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10

Diese Tatsachen, die offen in Wilkau herumliefen oder als Gerüchte sich geheim weitertuschelten, erfüllten das kleine Badestädtchen ganz, das sich nach dem völligen Abwelken der Saison die Winterschlafmütze tiefer über die Ohren zu ziehen begann, und behaglich die Neuigkeiten nach allen Regeln der Kunst ausschrotete, die um das Neefesche Haus auf der Vogelsdorfer Straße wirbelten. Trotzdem blieben auch für die spitzfindigsten Spürnasen noch so viele »Wenn« und »Aber« ungelöst, daß man sich beim besten Willen nicht beruhigen konnte, sondern genötigt war, alles aber- und abermals vorzunehmen und um- und umzuwenden.

Besonders tief wurde das Gerberhaus auf der Feldgasse von dieser Unruhe ergriffen. Aber hier wie überall war die Wirkung zwiefältig. Nachdem das Knäuel der Gerüchte abgehaspelt war, stellte sich der Meister Jochen anders dazu ein als seine Frau Christine. Der Schrecken über den unvermuteten Schicksalsschlag, von dem der Inspektor so übel zugerichtet auf das Siechenbett geworfen worden war, daß er wohl dauernd beschädigt bleiben mußte, verwandelte sich in Maechler schon nach einigen Tagen zu einem Staunen über die Treffsicherheit der Fügung. Sie erschien ihm als die unbeirrbare Sachwalterin eines Gerichtes, dem alle und alles unterworfen sind. Schleierlose Augen, denen nichts verborgen blieb, wachten über den Menschen und brachten bald Glanz, bald Dunkel über ihr Leben, je nach ihrer Beschaffenheit. Und Maechler litt von den weiträumigen Untergründen seines Wesens eher an einer Furcht vor den Folgen der eigenen und der ererbten Unvollkommenheit, bis er die Zuflucht in die totenheimliche Schlitzkammer nahm, und in ihrer vollkommenen Finsternis stundenlang auf dem Stuhl seiner Mutter gesessen und sich in ihr Wesen versenkt hatte. Damit war er auch von der Furcht des Staunens erlöst und Christine, die von all dem nichts wußte, verwunderte sich über die plötzliche Verwandlung, die mit ihrem Jochen vorging. Denn er betrieb mit zuversichtlicher Entschlossenheit sein Handwerk, walkte, daß die Dachsparren knackten, schabte maschinenfleißig in der Werkstatt, schichtete die Häute in den Loh- und Weißgartonnen um, als gelte es, die verwirrte Weltordnung wiederherzustellen und ging wohlgelaunt und gelenkig seinem Häutehandel nach, den er noch ausdehnte, während er ihn früher nur mit abschätziger Gutmütigkeit betrieben hatte. Seine Stirn war entwulstet, sein Blick klar und entwölkt, er vermied jede gefühlsmäßige Betrachtung des Unglücks, das Neefe betroffen hatte, und ließ Christine nicht im Unklaren, daß er es in die Reihe der Mißgeschicke stellte, denen die Menschen nun mal im Leben unterworfen seien, nach einer Ordnung, die wir eben hinnehmen müßten, so daß die Frau seine unverminderte Abneigung gegen den Inspektor wohl heraushörte, sich aber in acht nahm, ihn davon abzubringen und seinen Blick auf das Geschick der armen wehrlosen Frau Agnete, der Frau Neefes, zu lenken. Was mußte diese kindhafte Dulderin leiden, die gewohnt war, sich von dem rücksichtslosen Neefe hier- und dorthin schieben zu lassen. Und in der Schwermut, die nach der Empfängnis, sie hin und wieder heimsuchte, stellte sich Christine ihren Zustand in immer dunkleren Bildern vor und fühlte sich mehr und mehr gedrängt, zu ihr zu eilen und ihr zu helfen, sei es auch nur mit Worten guten herzlichen Zuspruchs. Doch wegen des früheren Sympathieanflugs für den Inspektor wagte sie nicht, Jochen davon zu sprechen, und fand auch nicht den Mut zu einem heimlichen Besuch der geplagten Agnete. In diesem Hangen und Bangen, das immer bedrängender wurde, traf sie die Erzählung von der verzweifelten Erschütterung Agnetes bald nach dem Unglücksfall ihres Mannes. Sie stammte aus jener Partei der Wilkauer Tuschler, die dem Inspektor feindlich gesinnt war, und in dem Sturz über die Treppe die verdiente Rache des gepeinigten Schlossers Witschel sah.

Als man den blutenden, bewußtlosen Mann mühselig in die Stube getragen und aufs Bett gelegt hatte, sei der Arzt Fohl geholt worden, der ihn untersucht und notdürftig verbunden habe. Gefaßt, steif, kalkbleich, aber vollkommen stumm habe Frau Agnete dem Arzt alle Handreichungen geleistet, so daß Doktor Fohl über die Seelenstärke des armen Weibes in Erstaunen und Bewunderung geraten sei. Als aber der Arzt gegangen sei, und Agnete das Einschnappen der Haustür drunten gehört habe, sei es mit ihrer Beherrschung vorbei gewesen. Noch habe sie zwar die Gewalt gehabt, aufrecht und gefaßt an das Bett ihres Mannes zurückzukehren und den Unglücklichen einen Augenblick zu betrachten. Sowie aber Neefe unter einem gräulichen Fluch die blutunterlaufenen Augen geöffnet und auf sie gerichtet habe, sei ein gelles, fast unmenschlich klingendes Schreien über sie gekommen und habe sie aus dem Hause, die Vogelsdorfer Straße hin, über den Zackensteg in den Pfarrhof getrieben. Wieder stumm geworden, aber windschnell wie ein Gespenst, sei sie zu ihrem Onkel, dem Pfarrer Kelwel, geeilt und vor dem erschrockenen Greis zusammengebrochen, der eben darüber her war, sich zur Ruhe zu begeben.

Agnete schüttete alles aus, was an Angst und Verzweiflung in ihrem Herzen zitterte, den ganzen Abscheu vor dem Schlosser Witschel, den sie einen Mörder nannte, stockte erschrocken, umfaßte die Knie des Hochbetagten, der sich vor Schwäche auf einen Sessel niedergelassen hatte, und raste dann wieder los in Anklagen gegen Gott, und gegen alle Welt. Das arme Weib wurde von Wirbeln geschüttelt, so daß der bekümmerte Greis nicht zu Worte kommen, sondern nur mit zitternder Hand ihr über den Kopf streicheln konnte, wie einem unsinnig gewordenen Kinde.

Als sie aber fessellos sich gar zu Anklagen gegen ihren Mann fortreißen ließ, ging ein Stoß durch den alten Kelwel. Er hob mit unsanftem Ruck ihren vergrabenen Kopf, sah strafend in ihre überströmten Augen und fragte verweisend: »Wie, du liebst Alexander nicht?«

Darauf drückte Agnete ihren Kopf aus seinen Händen und beteuerte unter Wimmern und Beben die Liebe zu ihrem Manne, klagte sich mit gehauchten Worten der Unwahrheit an, und bat zum zehnten Male ihren Onkel um Rettung. Da half ihr der gefaßte Greis auf die Füße, stand eine Weile mit zugefallenen Augen überlegend vor ihr, und gebot ihr dann mit gütig klaren Worten, das Unglück als eine Heimsuchung Gottes anzusehen, von dem Streit zwischen Neefe und Witschel zu niemand auch nur mit einer Andeutung zu reden, alles Gott anheimzustellen, und nun nach Hause an ihre Pflicht zu gehen. Dann machte er segnend das Kreuz über sie und versprach, ihr immer beizustehen. Betend verließ Agnete den Pfarrhof, betend kehrte sie zu ihrem Mann zurück.

Dieses Gerücht, das unverkennbar die Merkmale vielfältiger Erfindung an sich trug, erschütterte die liebe Christine in ihre erwachende Mütterlichkeit doch dermaßen, daß sie alle Bedenklichkeiten überwand, und nach Erzählung des Gehörten ihren Jochen dringend zum gemeinsamen Besuche Neefes aufforderte. Denn es waren indessen drei Wochen vergangen, die Kunst des geschickten Arztes hatte den Kranken aus jeder Lebensgefahr gebracht und Agnete, das erfand die gute Christine dazu, hatte sie durch die Pfarrer-Theresel um einen Besuch bitten lassen.

Der Gerber hörte sich alles ruhig an, bewegte gedankenvoll den Kopf, halb verneinend, halb bejahend, und sah darauf lange zum Fenster hinaus.

»Ja, mein liebes Christel!« sagte er dann aus schwerer Brust und verließ die Stube. Nach einer Viertelstunde kehrte er zurück, legte die Hand auf ihre Achsel und sprach: »Nun. Gefallen oder geschmissen, das ist nicht unsre Sache. Da hast du ganz recht. Also, morgen oder übermorgen gehen wir beide hin.«

Noch am Abend desselben Tages, an dem diese Unterredung zwischen Jochen und Christine stattfand, lief die Nachricht über den Zustand des alten Kelwel in das Gerberhaus auf der Feldgasse, daß der ehrwürdige Greis seit dem Unglück Neefes immer hinfälliger geworden sei, und in den letzten Tagen das Bett nur mehr auf kurze Stunden verlasse, ohne aber an einer ausgesprochenen Krankheit zu leiden. Deswegen entschloß sich Jochen Maechler, den Besuch bei Neefe nicht um einen Tag länger zu verschieben, weil er damit die Ablieferung des Begräbnisgeldes für seinen Vater auf dem Pfarrhof verbinden wollte, denn er vermutete, der liebe Greis habe ohne Rücksprache mit seinem Rendanten die Beerdigungskosten nur nach dem Gebot seines guten Herzens bemessen, und nach dem Tode Kelwels könne es wohl geschehen, daß man nach der amtlichen Gebührenordnung von ihm eine erheblich höhere Summe verlange. Diese Überlegung hatte durchaus ihre Berechtigung, weil es bekannt war, daß, zum Leidwesen des milden geistlichen Herrn, der kleine Greff, ein früherer Apotheker, der die Rendantur des Pfarrers ehrenamtlich versah, die kirchlichen Außenstände mit einem unerbittlichen Pfennigrechen in die Kasse riß, alles natürlich zur Ehre Gottes, die nicht zu kurz kommen durfte.

Deswegen drängte zum Verwundern Christines Maechler schon am anderen Tage, nicht lange nach dem Mittagessen, auf den Besuch bei Neefe. Und während die beiden durch stillere Gassen der Vogelsdorfer Straße zustrebten, überschlug der Gerber noch einmal seine innere Einstellung zu dem Inspektor. Christine aber war ganz erfüllt von der Sorge, wie sie die niedergebeugte Frau Neefe antreffen, und ob es ihr gelingen werde, der Heimgesuchten wirklich seelenhaft zu helfen. Denn sie selbst war in den paar Wochen aus ihrer allen zuversichtlichen Lebensrührigkeit in ein ganz anderes Wesen gedreht worden, in eine gesteigerte Empfindsamkeit und ein Aufderhutsein vor allerhand Gefahren. Deswegen erklärte sie Jochen, vor Neefes Haus angekommen, daß es ihr unmöglich sei, den Verunglückten zu sehen. Vorsichtig öffnete sie die Haustür, spähte mit furchtsamer Neugier durch die offene Hoftür auf das völlig menschenleere Hinterhaus mit der Werkstatt des Schlossers Witschel und stieg dann achtsam, als müsse sie fortwährend Blutspuren ausweichen, die Unglückstreppe hinauf. Kopfschüttelnd folgte ihr der Gerber und bemühte sich auch wie sie, lautlos aufzutreten. Auf dem oberen Flur angekommen, holten sie tief Atem und Christine, die doch heimlich schon öfter hier gewesen war, gab sich den Anschein, nicht zu wissen, an welcher der beiden Türen man sich bemerkbar machen müsse, an der, die offenbar in ein Hofzimmer führte oder an der vorderen. Nach einigem Stutzen brummte der Gerber mit seinem tiefem Baß, daß das doch egal sei. Aber Christine hielt ihm den Mund zu, und bewegte sich dann auf den Zehen nach der hinteren Tür zu, wo die Küche lag. Ehe sie anklopfte, hustete sie aus Erregung und Betretenheit leise. Da öffnete sich die Tür und Agnete stand ihnen gegenüber, reckte betroffen ihren noch mehr abgefallenen schlanken Körper, Freude und Schreck malten sich auf ihrem blassen Gesicht, ihre schmalen Lippen lispelten irgend etwas, und im nächsten Augenblick lagen sich die beiden Frauen schluchzend in den Armen.

»Liebste Frau Maechler!« – »Liebe, liebe Agnete«, flüsterten sie immer wieder, während der Meister dastand und nicht wußte, was er machen sollte, in die Taschen griff und endlich den Brief des Pfarrers erwischte. Da war er wieder bei sich und dachte, dann muß ich in den Pfarrhof.

Indessen hatten die beiden Frauen sich aus der Umarmung gelöst, und der Meister ergriff die Gelegenheit, nun auch in seiner Art von dem Schrecken zu sprechen, in den er und seine Christel durch die Nachricht über den Unfall Neefes versetzt worden seien. Er tat das mit seiner tiefen rumpelnden Stimme, daß das Treppenhaus leise dröhnte und Agnete unter vielen Entschuldigungen ihn ängstlich bat, leiser zu reden, weil der Kranke eben ein wenig eingeschlafen sei.

»Nehmen Sie mirs um Gottes willen nicht übel«, wisperte sie furchtsam und ergriff seinen Arm, »lieber Herr Maechler, der gute Alex ist oft nicht wiederzuerkennen. Er konnte doch sonst keiner Fliege was antun. Der Onkel Pfarrer sagt's auch. Nein, es ist nicht wahr, was die Leute sagen.«

Sie war, ohne es zu wissen, selber etwas lauter geworden, und ehe Maechler sie gütig trösten konnte, schrie aus einem der inneren Zimmer der Inspektor mißklingend und zornig:

»Agnete! – Agnete!! – Zum Donnerwetter.«

Daß die arme Frau zusammenfuhr, aber sich sofort faßte, die Tränen aus den Augen riß und liebevoll antwortete:

»Ja, ja, Alex, gleich.«

»Verzeihen Sie, ich komme gleich wieder«, sprach sie fliegend zu den beiden und verschwand hinter der vorderen Tür, die sie sorgfältig zumachte.

»Da ist die Wohnstube und dahinter liegt das Schlafzimmer«, erklärte Christine.

Jochen nickte und sagte:

»Na ja. Ich geh allein zu ihm. Du kommst auf keinen Fall mit, sondern bleibst bei der Frau und tröstest sie. Am besten, wir könnten beide gleich abschieben.«

»Aber Jochen!«

»Ja, natürlich!« antwortete der Gerber finster auf den Vorwurf seiner Frau und suchte nach neuen Worten. Ehe er aber zum Sprechen kam, hörten sie drin etwas polternd umfallen. Dem Geräusch folgte eine atembeklemmende Stille, daß beide lauschend den Kopf hoben. Aber es ereignete sich nichts mehr. Weiter drinnen ging vorsichtig eine Tür. Schwebende Schritte folgten und im nächsten Augenblick stand Agnete vor ihnen mit einem tapferen Lächeln im verhärmten Gesicht.

»Ja, ja, 's ist alles gut«, sagte sie behutsam in ringender Güte. »Er ist merkwürdig frisch nach der Prise Schlaf und freut sich so über Ihren Besuch. Bitte!« Damit öffnete sie die Tür zum Wohnzimmer weit und trat zur Seite.

»Ich geh natürlich allein hinein. Christine bleibt indessen bei Ihnen, bis ich wiederkomme«, sagte Jochen leise und setzte sich in Bewegung.

»Aber nichts übelnehmen«, flüsterte Agnete ihm bittend zu.

Der Meister schüttelte beruhigend den Kopf und öffnete entschlossen die Tür zum Schlafzimmer.

Der Kranke lag gekrümmt im zerwühlten Bett, das Gesicht halb im Kopfkissen vergraben und hob es auch nicht auf den gütigen Gruß Maechlers, sondern lachte leise und höhnisch dazu, so, daß der Meister betroffen an der Tür stehenblieb.

»Na immer komm. Komm ruhig näher. Ich bin nicht giftig«, sagte Neefe bitter, und drückte das Kopfkissen nieder, daß sein eingefallenes, fahles Gesicht mit den verzehrend weiten Augen und dem breiten Mund ganz zu sehen war. Die schmalen Lippen bebten fortwährend wie von unterdrückten zornigen Worten, daß Maechler ihn sprachlos voll tiefer Ergriffenheit anstarrte.

»Ja, ja! Hahaha!« lachte der Inspektor in höllischer Lustigkeit. »So seh ich aus! Seid Ihr nun zufrieden? Der Rücken zerschlagen. Das Becken verrenkt. Nun könnt Ihr ungestört weitermudeln und Euch wieder gegenseitig in die Hosen pissen. Prost Mahlzeit, hahaha!« dabei hob er den rechten Arm, um ihn bekräftigend auf das Deckbett zu schlagen.

Aber Jochen sprang erschüttert ans Bett, fing die abgezehrte Hand auf und drückte sie herzlich.

»Lieber Neefe, sei nicht ungerecht«, sagte er in tiefer Bewegtheit, »du hast ein Unglück gehabt und mußt's halt tragen. Gegen das Schicksal gibt's eben nur dies eine Kraut. Böse und wütend sein hilft sicher nicht. Du bist doch auf gutem Wege. Niemand gönnt dir das Unglück. Ich sicher nicht. Neefe, du, und noch eins: du hast eine so gute, liebe Frau. Nimm dich um ihretwillen zusammen. Sie ist ja bloß noch ein Schatten, und wenn sie vollends zusammenklappt, hast du's dann besser?«

Jochen hatte sich auf den Bettrand gesetzt und streichelte seine kalte Hand, während er ihm mit geheimer Überwindung gütig zuredete.

Neefe lag lange unbeweglich und sah starr gegen die Decke. Dann fing er an, erst weichmütig und fast unhörbar leise zu sprechen:

»Freilich, freilich … du hast recht … und die liebe Agnete auch … ja ja … was kann der Mensch? – Aber«, damit riß er seine Hand jäh unter der Maechlers weg … »aber das Aas, das verfluchte Aas«, schrie er wild, »die Treppe … ich mein natürlich nur die Treppe … das Luder!«

Maechler faßte seine beiden Hände, denn der Kranke zitterte am ganzen Leibe.

»Lieber, Lieber!« sagte er beschwörend.

»Gar nichts Lieber … ein Hund ist es … ich mein die Treppe … geh weg, Maechler, auch du. – Ich weiß, daß es alle ist mit mir. Denn als Krüppel mag ich nicht leben … Alles muß runter … reiner Tisch! reiner Tisch!! Ich habe gelogen vor aller Welt: dein Vater hat meinen doch ins Wasser gestoßen und du hast hinter dem Schlosser Witschel gesteckt … Raus, raus!«

Jochen sprang auf und sah entsetzt den Tobenden an, dessen Gesicht eine bläuliche Färbung annahm. Dann ging er rücklings aus der Tür, während Neefe die Augen wie zum Schlaf schloß.

Im Wohnzimmer traf er auf Agnete, die auf Neefes Geschrei herbeigestürzt war. Er stützte die Verzweifelte, die am Umsinken war, und führte sie gewaltsam auf den Flur.

»Nein, jetzt dürfen Sie nicht hinein, liebe Frau. Er kennt sich nicht. Mein Gott, das hätte ich nicht geglaubt.«

Agnete versuchte immerfort, sich loszumachen und zu ihrem Mann zu gehen. Endlich gab sie das Ringen auf und lehnte sich erschöpft an die Wand. Nach einigem Starren vor sich hin sank sie, die einen halben Kopf größer war, auf Christines Schulter, umfing, Schutz suchend, ihren Leib und begann ganz leise, fast wohllautend zu weinen wie ein Kind vor dem Einschlafen. Frau Maechler sah auf und gab Jochen mit den Augen ein Zeichen. Der Gerber nickte und sagte barmherzig leise:

»So ist es gut, liebe Frau Agnete. Um Neefe brauchen Sie keine Angst zu haben. Als ich rausging, hatte er schon die Augen geschlossen und schläft jetzt sicher nach der Anstrengung. Ich geh jetzt in den Pfarrhof nüber, wo ich zu tun habe …«

Agnete fuhr auf:

»Aber nichts meinem Onkel sagen! Versprechen Sie mir's in die Seele hinein. Sonst stirbt er vor Gram.«

»Da haben Sie keine Sorge, ihm nicht, keinem Wilkauer, niemand auf der Welt. Am besten ist's, Sie gehen mit Christel in die Küche. Ich komm dann und hol sie ab.«

Vorsichtig stieg er die Treppe hinunter. Agnete sah ihm großäugig nach, als bedeute sein Fortgehen eine Entscheidung über ihr Leben. Als drunten die Haustür ins Schloß fiel, fuhr sie erschreckt auf und umklammerte Christine aufs neue.

»Ach Liebe, Liebste«, stammelte sie, »du glaubst nicht, wie gut mein Mann ist. Nein, es ist nicht zu sagen! So wie er nach unserm Besuch bei Euch war, ist er selten gewesen. Und nun, nach so einem Glück! – Wenn er stirbt und der Onkel, bin ich ganz allein auf der Welt – und mein Kind auch.«

Damit vergrub sie in Scham ihr Gesicht aufs neue an Christines Brust und bebte am ganzen Leibe.

»Du auch?« fragte flüsternd Frau Maechler.

Agnete nickte.

»Da dürfen wir uns nicht aufregen. Das schadet dem Kinde«, sagte Christine.

Dann umarmten sich die beiden Frauen innig, als schlössen sie einen Bund fürs Leben und gingen vorsichtig in die Küche.

*

Jochen hatte indessen den Pfarrhof erreicht und klingelte an der Eingangstür.

Die alte Therese erschien kummervollen Gesichts und fragte, ohne aufzusehen, was erwünscht. Als Maechler sein Begehrens kund tat, den Herrn Pfarrer zu sprechen, hob sie das Gesicht und erkannte den Gerber.

»Ach Sie sind's, Herr Maechler! Nehmen Sie mir's nur nicht übel. – Ach Gott, Hochwürden geht es gar nicht gut. Da ist man selbst nicht beisammen. Was wollen Sie denn?«

»Es ist wegen des Briefes, den er mir vor vier Wochen durch den Herrn Inspektor Neefe gegeben hat.«

»Aha!« rief sie ärgerlich und fügte böse hinzu: »der Herr Inspektor Neefe! Lassen Sie mich in Ruh!« Faßte sich aber und sagte liebenswürdig, sie wolle den hochwürdigen Herrn fragen. Er sah sie den Flur hineilen.

Dann erschien sie wieder und winkte ihm erhellten Gesichtes.

»Ja, ja, kommen Sie, Herr Maechler«, flüsterte sie glücklich. »Wie er Ihren Namen gehört hat, ist er richtig aufgelebt. Kommen Sie schnell. Er sagt, es sei was Wichtiges.«

Der Gerber faßte nach dem Brief Kelwels in der Brusttasche und folgte der eilig voranschreitenden Alten. Doch schon nach wenigen Schritten ertönte vom Ende des Flures her ein Klingelzeichen, und man hörte den Pfarrer schwach rufen.

»Jesus Maria, was hat's bloß wieder!« stotterte Therese und griff nach ihrem Herzen. »Bleiben Sie hier stehn. Ich komme gleich wieder.«

Wie ein geständerter Vogel strich die Alte ab.

Es dauerte lange, ehe sie wieder erschien. Jochen Maechler griff den Brief des Pfarrers immer wieder durch, steckte ihn ein und zog ihn abermals aus der Tasche. »Da geht ja alles durcheinander«, murmelte er dabei. Endlich ging leise die Tür zu Kelwels Zimmer, und Therese drückte sich heraus, die Schürze vor den Augen.

»Ach, du gütiger Himmel, Herr Maechler«, flüsterte sie unter Schluchzen: »'s war bloß gut, daß ich gleich bei der Hand war. Wie ich reinkomm, hatte Hochwürden schon wieder die Schwäche, lag wachsbleich mit blauen Lippen und kriegte kaum Atem. Da hab ich ihn hochgerissen, Betten untergestopft, Hoffmannstropfen gegeben, die Füße gerieben und was man so macht. Deswegen hat's so lange gedauert, Herr Meister. Jetzt ist er wieder bei sich. Gott sei Dank! Nee, Herr Maechler, es reißt einen noch mitten durch: das erste, was Hochwürden machte, wie er wieder zu sich kam, war, daß er lächelte, ich sag Ihnen, rein wie ein Heiliger. Und an allem ist dieser verfluchte … man wird sich noch versündigen … nee, ich darf nicht! Ja so … und er läßt Ihnen sagen, leider kann er Sie nicht empfangen. Er läßt Sie mit Gott von Herzen grüßen und Ihnen alles gute fürs Leben wünschen. Er kann nicht dafür, und mit dem Geld sollen Sie zu Herrn Greff gehen.«

Therese war erschöpft und ging mühsam mit Maechler einige Schritt zurück.

»So!« sagte sie abgeschlagen stehenbleibend. »Gelobt sei Jesus Christus! Dort unten, die letzte Tür links. Da ist's. – Grüßen Sie ihre Frau!«

Der Rendant Greff, der unter dem Volke der Gartenzwerg genannt wurde, saß wie ein bärtiger Hase, der ein Männchen macht, hinter dem Tisch. Er erwiderte des Gerbers Gruß amtlich, sträubte aber aufs gütigste die Schnurrhaare dazu, offenbar um seine bedeutsame Haltung christlich zu mildern, bot ihm einen Stuhl an und fuhr, als er des Meisters Begehren gehört hatte, wie ein Wiesel auf den Aktenschrank los. Er zog dies und das und noch ein Faszikel heraus, sagte mit seiner hohen öligen Stimme in einem fort: »Schön … gleich … haha …«, saß wieder am Tisch, blätterte, tippte und schrieb, kurz, arbeitete wie ein kleines Maschinchen unter Volldampf.

Nach wenigen Minuten hatte er die Beträge aus den verschiedenen Schriftstücken zusammengetragen. Und während er sie summierte, erhellte sich sein Gesicht immer mehr, bis er glücklich ein Quittungsformular ausfüllte und es strahlend dem Gerber überreichte.

»Bitte, Herr Maechler, 337 Mark fünfzig Pfennig.

Er sagte nicht Pfennige, sondern Pfennig, weil das eindringlicher, lapidarer klang. Der Gerber warf flüchtig einen Blick auf das Dokument, legte es schmunzelnd auf den Tisch und sagte beiläufig:

»Ja, schön.«

Dann kramte er umständlich in der Brusttasche nach dem Brief des Pfarrers, während der Gartenzwerg immer ungeduldiger dem »blöden Hantieren« zusah, wie er innerlich erbost das Betragen des Meisters nannte. Doch kam Maechler endlich mit seinen Vorbereitungen zurande, glättete mit seinen großen braunen Händen vorsichtig das Briefblatt des Pfarrers und reichte es dem erstaunten kirchlichen Geldhasen mit den einfachen Worten:

»Na ja. Da ist etwas anderes.«

»Was soll denn das heißen?« fragte Greff und nahm zögernd den Brief in Empfang.

Maechler ruckte die Schultern und entgegnete ruhig:

»Lesen Sie nur, Herr Rendant.«

Greff las, runzelte die Stirn, las abermals die gütigen Worte des Pfarrers, holte ratlos Atem, drehte das Schriftstück um, musterte die leere Hinterseite und stippte dann entrüstet das Blatt auf den Tisch, was heißen sollte: da schlag doch der Hagel rein! Darauf lief er einigemal in dem engen Raum hin und her, um sich zu fassen.

Da hatte er es, kehrte langsam zu Maechler zurück, reckte sein kleines Figürchen vor dem mächtigen Gerber in die Schultern und sagte leise, aber drohend:

»Hier, Herr Meister, ist die amtliche Kanzlei. Was Sie erhalten haben, ist nur ein Privatbrief.«

Dabei sträubte er die Schnurrhaare, aber nun ohne christliche Abschwächung.

»Haha«, entgegnete Maechler gelassen, »aber mit der amtlichen Unterschrift des Herrn Pfarrers.«

Greff kehrte hinter den Tisch zurück und schippte mit der Hand einige Stäubchen von der Platte, die gar nicht da waren.

»Wer hat Sie zu mir geschickt?«

»Der Herr Pfarrer.«

»Jetzt?«

»Ja.«

»Er ist ja seiner Sinne nicht mehr mächtig.«

»Gott sei's geklagt.«

In Maechlers Stirn grub sich die tiefe Falte und er schloß seine Hände zur Faust.

Nach dieser Überwindung antwortete er so ruhig wie vorher.

»Das gehört nicht zur Sache. Der Brief ist vor vier Wochen geschrieben worden. Sehn Sie das Datum nach.«

Greff tat es und nickte bestätigend.

Darauf sagte Maechler, nun nachdrücklich:

»Da war Hochwürden, wie Sie sagen, noch nicht geistig gestört.«

»Was erlauben Sie sich, Herr Maechler! Ist mir nicht eingefallen«, brauste der Rendant auf, daß seine hohe Stimme wütend pfiff.

»Haben Sie gesagt.«

Maechler ließ seinen Baß nun ungehindert rumpeln.

»Nein und dreimal nein!«

»Ja, und wenn Sie wollen, gehen Sie vors Gericht.«

Greff sprang auf und lief ratlos durch den Raum bis vor das Kreuz im Hintergrunde. Nachdem er einige Augenblicke davor verharrt hatte, schlug er sich segnend dreimal an die Brust und kehrte dann sanftmütig an den Tisch zurück, nun zum schüchternen kleinen Hasen geworden.

»Mein lieber Herr Maechler, vergessen Sie alles, was ich gesagt habe. Ich bitte Sie um Jesu Christi willen. Sie glauben nicht, wie der dreimal gütige Herr Pfarrer mir das Leben schwer macht. Wenn ich nicht darauf hielte, hätte die Kirche schon keinen Ziegel mehr auf dem Dache. Schenken ist gut. Aber Ihre Sache hat er doch hauptsächlich wegen seinem sauberen Herrn Schwieger gemacht. Wegen dem!«

Er biß, um eine Beschimpfung zu unterdrücken, wütend seine langen Nagezähne aufeinander.

Maechler sah und hörte unbewegt alles, erhielt die ordnungsmäßige amtliche Quittung und mußte nur des Pfarrers Brief zur Abschrift für die Akten dalassen. In Frieden schieden die beiden Männer voneinander.

Als Jochen Maechler wieder auf die Straße trat, war es schon Abend geworden, noch nicht ganz dunkel und auch nicht mehr hell, die reine Zwischenzeit zwischen Tag und Nacht, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, auch vielleicht ähnlich der Zeit zwischen Lebensaltern, in der das Schwanken aller Sicherheit unsere Sinne zu schärfster Anspannung bringt.

Die Trensdorfer Straße, die er hinabsah, kam ihm ganz unwirklich vor, verklärt und drohend in einem, und er erinnerte sich der Erzählung, daß sein Vater an derselben Straße zu Anfang des 66er Krieges sich den in Karriere flüchtenden Schreiberhauer Bauern entgegengestellt und mit ungeheurer Kühnheit das erste Paar Pferde ins Stehen gerissen hatte. Wozu kam ihm dieser Gedanke, und das ausgerechnet in diesem Augenblicke, da er der Überzeugung war, unter einen wichtigen Abschnitt seines Lebens den Schlußstrich gezogen zu haben? Neefe war für immer abgetan, seinem Schatz zur Sicherung seines andersgerichteten Wirkens drohte nach der Bezahlung der Kirchenrechnung keine Gefahr mehr. Denn nun sollte ihn nichts, nichts mehr von dem Wege abbringen, den er seiner Mutter gelobt hatte, und der nicht im Tode eines zermürbten Einsamen auf einer Gartenbank enden sollte. Warum überfiel ihn gerade jetzt der Gedanke an eine sagenhaft gewordene Siegtat seines Vaters? Hatte er ihn innerlich noch nicht ganz überwunden? Jochen war wieder in den weiträumigen Untergründen seines Wesens und wußte gar nicht, daß er die Trensdorfer Straße hingegangen, rechts abgebogen und in der Richtung nach der Vogelsdorfer Straße auf dem Steg über den Zacken angekommen sei. Auf der Mitte des schmalen Steges wachte er aus seinem Traumsinnen auf und erinnerte sich, seiner Frau das Versprechen gegeben zu haben, sie nach seinem Geschäft auf dem Pfarrhofe im Hause Neefes abzuholen. Das war unmöglich. Der Aufenthalt im Pfarrhof hatte zu lange gedauert. Christine war sicher schon nach Hause zurückgekehrt, und er schüttelte sich bei der Vorstellung, das Haus Neefes noch einmal zu betreten.

So überließ er sich wieder seinem inneren Treiben, kehrte auf den Zackensteeg um, geriet abermals auf die Trensdorfer Straße, bog bald links, bald rechts ab und ging großäugig, alles sehend und nichts bemerkend, richtig wie ein Nachtwandler oder ein Tier mit geheimnisvollem Orientierungssinn weiter, bis er sich erstaunt im Berggarten befand, stehen blieb, die indes eingetretene Finsternis rundum musterte und angestrengt grübelte, wozu es ihn eigentlich hierher geführt habe. Tastend ging er weiter und fühlte bald einen halb verrasten Weg unter den Füßen, den er verfolgte, bis er an die Bank stieß, auf der sein Vater den einsamen, abseitigen Tod eines Vergessenen gefunden hatte.

Kaum war er mit dem Knie gegen die Bank gefahren, als die Willens- und Vorstellungskräfte, die ihn unterirdisch geführt hatten, eruptiv den fertigen Entschluß in sein Bewußtsein entluden. »Aha!« rief er erleichtert, wie von einer letzten Last befreit, und führte ohne Besinnen den Befehl seines geheimen Wesens sofort aus, trat und riß die morsche Totenbank seines Vaters auseinander und verstreute die einzelnen Teile weitum in dem Felde. Dieses Hin- und Wiedergehen mit den Pflöcken, Latten und Brettern nahm lange Zeit in Anspruch. Aber Maechler war so im Banne der unterirdischen Mächte, daß er die Dauer seiner Tätigkeit nicht merkte und nur von der Furcht bedrängt wurde, sein gestorbener Vater könne auf irgendeine gespensterhafte Weise der Vernichtung seines letzten Ruheplatzes auf Erden widerstehen. Aber es geschah nichts, kein Aufwachen seiner unsichtbaren Gestalt vor seinen Füßen, kein fühlbares Wandeln neben ihm, kein Unlaut des Widerstrebens oder machtlosen Schmerzes um ihn.

Als Jochen Maechler den letzten Pflock unter das dichte Gesträuch eines Grabens geschoben hatte, atmete er erlöst auf und verweilte lange im Anschauen des Riesengebirges, dessen schöner Kammzug sich beim Scheine des aufgehenden Halbmondes klar durch die Macht bewegte, und als gar ein weißes Wölkchen heraufkam und wie ein seliger Himmelswanderer über Kuppen und Joche hinschwebte, stieg in dem Gerber ein inbrünstig dankbares Gefühl gegen die geheimnisvollen Mächte auf, die ihn hierher geführt hatten und überhaupt so sicher durch das Leben leiteten.

Und während er befreit nach Hause ging, sah er in der Erinnerung immerfort das weiße Wölkchen geruhig den Kamm hinschweben wie eine schöne, verklärte Frau, und verglich die Erscheinung mit der schrecklichen Drude, von der seine Kindheit jahrelang gepeinigt worden war. Denn er stand in der Zwischenzeit zweier Lebensalter, in der die halbverwehten Schatten der Familienvergangenheit und traumhafte Weiser der Zukunft vor unserm zwiegesichtigen Geiste aufsteigen. Als er in seinem Hause anlangte, war Christine im Begriff zu Bett zu gehen. Sie erkannte an seinem freigesammelten Gesicht und der ungezwungen aufrechten Haltung, daß er die schlimme Szene mit Neefe sieghaft überwunden habe und fragte nicht, wo er so lange gewesen sei, weil sie wußte, daß er sich durch sein gewohntes Feldschweifen wieder zurechtgerückt habe.

Dann saßen sie noch eine Weile am warmen Ofen. Jochen erzählte von den Vorgängen im Pfarrhause mit Kelwel und dem pfennigsüchtigen Greff, und Christine ließ ihn das von der armen Agnete wissen, was sich für einen Mann schickt, daß Neefe die ganze Zeit ihres Dortseins nach dem gütigen Zureden seiner Frau geschlafen habe, und daß das geplagte Wesen gerade in solchen stillen Stunden unter der Furcht leide, jetzt und jetzt werde das Hammerpinken in der Schlosserwerkstatt aufklingen und der schreckliche Mensch stürme aufs neue in ihre Wohnung.

*

Einige Tage später sank der greise Kelwel, durch einen stillen Schlag angerührt, im Lehnstuhl sitzend, friedevoll lächelnd in den Tod, nach dem er sich seit Neefes häßlichem Unglück geheim gesehnt hatte. Ganz Wilkau, Evangelische wie Katholische, folgte seinem Sarge auf den Friedhof. Nach der Rede des Rehberger Erzpriesters sprach auch der vor kurzem aus Berlin nach Wilkau versetzte evangelische Geistliche, Kutzner, ergreifende Worte der Verehrung, des Dankes und Segens über das offene Grab. Denn der Verstorbene, der als fanatischer Kirchenstößer sein Amt in Wilkau angetreten hatte, war durch ein unruhiges, kampfreiches Leben in seinem Herzen und Geiste immer reiner und höher, bis in die Weihe abgeklärten Menschenwesens gegärt worden. Seine Nichte Agnete Neefe fehlte unter der Grabbegleitung, weil sie wegen einer plötzlich eingetretenen ungünstigen Wendung in der Krankheit ihres Mannes genötigt war, ihn sofort in der Klinik eines berühmten Breslauer Chirurgen unterzubringen. Ihre Trauer und Lebenssorge wurde ihr aber etwas erleichtert, weil Kelwel ihr die Nutznießung seines nicht unbeträchtlichen Vermögens testamentarisch auf Lebenszeit vermacht hatte, das nach ihrem Tode der Kirche zufiel.

So konnte sie entlasteter ihrem Mann dienen und sich um ihn sorgen. Im Frühling des nächsten Jahres wurde er aus der Klinik entlassen, zwar mit verrenkter Hüfte und gekrümmtem Rücken, aber doch soweit geheilt, daß bei vernünftigem Verhalten keine Lebensgefahr mehr bestand.

Zu Pfingsten fand die Gründungsfeier des Flottenvereins statt, für die Neefe so leidenschaftlich geworben hatte. Aber nun saß er als ein anderer an dem Vorstandstisch, nicht als der Allrührige, mit Bedeutsamkeit Bewegliche und Wohlredende, sondern ein zusammengehüfeltes, scheues und schüchternes Männchen, das mit verzehrenden Augen alles von unten her musterte und devot mit den nun immer bebenden Lippen seines breiten Mundes sprach.

Jochen Maechler, der auch eine Einladung zu der Versammlung erhalten hatte, überwand sich, traf kurz vor Schluß der Feier im Saale ein und drückte sich unauffällig in eine Ecke, weil alle Stuhlreihen besetzt waren. Aber das bitter spähende Auge Neefes hatte ihn doch wahrgenommen. Ein böses Knittern lief über seine kastenhohe Stirn, und er senkte den Kopf auf ein Blatt Papier, das vor ihm auf dem Tische lag. Ja, als nach den Schlußworten des Kapitäns von Maschitzky das Flottenlied stehend angestimmt wurde, sang der Krumme abgekehrt auf die Wand zu, weil er den Anblick des gesunden, mächtigen Gerbers nicht ertragen konnte.

Jochen Maechler gab sich auch keine Mühe, mit Neefe nachher zusammenzukommen, verließ mit den Ersten den Saal, ohne sich in die Mitgliederliste einschreiben zu lassen und ging gedankenvoll nach Hause.


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