden letzten Sätze hat Nordraak in den später erwähnten Konzerten des Vereins »Euterpe« wiederholt dirigiert. Grieg bearbeitete sie ein paar Jahre danach für Klavier zu vier Händen und gab sie als op. 14 unter dem Titel »Symphonische Stücke« heraus.

Im Tivoli war es auch, wo Grieg den jungen Nordraak zum ersten Male sah. Die Begrüßungsworte des neuen Freundes sollen gewesen sein: »So dürfen denn endlich wir beiden großen Männer uns begegnen.« Wenn man bedenkt, daß Nordraak und Grieg damals etwa zwanzig Jahre alt waren, so erscheinen die stolzen Worte ein wenig komisch. Aber man sollte nicht vergessen, daß fast jeder junge Komponist sich in diesem gesegneten Alter ein zweiter Beethoven oder Wagner dünkt. Und manch einer hat ja auch mit jungen Jahren schon wirklich Großes geleistet, so z. B. Mendelssohn, der als Siebzehnjähriger die Ouvertüre zum »Sommernachtstraum« schrieb. An Nordraaks kraftvoller, feuriger Künstlernatur, an seinem kühnen Wollen und seiner unbedingten Siegeszuversicht richtete sich der schüchterne, kränkelnde und oft mutlose Grieg wieder auf. Beide waren begeisterte Naturfreunde und glühende Patrioten. Nichts Schöneres gab es für sie als die nordischen Berge und die alten nordischen Sagen; gemeinsam studierten sie die norwegische Geschichte, gemeinsam verschworen sie sich dabei gegen die dänische Vorherrschaft in allen Zweigen der Kunst, Wissenschaft und Politik. Auch gegen Gade, dessen »Skandinavismus« ihnen verweichlicht, durch Mendelssohn zu sehr beeinflußt und ihrer kräftigeren norwegischen Art wesensfremd erschien. Leider kannten sie nicht genug gleichaltrige und gleichgesinnte Norweger, um eine Verwirklichung ihrer Ideale versuchen zu können. So gründeten sie denn mit zwei Dänen, dem Bühnenkomponisten E. C. Horneman und dem Organisten J. G. Matthison-Hansen den Verein »Euterpe«, der wenigstens einen Teil ihrer Bestrebungen in die Praxis umsetzen sollte. Sein Hauptzweck war die Veranstaltung von Konzerten mit ausschließlich nordischen Werken. Zu ihrem Kreise gehörte u. a. auch der Bühnensänger Julius Steenberg, der so viel für die Verbreitung der Griegschen Lieder getan hat, und ein wohlhabender älterer Kunstfreund namens Benjamin Feddersen. Dieser stellte dem jungen Grieg ein zwischen Wald und Meer gelegenes Sommerhäuschen zur Verfügung, in dem binnen kurzer Zeit zwei größere Werke entstanden: die Klaviersonate in e, die trotz der bereits vollzogenen inneren Trennung dem Altmeister Gade zugeeignet ist, und die Violinsonate in F. »Ich hatte mich selbst gefunden,« schreibt Grieg, »und mit der größten Leichtigkeit überwand ich alle Schwierigkeiten, die mir in Leipzig unübersteigbar erschienen waren. Mit befreiter Phantasie komponierte ich ein Werk nach dem andern.« Dem Freunde Nordraak widmete er seine Humoresken op. 6, und dieser äußerte sich über das Werk mit größter Wärme, freilich auch mit der ihm eigenen Bescheidenheit: »Es ist ja, als hätte ich sie selbst geschrieben.« Daß Nordraak immer wieder auf die ungehobenen Schätze hinwies, die in den nordischen Volksliedern und -tänzen ruhten, wurde für das gesamte Schaffen Griegs von größter Bedeutung. Damit soll natürlich nicht gesagt werden, daß Grieg dem Volke seine Lieder und Tänze einfach weggenommen habe, daß seine Werke also in tieferem Sinne garnicht Originalschöpfungen, sondern nur Bearbeitungen seien. Das ist keineswegs der Fall. Wohl aber hat Grieg seine Melodien in nordischer Art gestaltet, hat sie dem nordischen Volkscharakter angepaßt, und daher sind sie so geworden (um Nordraaks Worte zu variieren), »als hätte das nordische Volk sie selbst erfunden«. In seiner Harmonik entfernt sich Grieg allerdings ziemlich weit vom Empfinden seiner Landsleute; daher haben seine harmonisch oft sehr kühnen Werke in Norwegen durchaus nicht so leicht und schnell Eingang gefunden, wie etwa in Deutschland, das durch Wagner bereits an reichste Chromatik gewöhnt war.

Da Nordraak von der musikalischen Technik nur sehr wenig verstand, so konnte er begreiflicherweise auf die Gestaltung der Griegschen Kompositionstechnik keinen Einfluß gewinnen, sondern nur auf die Richtung des Schaffens seines gleichgesinnten Freundes. So wußte er z. B. Grieg davon zu überzeugen, daß es zur Schaffung einer nordischen Kunst notwendig sei, bei der Wahl des Stoffgebiets die nationalen Grenzen unter allen Umständen zu wahren. Grieg erkannte, daß er dabei zugleich seine persönliche Eigenart am besten zum Ausdruck bringen könne, und hat sich von dem einmal beschrittenen Wege nicht mehr abbringen lassen. So sehen wir ihn denn immer wieder die norwegische Natur, die norwegischen Hirten und Bauern schildern; auch die nordischen Fabelwesen hat er nicht vergessen. All die so entstandenen Charakterstücke sind im übrigen so vortrefflich gelungen, daß man wirklich sagen kann, hier habe sich in der Beschränkung der Meister gezeigt. Man vergleiche die italienischen, spanischen und nordischen Symphonien und Suiten der Franzosen und Engländer: kein einziges Werk von dauerndem Werte befindet sich darunter. Denn nur das Echte bleibt, nicht das Nach- und Anempfundene. Die bis zur Unerträglichkeit wiederholte Phrase, daß Grieg noch größer geworden wäre, wenn er »nicht bloß nordische Musik« geschrieben hätte, ist ebenso unsinnig, wie es die analoge Behauptung wäre, daß Wagner kein ganz großer Meister geworden sei, weil er außer seinen deutschen Musikdramen nicht auch französische Spielopern geschaffen habe. Der deutsche Wagner und der nordische Grieg werden in aller Welt verstanden und geliebt; ein internationaler Wagner und ein Allerwelts-Grieg hätten ihren Ruhm durch Verleugnung ihrer Art schwerlich erhöht. Nordraaks Einfluß auf Grieg ist also überaus segensreich gewesen, und es bleibt nur zu beklagen, daß der Tod die beiden so bald trennte. 1866 starb der junge Feuerkopf, kaum vierundzwanzigjährig, in Berlin. Den tiefen Schmerz Griegs über den Verlust seines Freundes offenbart der zum Andenken an ihn komponierte Trauermarsch.

In Christiania

Das Glück ist keine leichte Angelegenheit. Es ist sehr schwer, das Glück in uns, und unmöglich, es anderswo zu finden.

Chamfort.

Wie sich aus unbehau'nem rohen Stein,
Je mehr der Marmor unterm Meißel schwindet,
Anwachsend immer voll'res Leben findet,
So soll das eigne Los des Meisters sein.
Zu matt und kraftlos fühlt er sich allein,
Er harrt der Kraft, die ihm sein Kunstwerk ründet;
Nehmt weg, was sich um seine Seele windet,
Daß sich aus ihr die Schönheit mag befrei'n.

Michelangelo.

Griegs etwa dreijähriger Aufenthalt in Kopenhagen wurde mehrmals von Reisen unterbrochen. 1864 weilte der junge Künstler wieder einmal in Bergen, wo er mit seinem Entdecker Ole Bull Freundschaft schloß. Beide unternahmen tagsüber Ausflüge in die Berge, und an den Abenden musizierten sie gemeinsam. »Siehst du«, erklärte Ole Bull einst, »die Berge da, die Seen und Flüsse, die Täler und Haine, und der blaue Himmel darüber, die haben meine Musik gemacht, nicht ich. So ist mir auch oft beim Spielen, als ob ich nur mechanische Bewegungen ausführe und ein stummer Zuhörer sei, während die Seele Norwegens in meiner Seele singt.« Ein andermal sagte er: »Wenn die Blumenglocken auf der Wiese sich im Winde bewegen, dann höre ich sie klingen, und die Gräser machen eine leise Begleitung dazu, wie ein Streichorchester mit Sordinen.« Nur ein geborener Tondichter kann so sprechen, so empfinden, und doch hat Ole Bull nichts von tieferer Bedeutung geschaffen. Wenn Lessing das kühne Wort wagen durfte, Raffael würde das größte malerische Genie gewesen sein, auch wenn er unglücklicherweise ohne Hände geboren wäre, so könnte man vielleicht auch sagen: Ole Bull ist ein großer Komponist gewesen, trotzdem er nur mittelmäßige Sachen komponiert hat. Die künstlerische Potenz eines Musikers, dessen Werke wenig Bedeutung haben, kann zweifellos ebenso stark sein, wie die physische Potenz eines Mannes, der garkeine oder nur schwächliche Kinder in die Welt gesetzt hat. Wäre dem nicht so, dann müßten wir ja letzten Endes auch aus der Minderwertigkeit der Menschen Rückschläge auf ihren Schöpfer ziehen, die wenig erbaulich wären.

Im Winter 1865/66 machte Grieg seine erste Romreise. Nach der Rückkehr blieb er noch einige Zeit in Kopenhagen, konnte hier jedoch nicht mehr recht warm werden. Er hatte eine Orchester-Ouvertüre »Im Herbst« (op. 11) mitgebracht, die er Gade vorlegte; der aber schüttelte den Kopf und meinte, das sei nichts Rechtes. Grieg hat sie später vierhändig bearbeitet und sich mit ihr in Stockholm erfolgreich um einen Preis beworben. Unter den Preisrichtern befand sich zufällig auch Gade, der also seine Meinung inzwischen wohl geändert hatte. Die Beziehungen Griegs zu seinen dänischen Freunden lockerten sich bald immer mehr; außerdem war seine Sehnsucht nach der nordischen Heimat seit dem Tode Nordraaks immer stärker geworden; so beschloß er denn, Kopenhagen zu verlassen und in Christiania sein Glück zu versuchen.

Er mußte nun auch daran denken, seine Einnahmen zu vergrößern, da er sich inzwischen mit seiner (um zwei Jahre jüngeren) Base Nina Hagerup verlobt hatte und möglichst bald heiraten wollte. Die Eltern Ninas waren vor vielen Jahren von Bergen nach Kopenhagen übergesiedelt und hatten ihrer stimmbegabten Tochter hier eine gute musikalische Ausbildung geben lassen. Natürlich sang Nina die Lieder ihres Vetters mit Begeisterung und schwärmte insgeheim für ihn; auch Edvard hatte schnell Zuneigung zu dem hübschen Mädchen gefaßt. Trotzdem wagte er sich aber nicht sogleich mit einer Erklärung heraus; denn Ninas Mutter hatte die Dinge kommen sehen und ziemlich unumwunden zu verstehen gegeben, daß sie über eine Verbindung ihrer Tochter mit dem jungen Musikus keineswegs erfreut sein würde. »Er ist nichts, hat nichts und macht eine Musik, die niemand hören will.« Grieg konnte ihr nicht so ganz unrecht geben (von den ersten gedruckten Liedern waren nur zwei Exemplare verkauft worden), aber er stellte sich dann doch eines Tages mit einem neuen Liede ein, das die Überschrift trug: »Ich liebe Dich«, und die von der Mutter seit langem befürchtete Katastrophe war nun nicht mehr abzuwenden. Freund Steenberg suchte die jammernde Frau in ihrem Schmerze zu trösten: »Seien Sie nur ruhig, er wird weltberühmt werden.« Aber sie, die ehemals gefeierte Schauspielerin, ließ sich nichts vorreden von Künstlerruhm und dergleichen. Sie war in erster Ehe mit dem Schauspieldirektor Werligh verheiratet gewesen, hatte nach dessen Tode selbst die Leitung der herumreisenden Truppe übernommen und … wußte bescheid. Ein Künstler, ach du lieber Gott, und nun gar ein unbemittelter, der sollte der Gatte ihrer Tochter werden … nein, das war nicht auszudenken. Das arme, arme Kind! Auch der Vater Ninas schien wenig erfreut; Vetter und Base, das konnte nichts Gutes geben, außerdem … und überhaupt … Doch die jungen Leute waren garnicht zur Vernunft zu bringen und wollten durchaus nicht von einander lassen. So blieb nichts anderes übrig, als schweren Herzens Ja und Amen zu sagen. Aber erst sollte sich der Habenichts eine Stellung schaffen; dann, in Gottes Namen, mochten sich die beiden heiraten.

Grieg gedachte seines ersten Konzerts in Bergen und versuchte nun in Christiania sein Glück nochmals auf dieselbe Weise. Es war ihm diesmal jedoch nicht nur um einen materiellen Erfolg zu tun; vor allem wollte er sich als Pianist und Komponist einführen, damit er dann eine Reihe zahlungsfähiger Schüler bekäme. Um seinem Konzert größere Anziehungskraft zu geben, engagierte er Frau Norman-Neruda (die spätere Lady Hallé), die mit ihm seine erste Violinsonate (op. 8) spielte. Er selbst trug seine Klaviersonate (op. 7) vor, und seine Braut sang Lieder von ihm wie von Nordraak und dem in Christiania sehr angesehenen Komponisten Halfdan Kjerulf. Auch die nötige Reklame durch die Tagespresse besorgte er und veranlaßte, daß im »Morgenbladet« ein Artikel über »die norwegische Musik und einige Werke von Edvard Grieg« erschien. So war alles gut vorbereitet, nichts übersehen, und der Erfolg blieb denn auch nicht aus. Publikum und Presse waren begeistert, die Einnahmen übertrafen alle Erwartungen, Schüler strömten von allen Seiten herbei, und dann kam noch eine besondere Überraschung: die Philharmonische Gesellschaft wählte ihn zum Dirigenten. Nun mußten die bösen Schwiegereltern nachgeben, was sie auch zögernd taten, und am 11. Juni 1867 fand die Hochzeit statt. Sie verlief überaus still und trübselig. Ein Jahr später kam ein Töchterchen zur Welt, das im Alter von dreizehn Monaten starb. Der Schwiegervater seufzte: »Ich hab' mirs ja gleich gedacht.« Seine übrigen Befürchtungen erfüllten sich jedoch nicht; Grieg wurde, wie es Steenberg vorausgesagt hatte, ein berühmter Künstler, und seine späteren Einnahmen ermöglichten es ihm, den Schwiegereltern einen sorgenfreien Lebensabend zu verschaffen. Madame Werligh söhnte sich jedoch erst nach langer Zeit mit ihrem Schwiegersohn aus. Sie starb einige Tage nach dessen Tode im Alter von zweiundneunzig Jahren. –

Die Musikverhältnisse in Christiania waren zu Griegs Zeiten ähnlich, wie sie noch jetzt in mittleren deutschen Städten sind. Außer zahllosen Lokalgrößen gab es ein mittelmäßiges Orchester und einen bunt zusammengewürfelten Gesangverein. Wer je einen solchen Dilettantenchor geleitet hat, wird Griegs Dirigentenfreuden lebhaft nachempfinden. Zank, Streit und Klatsch waren an der Tagesordnung, die Damen schwänzten die Proben, aber zum Konzert erschienen sie vollzählig und wollten alle vorn stehen, jeder Mitwirkende war auf jeden andern eifersüchtig, die Mütter beschwerten sich über Zurücksetzungen ihrer Töchter, das gesellschaftliche Drum und Dran erschien vielen erheblich wichtiger als die Musik, bei der sie mitwirken sollten, alle hatten sich immer unendlich viel zu erzählen, – und mitten in dem wirren Durcheinander stand dann eines Tages der kleine, schüchterne Grieg, schier machtlos mit seiner sanften, schwachen Stimme. Das war eine vortreffliche Schule für ihn. Hier lernte er sich durchsetzen, seinen Willen den andern aufzwingen, tausend auseinanderstrebende Kräfte bändigen und einer gemeinsamen Aufgabe dienstbar machen. Vielleicht wäre dies über seine Kraft gewesen, wenn nicht sein feuriges Künstlerblut schließlich doch immer die träge Masse mitgerissen und alle Widerstände sieghaft überwunden hätte. Manch gute Aufführung kam dabei zustande, und außer nordischen Werken wurden auch Schöpfungen deutscher Meister unter einhelliger Begeisterung der Teilnehmer aufgeführt, so Schumanns Paradies und Peri, Mendelssohns Elias, Mozarts Requiem, Szenen aus dem Lohengrin und selbst Liszts ungemein schwieriger Tasso. Nebenher veranstaltete Grieg mit seiner Gattin auch einige Klavier- und Liederabende. In seinen Bestrebungen, auf das Publikum erzieherisch zu wirken und für die Musiker würdige soziale Verhältnisse zu schaffen, wurde er durch seinen Freund Kjerulf tatkräftig unterstützt. Aber auch diesmal trat der Tod gar bald zwischen die Freunde. Die anderen namhaften Musiker Christianias, die zum Teil durch die Erfolge ihres jungen Kollegen verärgert waren, hielten sich abseits, und Grieg dachte natürlich nicht daran, ihnen nachzulaufen. Manchmal, wenn sie ihm das Leben in gar zu gehässiger Weise zu erschweren suchten, klagte er dem Dichter Welhaven sein Leid; in der Regel aber schluckte er allen Ärger stumm hinunter. Es erging ihm wie den meisten Künstlern: Schwere Schicksalsschläge überwand er verhältnismäßig leicht, aber den kleinen Widerwärtigkeiten des Alltags gegenüber war er hilflos wie ein Kind. Sie raubten ihm oft alle Freude an seiner Arbeit, ja am Leben überhaupt, machten ihn mißtrauisch und ungerecht gegen die ihm Nahestehenden und ließen ihn oftmals so launisch und reizbar erscheinen, daß er schließlich allgemein für schwer nervenkrank gehalten wurde. Bei einem Menschen mit geringen inneren Hemmungen wäre es leicht zu häßlichen Konflikten mit der nächsten Umgebung gekommen (Richard Wagners Leben bietet unzählige Beispiele hierfür); der feinfühlige Grieg dagegen wurde mit der Zeit nur schweigsam und ungesellig, laute Szenen hat es nie gegeben.

Die unsinnige Meinung, alle Künstler seien krankhaft nervös, ja eigentlich sogar ein bißchen »überkandidelt«, kommt wohl daher, daß man von ihnen die geringe Eindrucksfähigkeit des Durchschnittsmenschen erwartet und daher sehr erstaunt ist, wenn sie auf tausend kleine Reize reagieren (und zwar oft sehr heftig), die der »Normalmensch« überhaupt nicht empfindet. Man bedenke, daß beispielsweise billige Uhren unverwüstlich zu sein pflegen, während die feinsten Uhrwerke zugleich auch die empfindlichsten sind. Bei den Menschen ist es nicht anders. (Daher werden so viele Musiker im Alter taub.) Die erhöhte Reizbarkeit eines Künstlers sollte somit nicht für krankhaft angesehen, sondern als eine natürliche Begleiterscheinung seiner produktiven Fähigkeiten verstanden werden. Daß einer unzählige Dinge hört, sieht und auf sich wirken läßt, von denen der gewöhnliche Mensch überhaupt nichts weiß, das macht ihn ja gerade zum Künstler. Und darum ist außerordentliche Eindrucksfähigkeit und Empfindlichkeit der seelischen (wie der körperlichen) Organe für den künstlerisch Schaffenden genau so »normal« wie für den Philister seine Stumpfheit. Gewiß gibt es exzentrische und verschobene Künstlernaturen; zu denen gehörte Grieg aber durchaus nicht. Man braucht bloß irgendeinen Band seiner Werke zur Hand zu nehmen, um zu erkennen, wie schlicht, gesund und natürlich das Fühlen und Denken dieses Künstlers war.

Eine längere Unterbrechung fand Griegs Wirken in Christiania durch seine zweite Romreise, die er im Herbst 1869 antrat; von ihr wird im nächsten Kapitel zu sprechen sein. Im Sommer 1870 kehrte er nach der norwegischen Hauptstadt zurück, aber es dauerte einige Zeit, bis er sich wieder eingelebt hatte. 1871 gründete er eine musikalische Gesellschaft, deren Konzerte er zunächst allein, später abwechselnd mit Johan Svendsen leitete. Dieser Künstler (im Gegensatz zu Grieg ein großer, breitschultriger, starkbeleibter Mann) hatte auch in Leipzig Musik studiert, war dann viel in der Welt herumgereist und erst 1872 zu dem Entschluß gekommen, sich in Christiania anzusiedeln. Hier hatte er bereits fünf Jahre vorher ein Konzert gegeben und mit seinen symphonischen Kompositionen Griegs aufrichtige Bewunderung erregt. Diese neidlose Anerkennung fremder Leistung ist bei Grieg stets etwas ganz Natürliches gewesen; wer deutsche Musikverhältnisse kennt, wird sie als etwas außerordentlich Seltenes einschätzen. Vielleicht haben wir Deutsche überhaupt nur einen einzigen Komponisten gehabt, der so offen und warmherzig wie Grieg fremde Verdienste würdigte und so selbstlos wie er anderen Komponisten seine Hilfe lieh: Franz Liszt. Nach dem Konzert Svendsens veröffentlichte Grieg im »Aftenbladet« einen anonymen Artikel, in dem er dem Konzertgeber viel Rühmliches, dem Publikum aber manche unangenehme Wahrheit sagt. Zunächst erwähnt er, daß Svendsen sich infolge des geringen Interesses seiner Landsleute und des schwachen finanziellen Erfolges genötigt gesehen habe, der Stadt schleunigst wieder den Rücken zu kehren. Dann heißt es weiter: »Es ist ein trauriger Gedanke, den man aber aussprechen muß, daß, wenn unser Publikum es so weiter treibt, in nicht ferner Zeit norwegische Tonkunst in der Heimat nur eine leere Phrase sein wird, während sie im Ausland, besonders in Deutschland, die verdiente Anerkennung findet.« Als Svendsen dann nach Jahren wiederkam, fand er in Grieg einen gleichgesinnten, treuen Kameraden, und beide taten das Mögliche, um Christianias Bedeutung als Musikstadt zu heben und die Teilnahme des Publikums an ihrer Kunst zu mehren. Der Erfolg entsprach aber nicht ihren Erwartungen. Grieg widmete sich deshalb vom Jahre 1873 ab wieder mehr seinem Schaffen, ohne sich dauernd an einen Ort zu binden. Er machte zahlreiche Reisen nach dem Ausland, nach seiner Heimatstadt, und nach Lofthus in Hardanger, wo er sich ein kleines Bretterhäuschen zum Arbeiten hatte bauen lassen. Zwischendurch ist er noch oft nach Christiania zurückgekehrt. Seiner Gesundheit war das rauhe, kalte Klima hier nicht zuträglich; auch das trug wohl dazu bei, ihm die Stadt allmählich zu verleiden. –

Die Jahre in Christiania sind für Griegs innere Entwicklung entscheidend gewesen. Er hat hier nicht nur durch Privatstudium und praktische Betätigung manche Lücke in seiner Ausbildung ausgefüllt, er hat auch gelernt, sich mit seinem Schicksal abzufinden, sich den zeitlichen und örtlichen Verhältnissen anzupassen und sich als Mensch wie als Künstler allen Hindernissen und Widerwärtigkeiten zum Trotz zu behaupten. Von den Kompositionen, die in Christiania entstanden, seien erwähnt: die ersten »Lyrischen Stücke«, die zweite (Svendsen gewidmete) Geigensonate, die Bilder aus dem Volksleben mit den dazu gehörenden Tänzen und Gesängen, das Fragment »Olav Trygvason« (das später als op. 50 veröffentlicht wurde) und die Björnson-Lieder.


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