Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

15

Christel hatte auf dem Rückwege von ihrem Einkaufsgange an der Ecke der Rehberger Straße und der Feldgasse einen vornehmen Herrn, wie sie vermutete, den tollen Baron getroffen, von dessen Verrücktheiten Wilkau noch zum Brechen voll war. Er sei wie ein Pferd bei Musik marschiert, daß das schöne braune Mädchen, wohl sein Kind, nicht nachgekonnt und verstohlen geweint habe.

Jochen erzählte seiner Frau nun ausführlich den wilden Auftritt mit dem Freiherrn von Schillingkhoff, und daß er am Ende sogar sein Kind, das schöne Mädchen, noch roh behandelt habe, das doch an der Verweigerung des Pumps nicht schuld gewesen sei. Der Gerber schüttelte sich in Abneigung vor so einem protzigen Kerl, der ihn wie ein Räuber überfallen hatte. Sein Zorn kochte dermaßen in ihm auf, daß er sogar ins Schimpfen geriet, was doch bei seiner gütigen Gesamtart zu den großen Seltenheiten gehörte. Sogar vor dem kleinen Damian behandelte man den Vorfall, als sich die Aufregung etwas verlaufen hatte. Der Junge war den anderen und den folgenden Tag mit kummervollem Gesicht umhergegangen, und eines Abends, als das Gespräch der Eltern wieder um den Einfall von Schillingkhoffs kreiste, fragte der Junge, ob der wilde, große Mann das Mädchen getötet habe.

Beide lachten über die schreckhafte Einbildung des Knaben und beruhigten ihn, daß der fremde Mann wohl schlimm, dagegen noch lange kein Mörder sei. Damian hörte sich alles mit sorgenvollem, erblaßtem Gesicht an, und Tränen rollten aus seinen Augen.

Christel streichelte ihm liebkosend die Wange.

»Nein, nein, wo denkst du hin. Das schöne Kind war doch sein Töchterchen.«

Damian nickte und dabei flossen seine Tränen stärker.

»Wie hieß sie eigentlich?« fragte sie liebreich weiter.

Da aber senkte der Junge den Kopf, und sein Gesicht wurde über und über rot. Dann sprang er, ohne zu antworten auf, lief hinaus, jagte über die Treppe hinauf in sein Stübchen und kam den ganzen Abend, nicht einmal zum Gutenachtsagen herunter. Und als Christine zu ihm hinaufging, fand sie ihn schon schlafend. Alle seine Bilder lagen auf dem Deckbett und sein Gesicht trug einen seligen Ausdruck.

In den nächsten Tagen fiel Damian gleich nach dem Nachhausekommen wie gierig über seine Schularbeiten her, mit denen er sonst genießerisch fast den ganzen Nachmittag zugebracht hatte, und verschwand dann zeitig aus dem Hause. Er war über Sessis Schicksal beunruhigt, trug die schönsten seiner Bilder in der Seitentasche der Jacke und brannte darauf, das Mädchen zu treffen, dessen Namen er wie ein Heiligtum in seiner Seele trug. Wenn er ihr alle die schönsten Bilder schenkte, sann er beglückt, so hätte ihr mörderischer Vater keine Gewalt mehr über sie. So umlauerte er alle Tage ihr Haus. Lange war sein Bemühen vergeblich. Endlich erblickt er sie von fern allein in dem Schwarzbuchengange des Kurparkes, schrie beglückt nur immer: »Du! – Du! – Du!« – weil er ihren Namen vor den Leuten nicht auszusprechen wagte, riß die Bilder aus der Tasche und trabte auf sie zu. Sessi drehte sich um. Aber als sie ihn erkannte, lief sie mit allen Zeichen furchtvollen Schreckens davon, denn ihr Vater hatte verboten, je wieder mit dem Gerberjungen zu sprechen.

Damian sah sie verschwinden und kehrte ratlos nach Hause zurück. Niemand erfuhr von seiner Niederlage. Seine nachmittäglichen Ausgänge wiederholten sich mit Unterbrechungen noch ein paar mal und immer kam er abgeschlagener zurück. Die sonst so beglückenden Schularbeiten mißrieten ihm mehr und mehr, daß er furchtsam und unglücklich zur Schule ging und dem Unterricht nur mit Mühe folgen konnte. An einem Tage fiel er ohnmächtig in den Gang und mußte nach Hause getragen werden.

Der herbeigerufene Arzt konnte keine Krankheit an ihm entdecken, nur fand er seinen Herzschlag klein und unregelmäßig, und forderte wochenlange Aussetzung des Schulbesuches und kräftigende, neutrale Diät.

Damian ließ alles sanft mit sich geschehen, antwortete aber kaum etwas auf die Fragen des Arztes. Seine Augen waren meistens geschlossen, und wenn er sie öffnete, ging ihr Blick an allem vorüber in eine grenzenlose Weite. Es war, als verstehe er die Sprache der Erwachsenen nicht mehr vor Klängen und Dingen, die unausdrückbar in ihm umgingen und denen er ganz hingegeben war, wenn er mit rätselhaft innerlichem Horchen regungslos dalag. Beschwor ihn die Mutter mit aller fast verzweifelten Eindringlichkeit der Liebe, ihr doch mit einem einzigen Wörtlein zu sagen, wo es ihm wehtue oder was ihm fehle, so war es, als löse er sich mühsam aus einem verborgenen Bann. Er sah sie erstaunt lange an, und wenn er sie erkannt hatte, kam das schleierschöne Lächeln wieder auf einen Augenblick in sein Gesicht, das sie so rasend liebte. Dabei sagte er hauchleise: »Meine liebe Mutter«, gab ihr seine abgezehrte Hand und verfiel wieder in das abgeschiedne Horchen. Den Besuch Reinhart Neefes lehnte er wortlos aber entschieden ab, drehte sich gegen die Wand und verharrte so in dieser Stellung, bis der Junge wieder gegangen war.

So ging es Monat um Monat.

Jochen Maechler erlebte wohl auch ernst und sorgenvoll die geheimnisvolle Krankheit seines Söhnchens, die auf Tage gnädiger mit ihm verfuhr, sich dann aber unerbittlich schleichend wieder in ihm festsetzte, aber er tröstete doch sein liebes Christel noch, weil er ganz genau wisse, daß das Leiden Damians nicht zum Tode führe. Denn das könne und könne es nie und nimmer geben, weil sonst sein eigenes Leben der pure Unsinn sei.

Und als der Doktor erklärte, daß seine Kunst zu Ende sei und nur einer, nämlich Gott selber, mit der unbegreiflich zähen Natur des Knaben Hilfe bringen könne, nahm das Jochen Maechler hin und bestärkte sich in dem hartnäckigen geheimen Aberwitz, die Krankheit Damians sei nur ein Absterben seiner Traumversessenheit, und wenn das Leiden diese unnütze Sucht seines Wesens ganz aufgezehrt habe, werde es mit Damian reißend aufwärtsgehen in das neue, gesunde Leben seines Vaters.

Allein das Jünglein sank offenbar unaufhaltsam den letzten Abhang des Daseins hinunter.

Da raffte sich Jochen, nun auch der Verzweiflung nahegebracht, zu seiner letzten Nothelferin auf und stieg in die Schlitzkammer, um sich mit dem Geist seiner Mutter zu beraten, was zu geschehen habe. Stundenlang versank er unter dem Schutze der goldgefüllten Strümpfe auf dem wackligen Stuhle in den grenzenlosen Unraum seiner Innentiefe, um von daher den Auftrag für sein Handeln zu empfangen. Nichts rührte sich, kein Laut klang auf. Keine jenseitige Helle nahte sich zündend dem leidenschaftlich horchenden Bewußtsein.

Der Geist seiner Mutter meldete sich nicht.

Am anderen Tage wiederholte der Gerber noch dringender dasselbe Warten auf Erleuchtung.

Und als er am dritten Tage, wiederum ergebnislos, auf eine Offenbarung gewartet hatte, erkannte er mit Schrecken, daß seine Mutter nichts von seinem Damian wissen wollte. Vor die Brust gestoßen, ängstlich, sprang er von dem Stuhl seiner Mutter auf und lehnte eine Weile wie gelähmt an der Mauer. Dann berührte er wie Hilfe suchend einen der goldgefüllten Strümpfe nach dem andern. Aber auch dadurch kam keine rettende Weisung in ihm auf.

Da bäumte sich der Zorn in ihm auf. So wollte er, Jochen Maechler, sich selbst helfen und seinen Damian aus eigner Kraft vom Tode zu sich herreißen, schlug die Kammertür zu, verschloß sie umsichtig genau wie immer und stieg mit entschlossenen Schritten hinunter in die Wohnung. Dort traf er sein Christel an Damians Bett, das seit Monaten in der Schlafstube der Eltern stand. Sie war über den Regungslosen gebeugt und horchte ängstlich auf seine kaum wahrnehmbaren Atemzüge. Bei seinem Eintritt sah sie ihn mit den überwachten Augen fragend an. Jochen bat sie, ihn eine Weile mit dem Jungen allein zu lassen, denn ihm sei etwas eingefallen, was vielleicht helfen werde.

Als seine Frau hinausgegangen war, zog er die Vorhänge vom Fenster, daß das grelle Abendlicht ins Zimmer fiel. Dann machte er je ein Kreuzzeichen auf die Stirn, den Mund und die Brust des Knaben. Als dies geschehen war, hauchte er dreimal den stärksten Atem, den er in seiner Brust aufbringen konnte, in sein Gesicht.

Zuletzt gebot er dem Kranken:

»Damian, wach auf!«

Auch dreimal und sprach dann weiter getragen, feierlich:

»Du wirst ein großer Gerber sein. Der Segen deiner Eltern wird dich führen. Dein Haus wird wachsen. In Reichtum wirst du nie Not erfahren. In deinem großen Garten fliegen tausend bunte Schmetterlinge …«

Da brach er ab. Der Junge lag wie tot. Nichts rührte sich im Gesicht und seinen wächsernen Händen, die auf der Decke in den Bilderblättchen ruhten.

Jochen Maechler erkannte, daß er keine Macht über den Knaben habe und daß sein Leben umsonst gewesen sei.

Mühselig, mit zerknüllter Stimme, sagte er noch einmal:

»Damian, liebster Junge, wach auf!«

Dann legte er behütend seine beiden riesigen Hände über den Kopf Damians und ging wie ein Erledigter hinaus. Sein Gesicht war gramvoll zergraben. Er machte Christel ein Zeichen vollkommener Hoffnungslosigkeit und griff nach Stock und Mütze am Rechen neben der Tür.

»Geh zu ihm hinein. Ich muß aufs Feld.« Die arme Frau wollte ihn zurückhalten. Aber sie erkannte, daß dieser vollkommen Betäubte ihr keine Stütze sein konnte, deswegen gab sie ihm an der Haustür den Weg frei.

Als sie zu Damian zurückkehrte, lagen alle Bilder am Boden. Der Junge lag wie tot mit kaum wahrnehmbarem Atem. Nur sein Arm hing aus dem Bett. Und als Christel betroffen stand und abwechselnd die Bildblätter am Boden und den Jungen ansah, öffnete Damian zu ihrem Schrecken unvermutet die Augen, nicht müde und verschleiert, nein groß, grell, überlebendig, voll eines verzweifelten Entsetzens. Dann stieß er einen Laut höchster Erschöpfung aus und lag wieder wie tot.

Daraus erkannte sie, daß Jochen wohl, weil er sein Ende nahe fühlte, sich des Liebsten entledigt hatte, was er besaß. Allein, als Christine das unverweigerlich klar geworden war, warf sich ihr Mutterherz mit übermenschlicher Kraft dem Tode entgegen, der offenbar nach ihrem Jungen langte. Heldenhaft kämpfte sie alle Bedenken nieder und ging am anderen Morgen, nachdem sie Damian einige Löffel Milch eingeflößt hatte, in die evangelische Schule und ließ sich von der Lehrerin Sessi von Schillingkhoff herausrufen. Im Beisein des Fräuleins schilderte sie dem Kinde das nahe Ende ihres Damian, der seit nahezu dreiviertel Jahren krank und nun dem Tode nahe sei. Er habe so oft nach ihr verlangt, und heute früh habe er gebeten, von ihr Abschied nehmen zu dürfen. Diese Notlüge gelang Christine so erschütternd wahrhaft, daß die Lehrerin auch in Tränen ausbrach und in das ratlose, blaß gewordene Kind drang, dem armen Sterbenden diesen letzten Liebesdienst zu erweisen. Sessi bekannte nun, daß sie wohl gern mit zu dem Knaben ginge, aber ihr Vater habe ihr streng verboten, je wieder mit ihm zu sprechen. Aber man redete ihr zu, daß ihr Vater dabei nicht an den Tod gedacht haben könne.

So machte sich das Mädchen mit Christine auf den Weg. Frau Maechler führte Sessi in das Schlafzimmer an Damians Bett.

Als das Kind das abgezehrte, todesnahe Gesicht des Knaben sah, wurde es von Furcht und Mitleid so erschüttert, daß es ihr Händchen aus dem Griff Christines winden wollte, um zu entfliehen. Die Mutter aber hielt sie bittend fest, meldete Damian, daß Besuch angekommen sei und drängte das Mädchen, auch zu sprechen. Sowie Sessis Stimme erklang, löste sich die Starre Damians. Er schlug die Augen in verwundertem Glück auf. »Ach Sessi«, sprach er selig, versuchte die Hände zu heben und sich zu ihr zu wenden.

Da kniete das Mädchen am Bett nieder und erfaßte liebevoll eine seiner bleichen Hände.

Christines Brust wurde von Weinen gefoltert und um nicht herauszuschluchzen, ging sie schnell aus dem Zimmer und ließ die beiden allein. Draußen faßte sie sich bald und hörte an der Tür das Gespräch der Kinder. Eigentlich redete Sessi mit ihrer dunklen Sopranstimme allein, und Damian hauchte nur immer sein glückliches »Ja« dazwischen. Und als Christine in das Schlafzimmer zurückkehrte, damit das liebe Mädchen nicht zu lange ausbleibe und Damian nicht zu sehr angestrengt werde, kniete Sessi noch immer am Bett und hatte Damians Hand in ihren beiden Händen. Vor dem Weggehen streichelte sie ihm beide Wangen.

Dann wurde sie von Frau Maechler hinausgeführt. Das Mädchen war wie in einer seligen Verzauberung und lehnte bittend die Begleitung Christines ab.

*

Bei diesem Wunder, das die kleine Sessi an Damian gewirkt hatte, blieb es. Nach Tagen schon waren die Gramschatten eines alten Menschen aus dem Kindergesicht des Knaben geschwunden. Er verlangte selbst nach Nahrung und lag nicht mehr nur mit geschlossenen Augen im Bette, als ziehe er sich behutsam durch den Todesschlaf aus dem Leben zurück.

Wenn Christine von glückhafter Mutterhoffnung getrieben, lautlos die Tür öffnete, sah sie Damian mit heiter offenen Augen verwundert, ja erstaunt über sich schauen oder er schlief mit einem Blinzeln, als fielen Blütenblätter in sein Gesicht, und um seine Lippen spielte ein schelmisches Lächeln.

Christine ging in einem Glück umher, daß die ganze Welt um sie vergessen war. Und als nach Tag und Macht und Macht und Tag endlich ihr Mann abgetrieben von seinem endlosen Schweifen um die Teiche und durch die Wälder zurückkehrte, wußte sie gar nicht, daß er fort gewesen sei. Sie zog ihn in die Lederausschnittstube und erzählte ihm alles von der wunderbaren Errettung Damians, und Jochen Maechler war es, als stünde er selbst aus dem Grabe seines Lebens auf, gegen das er in aussichtslosem Kampf so lange gerungen hatte.

Am tiefsten war er von der wundervollen Liebestat der kleinen Sessi erschüttert und verlangte von Christine wieder und wieder den Bericht aller Einzelheiten ihres Besuches.

Endlich war sein Hunger gestillt und sie nahmen sich bei den Händen und gingen auf den Zehenspitzen hinüber zu ihrem Jungen.

Es war wieder Frühling geworden, und sie blieben im Durchschreiten der Wohnküche stehen. Die Fenster standen offen. Das Heidewasser sprang klingend über die Steine. Das junge Laub spielte traumhaft leise wie ein fernes himmlisches Orchester in das beginnende Weltallsrot des Abends.

Aber aus dieser überwältigenden Musik hörten sie eine unendlich leise, wie das verschämte Lied eines Rotkehlchens der ersten Liebeszeit klingende Stimme singen, die nicht von draußen, sondern aus dem Schlafzimmer kam. Unhörbar schlichen sie an die Tür und lauschten. Und nach einer Pause begann Damian wieder federleise zu singen: »Sessi … Sessi … Sessi …«, immer nur das eine Wort, das seine ganze Welt war.

Die beiden alten Menschen umarmten sich in überseliger Ergriffenheit. Denn das Schicksal, aus dessen dunkler Kammer mondenlange Nacht und Hoffnungslosigkeit durch das Maechlerhaus getrieben worden war, hatte sich gewendet und strömte nun aus seinem Lichtschacht unfaßbaren Segen über sie, und der Gerber und seine Christine hörten in der Vogelstimme Damians das Lied der Zukunft ihres geretteten Geschlechtes.

Dann traten sie in das Schlafzimmer.

 

Ende

 


 << zurück