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Die Jugendjahre

Die Kinderzeit im Elternhaus

Jeder hat von Geburt an einen unvertilgbaren Charakter; Erziehung kann Kenntnisse verschaffen und eine Scheu vor Fehlern einflößen, aber nicht die Natur ändern. Der Grund bleibt, und jeder trägt den Urstoff seiner Handlungen in sich.

Friedrich der Große.

Es steht fest, daß keine geistige Begabung sich früher zeigt und entwickelt als die musikalische.

F. Hiller.

Die Stadt, in der Grieg seine Jugend verlebte, ist mit ihren 80 000 Einwohnern die zweitgrößte des norwegischen Königreichs (dessen Gesamtbevölkerung im heutigen Großberlin bequem zweimal Platz fände). Zu der Zeit, da Edvard geboren wurde, machte das malerisch gelegene Bergen mit seinen vielen kleinen Holzhäusern noch den Eindruck eines großen Fischerdorfes. Inzwischen ist es nach zahlreichen Bränden eine moderne Großstadt geworden, mit fünf Kirchen, vielen Fachschulen, einer reichen Bibliothek, mehreren Museen und einer Sternwarte nebst nautischem Observatorium. Da die Fischer der nördlichen Küste ihre ungeheueren Warenmengen hier abliefern, ist der Ort stets eine Handelsstadt von größter Bedeutung gewesen und hat daher auch von jeher eine international gemischte Bevölkerung beherbergt. Das Klima gilt als sehr milde und gleichmäßig. Trotzdem Bergen zwischen denselben geographischen Breitengraden liegt wie die kälteste Gegend Sibiriens, ist doch infolge von günstigen Luft- und Meeresströmungen der Winter hier wärmer und der Sommer etwas kühler als etwa in Berlin oder Wien. Unangenehm sind die häufigen Niederschläge und die heftigen Winde, die dem Reisenden einen längeren Aufenthalt leicht verleiden. Nun bringt es ja der Zufall oder die Phantasie der Biographen zuwege, daß die meisten Künstler in besonders poetischen Ortschaften geboren werden, aber es läßt sich doch nicht leugnen, daß eine Stadt wie Bergen, in der man selten ohne Regenschirm ausgehen kann und deren Straßen fast beständig von Lärm und Trangeruch erfüllt sind, kein Dorado für empfindsame Künstlernaturen ist. So traf es sich günstig, daß Griegs Eltern nur während der ersten Lebensjahre Edvards in der Stadt wohnten; später zogen sie nach dem etwa eine Stunde vom Zentrum Bergens entfernt liegenden Landaas, einer hübschen Villa am Fuße des höchsten Berges der Umgebung. Damit war freilich ein großer Nachteil verbunden: der kleine Grieg hatte nun einen sehr weiten Weg zur Schule. Anfangs besuchte er eine Elementaranstalt, in der Knaben und Mädchen zusammen unterrichtet wurden; dann kam er in eines jener Drillinstitute, die jedem begabten Kinde ein Greuel sind. In einem hübschen Aufsatz für eine Musikzeitung (»Mein erster Erfolg«) hat Grieg offen bekannt, daß ihm »das Schulleben im höchsten Grade unsympathisch war; seine Rauheit, seine Kälte, sein Materialismus – alles das war für meine Natur so abschreckend, daß ich an die unglaublichsten Mittel dachte, mich davon loszumachen, wenn auch nur für kurze Zeit«. Gar so schlimm stand es nun um diese Mittel wohl nicht. Zunächst machte sich der kleine Grieg die Vorschrift zunutze, daß zu spät kommende Schüler erst nach Beendigung der Stunde das Klassenzimmer betreten durften; der weite Weg diente ihm dabei zur Entschuldigung, und die Hausarbeit für die erste Morgenstunde wurde auf diese Weise oft gespart. Aber das genügte nicht. Bald kam ein neuer, schon etwas bedenklicher Einfall: der kleine Bub marschierte im dicksten Regen beharrlich mit zusammengeklapptem Schirm und stellte sich obendrein noch so lange unter Dachtraufen, bis er pudelnaß war. Der Lehrer schickte ihn schleunigst zum Wechseln der Kleider nach Hause, und da der Weg so weit war, hatte Edvard einen ganzen Vormittag »gerettet«. Dieses herrliche Mittel wurde ihm so zur Gewohnheit, daß er einmal ganz naß in der Schule ankam, als es so gut wie garnicht geregnet hatte. Die Folgen dieser Unklugheit verspürte er alsbald am unteren Ende seines Rückens, worauf er beschämt nach Hause schlich (und über ein neues Mittel nachdachte). Natürlich war er infolge des langen Umherlaufens mit durchnäßten Kleidern oft heftig erkältet; daß nach diesen Erkältungen eine allgemeine Schwäche zurückblieb, und daß sich ohne besonderen Grund oft ein leichtes Hüsteln einstellte, wurde nicht weiter beachtet; doch waren dies die ersten Anzeichen einer schleichenden Krankheit, die dann später während seiner Leipziger Studienjahre zu heftigem Ausbruch kam.

»Ich habe noch heute nicht den geringsten Zweifel,« schreibt Grieg in dem erwähnten Aufsatz, »daß jene Schule nur das entwickelte, was schlecht in mir war, und das Gute unberührt ließ.« Mit dem Guten meinte er wohl zunächst seine musikalischen Gaben. Im Alter von zwölf oder dreizehn Jahren brachte er einmal ein Notenheft mit in die Schule, um es seinen Kameraden zu zeigen. Auf der ersten Seite stand mit großen Lettern: »Variationen über eine deutsche Melodie für das Klavier, von Edvard Grieg, Opus I.« (Alle Jugendversuche wurden später vernichtet.) Der Lehrer entdeckte das Heft, nahm es an sich, blätterte es durch und zeigte es einem Kollegen aus der benachbarten Klasse. Edvard erwartete mit Herzklopfen ein Lob, aber es kam anders: Der gestrenge Magister packte ihn bei den Haaren, zankte ihn heftig aus und verhöhnte ihn obendrein. Das hat der kleine Komponist sein Leben lang nicht vergessen. Aber ein Trost blühte ihm doch: Gegenüber der Schule wohnte ein junger Leutnant, der ein leidenschaftlicher Musikliebhaber und ein guter Klavierspieler war. Zu dem nahm er seine Zuflucht; er brachte ihm regelmäßig seine Kompositionsversuche und hörte manches anerkennende, manches aufmunternde Wort. Wenn doch alle Lehrer, alle Eltern wüßten, wie zart und empfindlich so ein kleines Künstlerherz ist, wie heilig ihm die ersten selbstgeschriebenen Noten sind! Ein paar gute Worte, ein bißchen Gewährenlassen und Teilnehmen genügen immer, um es überglücklich zu machen und alle schlummernden Fähigkeiten zu wecken. Wohl mancher kleine Grieg ist durch Spott und harte Worte auf die falsche Bahn getrieben worden. Nicht nur das Erwachen der körperlichen, auch das der geistigen Schöpferkraft sollte behutsam umsorgt werden, damit die Kindesseele keinen dauernden Schaden erleide.

Die kleinen Einzelheiten, die Grieg sonst noch aus seiner Schulzeit erzählt (er habe einmal Kalbsbraten mit »beef of veal« übersetzt, aus einem »gemeinen Hollunder« einen »gemeinen Holländer« gemacht u. dgl.) sind kaum erwähnenswert. Nur einmal zeichnete er sich aus: als zufällig das Wort »Requiem« vorkam und der Herr Lehrer fragte, wer einen Verfasser eines Requiems kenne. Grieg war der einzige, der sich meldete, und der Name lautete: Mozart. Daß er im Singen gute Zensuren bekam, versteht sich. Im Rechnen wie in den Sprachen ging es schlecht, und in den übrigen Fächern auch nicht gut. Mit seinen Schulkameraden hatte er wenig Umgang; manche mieden und verhöhnten ihn, manche mied und verachtete er; den meisten ging er außerhalb der Schule gern aus dem Wege. Man kann sich nicht ohne wehmütiges Mitgefühl den kleinen, schwächlichen Edvard mit den großen blauen Augen und blonden Locken vorstellen, der sich so fremd unter seinen Altersgenossen, so verachtet von seinen Lehrern, so einsam in seinen kleinen Freuden und großen Leiden fühlte. Eine gewisse Scheu vor der Außenwelt, ein Mangel an Selbstvertrauen ist ihm wohl aus jener Zeit zurückgeblieben. Bei manchen seiner Kompositionen meint man, er könne mit noch freierem Atem singen, noch eindringlicher reden, er wage sich nur nicht recht aus sich heraus und musiziere darum wie für sich selbst, – immer voller Angst, daß er zu viel sage oder jemandem lästig werde.

Die Stunden, die Edvard zu Hause träumen und spielen konnte, söhnten ihn immer wieder mit seinem Schicksal aus und ließen ihn alle unangenehmen Schulerlebnisse vergessen. Den Weg zum Klavier fand er, wie jedes musikalisch veranlagte Kind, ganz von selbst. Aber während deutsche Kinder damit beginnen, eine leichte Melodie mit einem Fingerchen zu tippen, war es bei dem kleinen Norweger anders. Nicht eine Melodie wiederzugeben, sondern eine Harmonie zu entdecken, lockte ihn. »Erst eine Terz, dann ein Akkord von drei Noten; dann ein voller Akkord mit vier; endlich und schließlich, mit beiden Händen – o Freude! eine Kombination von fünf, den Nonenakkord! Als ich das herausgefunden hatte, da kannte meine Glückseligkeit keine Grenzen.« Das ist überaus merkwürdig, zumal Kinder in der Regel nur die Dreiklänge »schön« finden, während sie sich an Septimen- und Nonenakkorde erst bei größerer Reife allmählich gewöhnen. Um von diesen Akkordgebilden rein klanglich einen angenehmen, wohltuenden Eindruck zu haben, müssen dem Ohr die schlichten Dreiklänge schon ein bißchen zu alltäglich, zu banal und leer geworden sein, und das geschieht in der Regel erst, wenn man bereits sehr viel Musik gehört hat. Den sinnlichen Wohllaut der Septimen und Nonen im Tristan, in den Meistersingern und im Parsifal vermag ein Kind fast nie zu empfinden; daher beginnt die Schwärmerei für Wagners spätere Werke selten vor dem dreizehnten Lebensjahre. Hierbei ist noch zu beachten, daß Musik auf Kinder mit musikalischer Durchschnittsveranlagung zunächst rein sinnlich wirkt. Es ist daher kein Zufall, wenn die ruhige Schönheit der reinen Dreiklänge im Lohengrin schon frühzeitig empfunden wird, während die aufregende, sinnliche Schönheit von Akkorden wie fis – c – e – a oder g – f – h – d – a erst mit der beginnenden Pubertät zu wirken anfängt. Man schicke achtjährige Kinder in die Meistersinger: sie werden verwirrt und keineswegs entzückt von der Musik »mit den vielen Dissonanzen« sein; vierzehnjährige Kinder dagegen hören mit glühenden Gesichtern zu, berauscht von so viel sinnlicher Klangschönheit. Nur der Erwachsene vermag in Dissonanzen zu schwelgen. Das Kind freut sich lediglich an reinen Harmonien, und der Greis kehrt gern wieder zu ihnen zurück. So ist also die Freude des kleinen Grieg an dissonierenden Akkorden etwas der Regel durchaus Widerstreitendes und nur durch eine außerordentlich seltene Frühreife des Gehörs zu erklären. Die Vorliebe für Septimen- und Nonenakkorde hat er übrigens sein ganzes Leben lang beibehalten. Daß er in der Harmonik größer war als in der Melodik (was schon seine ersten Versuche am Klavier ahnen ließen), haben später seine Werke vielfach gezeigt.

Den ersten Klavierunterricht erhielt Jung-Edvard durch seine Mutter, und es zeigte sich bald, wie schwer aller Anfang auch für ein begabtes Kind ist. Offen gesteht Grieg in seinem Aufsatz ein, daß er am Klavier »ebenso faul« war wie in der Schule. Und wie alle Kinder während der ersten Unterrichtsjahre, so klagt auch er darüber, daß er nicht spielen durfte, was ihm Vergnügen machte. »Nur zu bald wurde es mir klar, daß ich zu üben hatte, was mir nicht angenehm erschien. Und meine Mutter war streng, unerbittlich streng. Ihr Mutterherz mag sicher Freude empfunden haben, daß ich manches rasch herausfand, wodurch sich die Natur des Künstlers offenbart, aber keinesfalls ließ sie eine solche Befriedigung durchblicken. Im Gegenteil, mit ihr war nicht zu spaßen, wenn sie mich am Klavier träumen fand, anstatt meine Lektionen fleißig zu üben. Und wenn ich mich zusammennahm, meine Fingerübungen und Skalen und all das übrige technische Teufelswerk zu studieren, die meinem kindlichen Verlangen Steine statt Brot schienen, da kontrollierte sie mich, auch wenn sie nicht im Zimmer war. Eines Tages kam ihre drohende Stimme aus der Küche, wo sie gerade das Mittagessen bereitete: Aber pfui, Edvard, fis, fis, nicht f.« Sehr charakteristisch ist das Geständnis, das Grieg dieser Schilderung anfügt: »Mein unverzeihlicher Hang zum Träumen begann schon damals mir dieselben Schwierigkeiten zu bereiten, die mich lange genug mein Leben hindurch begleitet haben. Hätte ich nicht meiner Mutter unbezähmbare Energie und ihre musikalische Fähigkeit geerbt, ich glaube, es wäre mir wohl nie gelungen, von Träumen zu Handlungen zu schreiten.«

Vielleicht wären dem kleinen Grieg die Klavierübungen weniger sauer geworden, wenn er schon damals daran gedacht hätte, Musiker zu werden. Das lag ihm aber ganz fern. Der schönste und für ihn geeignetste Beruf schien ihm vielmehr der eines Pastors zu sein. Man erinnere sich, daß die meisten Vorfahren der Mutter Pastoren waren. Wenn der Vater nach dem Mittagessen ein Schläfchen halten wollte, so stellte sich Edvard hinter einen Stuhl, der eine Kanzel vorstellen sollte, und predigte ohne Rücksicht drauflos. »Ein Prophet, ein Herold sein – das war, was ich wollte.« (Auch der Künstler steht vor einer Gemeinde, zu der er von den ewigen Dingen spricht. So hat der junge Edvard doch wohl schon seinen wahren Beruf dunkel geahnt.)

Als er fünfzehn Jahre alt war, kam an einem schönen Sommertage ein Reiter in vollem Galopp die Straße nach Landaas herauf: Ole Bull, der berühmte Geiger, dessen Leben und Taten an die Abenteuer des alten Kjeld Stub erinnern. Er war Schüler von Spohr und Paganini. In Paris wurde ihm einmal seine Geige gestohlen; verzweifelt sprang er in die Seine, wurde aber gerettet und erhielt von einer reichen Dame eine andere Guarneri. Später in Amerika stahl man ihm abermals sein Instrument, worüber er so erschrocken war, daß er das gelbe Fieber bekam. Ein drittes Mal geriet seine Geige in Gefahr, als ein Dampfer, auf dem er sich befand, mit einem Petroleumschiff zusammenstieß. Wieder sprang er ins Wasser, diesmal aber mit seiner Violine, und wieder lief die Sache glimpflich ab. Seine Konzertreisen führten ihn durch alle Weltteile. In Pennsylvania gründete er einst eine norwegische Kolonie und siedelte achthundert Leute an. Das Unternehmen verkrachte, zahllose Prozesse folgten, und Ole Bull flüchtete schleunigst von Amerika nach Bergen, wo er wieder etwas gründete, diesmal ein »Nationaltheater«. Von neuem gab es zahllose Verwicklungen, die durch eine abermalige Flucht beendet wurden. Nun war er unvermutet in die Heimat zurückgekehrt, den Kopf wie immer voll großartiger Pläne.

Der junge Edvard staunte ihn zunächst wie einen Halbgott mit ehrfürchtiger Bewunderung an, empfand dann aber eine kleine Enttäuschung, da der große Mann sich benahm wie ein ganz gewöhnlicher Sterblicher. Natürlich hatte er viel von Amerika zu erzählen, mehr noch von seinem Vorhaben, die Direktion des von ihm gegründeten Theaters wieder zu übernehmen und Björnson zu »seinem« Dramaturgen zu machen. Als eine Pause entstand, sollte Edvard sich ans Klavier setzen und einige seiner Kompositionen vortragen. Er tat es nach langem Widerstreben mit großer Zaghaftigkeit. Ole Bull hörte aufmerksam zu, sprach dann lange mit den Eltern, umarmte den erschreckten Jungen und sagte kurz: »Du mußt nach Leipzig gehen und Musiker werden.« Halb im Traum, mit stolzem, glücklichem Lächeln, packte Edvard seine Siebensachen, und die erste große Fahrt ins Leben hinein begann.

Die Leipziger Studienzeit

Man muß lernen, was zu lernen ist, und dann seinen eigenen Weg gehen.

Händel.

Je früher das rein Mechanische in den Hintergrund tritt, desto mehr wird das wahrhaft künstlerische Element ausgebildet.

Moscheles.

Wie Parsifal mit Gurnemanz zum heiligen Gral, so wanderte Edvard mit einem alten Freunde seines Vaters zu der Hochburg der musikalischen Romantik, dem Königlichen Konservatorium in Leipzig. Unheimlich hoch und finster erschienen ihm die Häuser, und die bedrückende Enge des Straßengewirrs benahm ihm fast den Atem. Mit einem Male, ohne recht zu wissen wie, befand er sich in den heiligen Hallen, in denen eine Schar schwarz gekleideter Gralshüter ernst und verwundert auf den helläugigen Jüngling in der kurzen blauen Bluse herabblickte.

Als die Aufnahmeprüfung beendet war, wurde dem Neuling ein gedrucktes Blatt zur Unterschrift vorgelegt: das »Disciplinar-Reglement« mit seinen berühmten elf Paragraphen. Außerdem überreichte man ihm noch ein Heftchen, dessen Inhalt er vergeblich zu enträtseln suchte. Einer der ersten Sätze (der ihn über die Vorzüge des Instituts aufklären sollte) war eine halbe Seite lang, und es gelang ihm daher nicht, die zueinander gehörenden Satzteile aufzufinden und sinnvoll zu verbinden. Dann kam eine Verordnung des »hohen Ministeriums«, die mit einem ebensolchen Satzungeheuer begann, wonach es weiter hieß, »dasselbe hat nicht ermangelt, über denselben …« nein, diese Sprache hatte er auf der Schule nicht gelernt. Er vermutete, es sei der berühmte Leipziger Dialekt, und bat, ihm das Wichtigste aus dem Heftchen in gewöhnliches Deutsch zu übertragen. Ein halbes Jahrhundert lang ist das kuriose Dokument allen »Interessenten« überreicht worden. Griegs Verlangen nach einer deutschen Übersetzung wurde auch von anderen oft lebhaft empfunden. Dieselben haben aber dieselbe bekanntgegeben zu sehen niemals die Freude gehabt.

Erregt und verwirrt von den bunten Eindrücken ging Jung-Edvard nach seiner bescheidenen Pension zurück, schloß sich in sein Zimmer ein und schluchzte stundenlang leise vor sich hin. Aber das bittere Gefühl gänzlicher Verlassenheit schwand bald; die Fülle des Neuen und Schönen, das er sah und hörte, ließ ihn sein Heimweh nach den nordischen Bergen verwinden. Und dann begann der Unterricht.

Sein erster Klavierlehrer war Louis Plaidy, der berühmte (oder vielmehr berüchtigte) Verfasser der »Technischen Studien«. »Ein kleiner, dicker, kahlköpfiger Mann«, »höchst unsympathisch«; »seine Methode war die denkbar unintelligenteste«; mit dem »linken Zeigefinger hinterm Ohr« saß er neben dem Schüler und wiederholte unablässig die stereotypen Wendungen: »Langsam; Finger auf; fest; Finger auf; fest; langsam; fest«. »Es war rein zum Verrücktwerden«. Eines Tages, als Grieg in einer Clementischen Sonate, die ihm sehr »widerspenstig« schien, »herumpfuschte«, riß ihm der nervöse Lehrer plötzlich die Noten fort und schleuderte sie in den fernsten Winkel des Klassenzimmers. »Mein Stolz lehnte sich gegen Plaidys rohe Behandlung auf. Da er mich nichts anderes spielen ließ als Czerny, Kuhlau und Clementi, die ich alle haßte wie die Pest, faßte ich bald meinen Entschluß. Ich ging zum Direktor und bat, mich von Plaidys Lektionen zu befreien.« Als versöhnlichen Schluß erzählt Grieg noch eine entzückende Geschichte von seinem Peiniger: Wenn Mendelssohns Scherzo Capriccioso in E oder sein Capriccio in h durchgenommen wurde, pflegte Plaidy sich höchstselbst zu produzieren. Aber sobald die langsame Introduktion vorüber war und das schwierige Allegro beginnen sollte, stand er auf und sagte mit einer lässigen Handbewegung: »Und so weiter«. Natürlich durchschauten ihn die Schüler und hatten Mühe, sich das Lachen zu verkneifen.

Griegs zweiter Klavierlehrer war Ernst Ferdinand Wenzel, ein trotz mancher Absonderlichkeiten höchst geistvoller Mensch, der die Freundschaft Robert Schumanns genoß und von all seinen Schülern verehrt wurde. Ihm hat Grieg sein erstes gedrucktes Werk gewidmet.

Später wechselte der junge Musikstudent dann nochmals seinen Präzeptor und kam zu Ignaz Moscheles, der im Gegensatz zu Plaidy ein ganz hervorragender Pianist war und auch als Komponist zu seiner Zeit geschätzt wurde. Seine Methode hielt sich frei von jeder Pedanterie. Da er Hans von Bülows Ansicht teilte, daß die Technik im Gehirn liege, haßte er jede mechanische Fingerdressur. Im übrigen suchte er weniger durch strenge Vorschriften als durch gutes Beispiel Erfolge zu erzielen. »Jetzt hören Sie, wie ich das mache.« Stundenlang spielte er seinen Schülern vor, die ihm dabei manches technische Geheimnis absahen. Ohne Fingerübungen wird gewiß niemand ein guter Pianist; aber es ist doch immerhin besser, wenn einer nicht so gut spielen kann wie er möchte, weil er nicht genug geübt hat, als wenn sein Geist bei den mechanischen Übungen stumpf wird und nachher mit der erlangten Fertigkeit nichts anzufangen weiß. Jedes Konservatorium hatte und hat noch seine Plaidys; darum gibt es so viele mittelmäßige Virtuosen, die ihr Publikum lediglich verblüffen, und so wenig wahre Künstler, deren Spiel wirklich ergreift. Es ist also von großer Bedeutung, daß Grieg einen hervorragenden Pianisten und gediegenen Musiker unter seinen Klavierlehrern hatte. Auch der war gewiß nicht ohne Schwächen und Wunderlichkeiten, aber eine echte Musikernatur darf sich schon allerhand Extravaganzen gestatten. Und wenngleich der große Mann zeitlebens an einer geradezu krankhaften Selbstüberschätzung gelitten hat, so machte sich beim Unterricht die Eitelkeit des »Komponisten« Moscheles doch nur selten bemerkbar. Sehr hübsch ist die Mahnung, die er seinen Schülern zuweilen gegeben haben soll: »Spielen Sie fleißig die alten Meister, Haydn, Mozart, Beethoven und – mich«.

In der Harmonielehre »genoß« Grieg den Unterricht des bekannten Theoretikers E. F. Richter, dessen Lehrbücher eine enorme Verbreitung gefunden haben. Nicht zum Heile der musikliebenden Menschheit. Denn diese Schriften sind unerträglich trocken und geistlos, öde und langweiliger als die schimmligste Schulgrammatik (voll von törichten Vorschriften und Verboten, die ohne jede Begründung aufgestellt werden) und waren eigentlich schon zu Lebzeiten ihres Verfassers gänzlich veraltet. Kein Wunder, daß Grieg an dem Unterricht dieses Mannes wenig Gefallen fand. Richter verlangte stets eine mit seinen »Regeln« genau übereinstimmende Lösung aller Aufgaben, während Grieg darauf bedacht war, eine möglichst gut klingende Lösung zu finden. Jeder begabte Harmonieschüler weiß, daß völlig regelrechte vierstimmige Bearbeitungen von Bässen oder Melodien oft miserabel klingen, während eine etwas freiere Stimmführung und Akkordverwendung zu besseren klanglichen Ergebnissen führt. Grieg mag nun wohl etwas weit gegangen sein, indem er nicht nur auf den guten Klang der Lösungen bedacht war, sondern sie gleichzeitig originell, nach seinem persönlichen Geschmack gestalten wollte. Trotzdem war es aber verfehlt, daß Richter jede Harmonie oder Stimmführung, die nicht im Geiste seiner »Regeln« war (wenn man hier von Geist sprechen kann), einfach als »falsch« ablehnte und mit einem dicken Strich beseitigte. Grieg sagt, daß er dadurch keineswegs bekehrt worden sei. Verständigen Gründen wäre er sicher nicht unzugänglich gewesen; aber das ist ja gerade der Fehler der meisten Theorielehrer an Konservatorien, daß sie selten oder nie erklären, warum etwas so und nicht anders sein müsse (oft wissen sie es selbst nicht), sondern sich mit autoritativen Anweisungen begnügen. Ob und inwieweit ihre Vorschriften brauchbar sind, kann letzten Endes immer nur das Ohr entscheiden; darum gilt so oft Hans Sachsens Ausspruch in den Meistersingern: »Kein' Regel wollte da passen, und war doch kein Fehler drin.«

Griegs zweiter Theorielehrer, Dr. Robert Papperitz, ließ im Gegensatz zu Richter dem jungen Grieg zuviel freie Hand. Anfänger verfallen leicht auf übermäßige Verwendung von Vierklängen und chromatischen Tönen, weil sie noch nicht genug Sicherheit in der logischen Verbindung von einfachen Dreiklängen haben oder Schwierigkeiten in der Stimmführung umgehen wollen. So war es auch bei dem jungen Grieg, der sowieso schon eine allzu große Vorliebe für die Chromatik und für seltene Akkordverbindungen hatte.

Das sichere Gefühl für harmonische Logik, das alle Werke Griegs zeigen (Gegenbeispiel: die Harmonik Max Regers) ist wohl dem Einfluß des vortrefflichen Theoretikers Moritz Hauptmann zuzuschreiben, dessen Bekanntschaft der junge Künstler zufällig machte. Als Grieg bei einer Privatprüfung eine eigene Komposition vortrug, kam ein älterer Professor auf ihn zu, legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte: »Guten Tag, mein Junge; wir müssen Freunde werden.« Es war Hauptmann; und Freunde sind die beiden dann auch schnell geworden. Sehr anschaulich schildert Grieg den alten Herrn: »In seinen letzten Jahren war er Invalide und gab die Stunden in seinem eigenen Hause, in der Thomasschule, Sebastian Bachs altem Heim. Hier hatte ich das Glück, ihn näher kennenzulernen. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er auf seinem Sofa sitzt, im Schlafrock und Käppchen, mit einem großen seidenen Taschentuch in der Hand, seine bebrillten Augen tief in mein Aufgabenbuch vergraben, dessen Blätter mehr als einen Tropfen aus seiner Schnupftabaknase aufgenommen haben … Eine Fuge auf den Namen Gade, die in Richters Augen keine Gnade fand, gewann Hauptmanns Zufriedenheit in einem solchen Grade, daß er gegen alle Gewohnheit, nachdem er sie durchgelesen und mit Aufmerksamkeit verfolgt hatte, ausrief: ›Das muß recht hübsch klingen; lassen Sie mich's mal hören.‹ Und als ich geendigt hatte, sagte er mit seinem liebenswürdigen, feinen Lächeln: ›Sehr hübsch, sehr musikalisch.‹«

Während der ersten Studienzeit Griegs war der Justizrat Conrad Schleinitz Direktor der Anstalt. Zwischen diesem und dem jungen Grieg kam es einmal aus geringfügigem Anlaß zu einem heftigen Konflikt. Schleinitz hatte nach einer Konservatoriums-Soirée die Zuspätgekommenen, unter denen sich Grieg befand, barsch ausgescholten und hinzugefügt, es seien »gerade immer die schlechtesten Schüler«, die sich derlei zuschulden kommen ließen. Das weitere mag Grieg selbst erzählen: »Die Demütigung war mehr, als ein junger Hitzkopf auf sich sitzen lassen konnte. Am nächsten Morgen um neun Uhr klopfte ich an die Tür des Direktors und wurde eingelassen. Ohne weitere Vorrede sprach ich frisch vom Herzen weg. Ich sagte ihm, wie rücksichtslos und verletzend sein Benehmen gewesen sei, indem er uns alle gleich behandelte, und was mich beträfe, so wäre ich nicht geneigt, mir eine solche Behandlung gefallen zu lassen. Er wurde furchtbar wütend, sprang auf und wies mir die Türe. Aber ich war gerade in der Fechterstimmung. ›Gewiß werde ich gehen, Herr, aber nicht eher, bis ich gesagt habe, was ich sagen will.‹ Und nun geschah das Erstaunliche. Schleinitz gab plötzlich klein bei. Er kam zu mir, klopfte mich auf die Schulter und sagte mit einer Stimme, sanft wie die eines Vögelchens: ›So, das ist ja recht hübsch, daß Sie auf Ehre halten.‹ Ich glaube, dieser Erfolg war unbestreitbar. Schleinitz änderte daraufhin gänzlich sein Verhalten gegen mich, und ich fühlte, ich hatte ihn für immer gewonnen. Wir wurden die besten Freunde, er wußte gar nicht, was er alles für mich tun sollte. So zum Beispiel: An einem Wintertage, als die Post, die meinen regelmäßigen Wechsel von Hause bringen sollte, verlorengegangen war, sah ich mich gezwungen, zum ersten und glücklicherweise auch zum letzten Male meine Uhr zu versetzen. Auf einem mir unerfindlichen Wege hörte Schleinitz davon und drang in mich, nie wieder zu versuchen, auf diese Weise aus Schwierigkeiten herauszukommen, sondern lieber zu ihm zu kommen, wenn ich etwas Geld brauchte.«

Als Nachfolger von Schleinitz ward dann später Carl Reinecke Direktor des Konservatoriums, und auch bei ihm hatte Grieg theoretischen Unterricht. Viel gelernt hat er dabei allerdings nicht, denn Reinecke war mit Arbeiten so überlastet, daß er sich seinen Schülern wenig widmen konnte. Er dirigierte ja auch die Gewandhauskonzerte (bis Nikisch ihn 1895 ablöste), wirkte als Pianist in Konzerten mit, komponierte über zweihundert Werke, darunter mehrere Opern, und entfaltete außerdem als Schriftsteller eine umfangreiche Tätigkeit. Von dem jungen Grieg verlangte Reinecke eines Tages die Komposition eines Streichquartetts, ohne sich darum zu kümmern, daß sein Schüler noch gar keine Ahnung von der Formenlehre und der Technik der Streichinstrumente hatte. Trotzdem unternahm Grieg einen Versuch, nachdem er auf eigene Faust einige Quartette Mozarts und Beethovens studiert hatte. Reinecke wollte das so entstandene Opus nach einer Klassenaufführung öffentlich spielen lassen, aber der Geiger Ferdinand David riet dem jungen Komponisten, die Aufführung zu hintertreiben. Grieg fühlte sich durch diesen Rat keineswegs verletzt: »Ich begriff bald, daß es eine höchst mittelmäßige Arbeit war, und blieb David sehr dankbar, daß er die Aufführung verhindert hatte.« Später verlangte Reinecke eine Ouvertüre; aber Grieg hatte noch keine Kenntnis von der Technik der Orchesterinstrumente, und aus der Komposition wurde deshalb nichts. »Im ganzen Leipziger Konservatorium gab es nicht eine Klasse, in der man von diesen Dingen (Instrumentation usw.) fundamentale Kenntnisse erlangen konnte. Kein Wunder also, daß ich auf nichts hinzuweisen vermag, was einem Erfolge in dieser Richtung ähnlich sähe. Für mich war es ein Glück, daß ich in Leipzig soviel gute Musik zu hören bekam, besonders Kammer- und Orchestermusik; das entschädigte ein wenig für die mangelnde Gelegenheit, etwas von der technischen Seite der Kunst zu lernen. Es entwickelte mein Verständnis und mein musikalisches Urteil im höchsten Grade, brachte aber eine große Konfusion in die Beziehungen zwischen meinen Wünschen und der Fähigkeit sie auszuführen, und ich muß leider sagen, daß diese Konfusion das Ergebnis meines Leipziger Aufenthalts gewesen ist.« So verließ er denn zu Ostern 1862 nach bestandener Reifeprüfung die Anstalt »fast ebenso dumm«, wie er sie betreten hatte. Vorher wirkte er noch in einem öffentlichen Konzert mit, das im Gewandhaus veranstaltet wurde, trug seine vier später als op. 1 erschienenen Klavierstücke vor und erntete als Pianist wie als Tonsetzer großen Beifall.

In die Heimat zurückgekehrt, war es dann des jungen Künstlers erstes Bestreben, innerlich frei zu werden, »all den überflüssigen Plunder von mir zu werfen, mit dem mich eine armselige Erziehung zu Hause und im Auslande beklemmt und gehemmt hatte, eine schwerfällige und einseitige Erziehung, die nahe daran war, meine natürlichen Gaben in eine gänzlich falsche Richtung zu treiben.«

Einige Worte widmet Grieg noch seinen Studiengenossen, denen gegenüber er oft seine »eigene Unfähigkeit in ganz niederdrückender Weise empfunden« habe. Zunächst nennt er Arthur Sullivan, den Komponisten des »Mikado«, von dessen zahlreichen anderen Werken wir in Deutschland leider so gut wie nichts kennen. »Seine vorgeschrittene Kenntnis der Instrumentation hatte er sich angeeignet, bevor er ins Konservatorium kam. Noch als Studierender schrieb er die Musik zu Shakespeares ›Sturm‹; die paar Takte daraus, die er mir in mein Album schrieb, zeigen die erfahrene Hand eines geübten Meisters.« Ferner erwähnt Grieg die Pianisten John Francis Barnett, Franklin Taylor, Walter Bache und Edward Dannreuther. Die drei ersten waren Engländer, und Dannreuther hat die größte Zeit seines Lebens in London verbracht; irgendeinem deutschen Studiengenossen scheint sich Grieg nicht angeschlossen zu haben. (Wer viel gereist ist, hat gewiß bemerkt, daß Norweger und Engländer überall in der Welt zusammenhalten.)

Die Leipziger Studien Griegs wurden im Frühjahr 1860 durch eine schwere Krankheit unterbrochen. Hohes Fieber und Schmerzen auf der rechten Brustseite veranlaßten eines Tages den durch intensives Arbeiten Erschöpften, einen Arzt rufen zu lassen, der dann eine Rippenfellentzündung feststellte. Die meisten damaligen Ärzte wußten leider nicht (und gar mancher weiß es noch heute nicht), daß die sogenannte Rippenfellentzündung oft, wenn nicht in den meisten Fällen, auf bestehende Lungentuberkulose schließen läßt. In einem schwächlichen Körper setzen sich bei heftigen Erkältungen leicht Tuberkelbazillen in den äußersten Verästelungen des Lungengewebes fest, kapseln sich hier ein und bilden unter dem die Lungen bedeckenden Lungenfell kleine harte Knötchen. Tritt nun eine neue Erkältung ein, so entsteht bei den Hustenstößen oft eine heftige Reibung zwischen dem mit Knötchen bedeckten Lungenfell und dem darüberliegenden Brust- oder Rippenfell. Die Folge davon ist dann eine Entzündung, meist verbunden mit Absonderung einer wässerigen oder eiterigen Flüssigkeit. (Man denke an die Blasen, die zuweilen bei Reibungen der Hände oder Beine entstehen.) Die Entzündung greift dann leicht auf das Lungengewebe über und in ungünstigen Fällen schrumpft bei der Genesung der entzündete Teil des Gewebes zusammen. So war es auch bei Grieg, der nach seiner »Heilung« nur noch einen Lungenflügel in normaler Weise gebrauchen konnte. Auch der ist dann (wie die Sektion nach seinem Tode ergab) allmählich durch Tuberkelbazillen geschwächt und zum Teil zerstört worden. Daß Grieg trotz allem noch volle siebenundvierzig Jahre gelebt hat, ist ganz außergewöhnlich und wäre ohne eine sehr vorsichtige, streng geregelte Lebensführung nicht möglich gewesen. Natürlich mußte er sich zeitlebens vieles versagen, mußte oft in der Einsamkeit oder in Heilstätten nur seiner Gesundheit leben, und dadurch ist wohl ein schwermütiger Zug in so viele seiner Werke gekommen. Seiner Veranlagung nach war Grieg gewiß nicht schwermütig, sondern eher ein fröhlicher Optimist, der bei allem Ungemach selten seine gute Laune verlor. Charakteristisch ist seine Haltung in den späteren Jahren: Er hielt sich gern mit beiden Händen an den Rock- oder Mantelaufschlägen fest, da ihm dadurch das Atmen leichter wurde. So ist er auch oft photographiert worden. Genau wie bei Chopin, der schon mit neununddreißig Jahren der Lungentuberkulose zum Opfer gefallen ist, stellte sich auch bei Grieg in der ersten Zeit nach dem Ausbruch der Krankheit ein unbändiger Lebensdrang ein, während sich in den letzten Jahren der fortschreitende Verfall durch ein sehr merkbares Nachlassen der Schöpferkraft kundtat. Viele seiner Werke zeigen sichtbare Spuren seiner Krankheit mit einer natürlich unbewußten, aber gerade deshalb so unheimlichen Realistik. In einigen seiner schwermütigsten Klangpoesien ist eine so eigentümlich kurzatmige Melodik mit so seltsam stoßweisen Wiederholungen kleinster, abwärtsgleitender Motive, daß man erschüttert den schweratmenden Mann vor sich zu sehen und sein tragisches Ringen um die entschwindenden Lebensenergien mitzuerleben glaubt.


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