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Erster Teil


1

Die Hand des Todes bringt Sterben und Werden. Je nachdem die Menschen sind, vor denen er sich an einem Nahverbundenen ereignet, klingt entweder das Dunkle in ihrem Wesen auf oder die Welt und der Sinn um das Dasein des Hingenommenen blüht, geheimnisvoll verwandelt, in einem noch nie gesehenen Licht, daß wir uns tiefer und den Verstorbenen reicher verstehen.

Jochen Maechler aber wurde nach dem schnellen Tode seines Vaters weder tiefer in die Schatten getrieben, die aus jedem frischen Grabe in das Dasein der Hinterbliebenen steigen, noch war es ihm seinem ganzen Wesen nach beschieden, das hochgeschwungene Leben seines Vaters sich vielfältiger und ins Lichte verklärt, anzueignen. Wie ein dumpfer Schlag war der Tod Nathanael Maechlers gegen das Gerberhaus auf der Feldgasse zu Wilkau gefahren, daß das Gewese von dem unerwarteten Geisterstoß aus der Nacht in allen Räumen, bis in die Sparren des Daches hinauf, bebte, und auch das kleine Wuselstädtchen hatte eine Weile an verschlagenem Atem gelitten, als der große Gerber am Schloß vorbei über die Gansertbrücke zu Grabe getragen worden war. Von beiden Kirchtürmen hatte es dem Manne auf seinem letzten Wege alle Glocken singen lassen, der so lange sein Berater, Führer und Meister gewesen war. Bald aber hatte jedes Fenster wieder nach seinem Licht geschnappt, jedes Rad seine Last gedreht und jede Zunge die eigene Sorge gebeutelt. Die letzten Jahre der Zurückgezogenheit, ja vollkommenen Verborgenseins, durch die sich Nathanael Maechler schweigsam an den Todesfrieden herangerungen hatte, waren wie ein immer dichter werdender Schleier gewesen, der das Andenken an die Taten seines weithin wirkenden Lebens verhüllt hatte. Da er sich vor den Wilkauern selbst immer tiefer ins Vergessen gedrückt hatte, war er von ihnen schon zu Lebzeiten vergessen worden und sein Begräbnis löste für eine kurze Weile nur dieses und jenes Ereignis aus seinem Leben in das Licht einer schnell schwindenden Erinnerung, nicht die ganze Fülle dieses Mannesdaseins, das alle Sorge und alle Kraft für das Gedeihen des kleinen Städtchens und des großen Vaterlandes eingesetzt hatte, sondern in dem Andenken der Leute erwachten drastisch und komisch zurechtgebogene Episoden und mißverstandene Aussprüche aus der Lebensfahrt dieses seltenen Meisters. »Ein toter Schweinschädel sei mehr wert wie ein lebendiger Menschenkopf«, sollte er in einer Rede nach dem Königgrätzer Siege auf dem Schloßplatz gesagt haben und ein anderes Mal vor dem großen Unwetter habe er sich zu der Überzeugung bekannt, daß man das Beil ebenso zum Holzspalten wie zum Schädeleinschlagen brauchen solle, die Füße zum Gehen, aber auch zum Treten und Stoßen. In dieser handgreiflichen Verdrehung seines edlen Geistes verrannte sich die Masse gedanken- und seelenloser Maultreter und fand auch keinen Widerspruch darin, daß ein paar Atemzüge später der Ausspruch Nathanael Maechlers kolportiert wurde, Geld sei nicht Geltung, Schreien nicht Ruhm und Verleumdung keine Ehre. Man rührte ohne tiefere Anteilnahme bald mit reinen, bald mit schmutzigen Zungenstecken das Leben dieses durch den Tod wehrlos gewordenen Mannes um und rettete sich aus dem Wust solchen Widersinnes, indem man die Gründe der wirren Nachrede aus seinem undurchsichtigen Charakter erklärte, daß er ein von irgendwoher zugelaufener Rebeller gewesen sei, dem Besserwissen, Klugreden und Allesmachen im Blute gelegen habe, der wohl vieles Gute gewirkt und Rechtes ins Lot gerückt, aber von der starren Hartnäckigkeit, immer und immer nur seinen Willen durchzusetzen, endlich dazu verführt worden sei, das Leben der Menschen in die Wolken und in fixen Traum hinaufzubauen. Das, so meinten die Wilkauer, habe sich zuerst an seinem eigenen Leben gerächt. Seine großen Geschäftspläne seien als Plunder zerstoben, sein Handwerk verödet, sein Geist verfallen und er selbst in seinem Berggarten zwischen dem Gesträuch vom Tode wie eine verflogene Motte aus dem Leben geblasen worden.

Auf diese Weise fanden die Menschen über ihre eigene Überheblichkeit doch den Zuweg zu einer betrachtsamen Nachschau dieses bedeutsamen Lebens, das so ratlos und einsam in den ewigen Schatten erloschen war. Niemand hatte ihm im Tode beigestanden, kein mitfühlendes Herz ihm die letzten bitteren Atemzüge erleichtert, kein beseeltes Auge seinen brechenden Blick aufgefangen. Und als man sich so in das allgemeine Gefühl verloren hatte, dichtete irgendein waghalsiger Spintisterer sein Ende in einen richtigen Spuk um, der von allen nur zu gern geglaubt wurde. Darnach sollte der längst verstorbene Narr Ignaz Wildner, von Nathanaels nahem Ende aus der Ewigkeit gerufen, als zwergenhaftes Männchen zur Mittagszeit im Gerberhaus erschienen sein und unter weinerlichem Geschrei seinen Sohn und seine Frau nach dem alten Maechler gefragt haben. Und da die beiden Erschrockenen sein wirres Getue nicht verstanden hätten, sei er ohne Gruß wieder aus dem Hause verschwunden, habe von der Sandbrücke einen mißfarbenen Ballen ins Heidewasser gespuckt und wäre dann mit einem leisen Knall spurlos in der Luft verschwunden.

Von dem geheimen Ringen Nathanael Maechlers gegen die Schicksalsverkettung seines Lebens und um das Glück mit Lotte, seiner Frau, wußte keiner von den Maulschwärmern etwas, die wahllos Schatten und Schimmer hinter dem Erdverschwundenen herbliesen. Ja, selbst Jochen, sein Sohn hatte nicht mehr als eine unbestimmte Ahnung von den geheimen Strömen, die das Leben seiner Eltern getragen und verschluckt hatten. Nicht mehr kam ihm bis in die frühe Kindheit zum Bewußtsein, als daß in seinem Vaterhause von jeher ein anderes Leben geherrscht hatte, wie unter allen Wilkauer Dächern, tiefer, gefährlicher, glücklicher, drohender, weiter und unterwühlter wie je in einer der Familien, in die er später Einsicht erhalten hatte. Was das aber war, was Vater und Mutter strahlend umwoben, dunkel auseinandergedrängt, sieghaft beflügelt und drückend belastet hatte, das blieb ihm verborgen. Nur daß es in früher Zeit etwas Rätselhaftes gegeben hatte, von dem lange Jahre Furcht, Angst, ja Grauen in seinem Leben zurückgeblieben war, dessen erinnerte sich Jochen Maechler noch heute ganz genau. Als ihm das zum erstenmal widerfuhr, steckte er vielleicht noch im Röckchen oder in den ersten Klapphosen.

Da ging in der Nacht, als ihn der beginnende Schlaf wohlig um das Traumpförtlein taumeln ließ, die Tür zu der Stube auf, in der er mit seinen Eltern lag. Die schliefen schon, deswegen konnten sie weder sehen noch hören, was geschah. Die Tür öffnete sich leise wie eine Feder durch die Luft fliegt und etwas wehte sich von draußen herein, weder Mann noch Frau, ein langer Wisch, dunkler als das Dunkel, durch das es sich unhörbar immer näher an sein Bettchen heranschob und eine Beklemmung mitbrachte, die ihm den Atem ganz in der Brust einklemmte, als das Schattenwesen bei ihm angekommen war. Einen Augenblick verhielt sich der Balg ganz regungslos, wie im Überlegen, was zu tun sei. Derweil wuchsen zwei Arme, je einer an jeder Seite aus ihm und ein Kopf quoll oben heraus, der vorn kein Gesicht hatte, sondern nur ein drohend-saugender Schlund war. Als er damit fertig war, neigte er sich mit gebreiteten Armen über ihn, um ihn heraufzuheben, in den Schlund zu stopfen und mit ihm zu verschwinden. Da schlug Jochen voll Entsetzen gegen die Erscheinung und schrie so laut auf, daß er von Sinnen kam. So wie er aber die Augen öffnete, sah er seine Mutter neben dem Bett stehen, die sein Gesicht streichelte und ihn frug, was denn eigentlich geschehen sei. Da löste sich sein Grauen in Weinen auf. Aber zu sagen, was sich ereignet hatte, wagte er nicht, denn die geheime Furcht hielt ihn davon ab, daß das namenlose Wesen durch sein erstes Wort wieder zurückgerufen werde, unsichtbar an sein Bett trete und, sei die Mutter wieder auf ihrem Lager, ihn mit den Schattenarmen doch ergreife und durch den Schlund in der Finsternis der ganzen Welt verschwinden lasse. Deswegen, dessen erinnerte sich Jochen Maechler genau, habe er immer das Deckbett über den Kopf gezogen, um sich im stillen ungestört ausweinen zu können. Nie hatte er seiner Mutter von diesen Berückungen gesprochen, die sich seitdem oft, später sogar am Tage wiederholt hatten. Nur einmal war es der unermüdlichen Liebe seiner unvergeßlichen Mutter gelungen, sein Schweigen zu brechen. Aber auch da hatte er nicht gewagt, von dem Schattenwesen, der Nachtdrude, zu sprechen, die vom Ungewissen her ihn bedrängte. Er fürchte sich vor der Welt, das war alles, was er ihr gestanden hatte. Ja und damit war er keinesfalls in eine Lüge ausgewichen, sondern bei der Wahrheit geblieben. Denn wirklich, wenn Jochen Maechler nach dem letzten Grunde seiner Zurückhaltung und seines Weltmißtrauens forschte, so fand er in diesen frühen Berückungen die verborgene Quelle für den Schattenrauch, der seitdem über seinem Wesen und seinem Leben lag.

In diese Verdunkelung aus der unerkennbaren Tiefe seines Wesens fielen auch die Schwaden der heimlichen Tücke und des getuschelten Lästerns, das man nun hinter dem Tode seines Vaters herschickte. Nicht, daß er der bösen Arbeit dieser in Essig gekochten Zungen recht gegeben hätte, o nein, Jochen Maechler wußte, daß sein Vater eine lautere Glocke gewesen war. Aber warum hatte es ihn immer gepickt, sie vor jedem dreckigen Ohr zu läuten? Wäre es nicht klüger gewesen, mit ihrem Klange sein Haus, sein Leben und das seiner Familie zu erfüllen und sich nicht in großspurige Unternehmungen, wie den Straßenbau, die Wasserleitung und in nie abreißendes politisches Treiben zu stürzen, ganz zu schweigen von hundert unerfüllbaren Plänen und Ideen, die eigentlich nur auf das Glück der anderen gezielt hatten. Was hatte er damit erreicht? Eine Enttäuschung, die seine Altersjahre mit tiefer Melancholie umdüstert und ihm an der Berggartenbank das Leben verzweifelt ausgepreßt hatte, jetzt aber sein Andenken durch die Straßenpfützen übler Nachrede schleifte.

Doch weder ein jäh wildes Aufbäumen und Losfahren gegen das Kloakengeziefer dieser Ehrabschneider kam in dem Gerber Jochen Maechler hoch, noch brachte er es fertig, sich durch Menschenhaß, durch Stolz und Spott innerlich von der Welt loszubeißen, nein, seine Erkenntnis der Vergeblichkeit der väterlichen Hingabe zum Wohle anderer glich nur dem kühlen Licht der Sterne, deren Schein bis in die fernste Ferne auf dem Grundwasser seines Wesens blinkerte ohne sie jedoch vollkommen zu erhellen. »Ja ja – nein nein!« mit dieser echt schlesischen Sentenz endete er jede heimliche Meditation über den Undank der Welt und die zwecklose Vieltuerei der Menschen; denn, »wer zwei Beine hat, soll nicht mit sechsen laufen wollen«.

Auf diese unheldische Weise druckste er sich durch die dicke Luft nach dem Tode seines Vaters, kaute Unverständliches aus den Stockzähnen vor allen, die ihn zur Rache an den Verleumdern aufreizen wollten und spielte sogar seiner Frau Christine gegenüber den tiefsinnigen Weisen, der sich über »das Gemuffel des Packs« nicht aufregen mochte. Aber die flinken scharfen Augen des dunklen, rührigen Weibes sahen wohl die Wülste ärgerlichen Unmuts auf seiner breiten, schweren Stirn, und sie hörte ihn dumpf mit sich selber murmeln, wenn er am Schabebaum mit dem zweigriffigen Messer in der Werkstelle über den Häuten her war. Allein sie hütete sich, in dieses verborgene Gedankenrühren ihres Mannes einzugreifen, weil sie wußte, daß er damit nichts Schlimmes ausrichtete und am Ende doch wieder in den stillen, steten Trott seines nieversagenden Fleißes fiel, mit dem er das vollkommen zusammengebrochene Handwerk des alten Nathanael wieder heraufgebracht hatte. Nur einmal, als er in gar zu komischem Ernst am Tisch saß und mit dem Daumennagel tiftelnd genau die Jahresrillen der ausgewaschenen Platte entlangfuhr, zupfte sie ihn unversehens am Ohr und rief spaßhaft: »Holla, Jochen, laß den Holzwürmern auch etwas zu tun übrig!« Und da er aus seinem Versinken auffuhr und sie fassungslos ansah, lachte sie ihm einen solch derben Spritzer übermütiger Lustigkeit ins verblüffte Gesicht, daß er ratlos fragte, was es denn eigentlich gebe.

»Windbeutel und Wolkenkuchen mit Nebelstreusel oben drauf. Das gibt es, lieber Jochen«, antwortete sie in fröhlichem Spott und war damit schon aus der Stube gewirbelt.

Das ereignete sich in jener Zeit, lange Wochen nach der Beerdigung des alten Maechler, als die Stimmung in Wilkau schon umzuschlagen begann, daß die Giftspritzer anfingen, sich vorsichtig zurückzuziehen und mit Achselrucken zugaben, daß der Verstorbene immerhin ein ganz honetter Mann gewesen sei, obwohl er als Landfremder einen gehörigen Rucksack voll Fehler durch sein Leben geschleppt habe. Denn daß er den Schlosser Neefe in die Überschwemmung des Heidewassers, nicht gestoßen, nein, aber getrieben habe, dessen wüßten sich die alten Leute noch wohl zu erinnern und der Tod des Gastwirts Kammel und seiner Frau müsse auch auf die Kosten seiner Wasserleitung geschrieben werden. Sie mußten so ihre Verunglimpfungen von immer weiter herholen und immer mühseliger destillieren, daß die rechtlich denkenden, und deren gab es auch in Wilkau eine ganze Menge, endlich von diesem Schandgebläse deutlich abrückten, nachdem sie allerdings wochenlang in geheimer Schadenfreude es geduldet, ja genossen hatten. Dem böswilligen Kesseltreiben um das Grab Nathanael Maechlers und das Gerberhaus auf der Feldgasse wurde aber merkwürdigerweise gerade durch den einzigen Sohn jenes Schlossers Neefe ein Ende bereitet, der von dem alten Maechler verbrecherischerweise sollte in das Heidewasser gestoßen worden sein.

Als siebenjähriger Junge war er damals nach dem Tode seines Vaters im Unwetter des 54er Jahres mit seiner weltverscheuchten Mutter nach Oberschlesien verschwunden, nachdem Haus und Geschäft des Vaters überstürzt an den ältesten Gesellen, mit Namen Witschel, verkauft worden waren. Nun, nach fast vierzig Jahren, tauchte er plötzlich in seiner Vaterstadt wieder auf, lief unauffällig mit entschlossen ausgreifenden Schritten und ein wenig geduckter Haltung durch die Gassen von Wilkau, ohne irgend etwas anderes zu verraten, als daß er gekommen sei, einige Hypotheken einzutreiben, die auf dem verkauften väterlichen Grundstück lagen. Er mietete sich in dem früher Kammelschen Gasthof »Zum grünen Baum« ein und trug sich als Grubeninspektor a. D. aus Lipine ins Fremdenbuch, und benahm sich so, daß es niemand ganz klar wurde, ob er nur zu kurzer Erholung oder wegen Schlichtung des Rechtshandels nach Wilkau gekommen sei, so beiläufig und überlegen lächelnd sprach er von seiner Geldgeschichte mit dem Schlosser Witschel, dem jetzigen Besitzer des väterlichen Anwesens, einem schwerfälligen, trägen Manne, aus dem auch niemand über den Handel mit Neefe einen bündigen Aufschluß herausbohren konnte. Freilich gab er zu, mit den Zinsen seit langem im Rückstand zu sein; »aber deswegen lasse er sich noch lange nicht von einem halben Pollaken alle Nieten aus dem Leibe ziehen.«

So erhitzte sich der Streit der beiden Männer langsam. Neefe schob noch eiliger als sonst in Wilkau hin und her, verlor aber nichts von seiner Heiterkeit, sondern lachte eher noch lauter über den »lieben, armen Witschel« in einer gutmütigen Herzlichkeit, in der jedoch ein gefährliches Drohen mitklang. Allein eines Tages, nach etwa dreiwöchentlichem Aufenthalt, reiste er so unvermutet und unauffällig ab wie er aufgetaucht war. Er sei durch einen Brief der Henckel-Donnersmarkschen Grubenverwaltung zurückgerufen worden, verbreitete Maiwald, der Wirt des Gasthofes »Zum grünen Baum«, und habe die Sache mit Witschel einem Rehberger Rechtsanwalt übergeben. Darauf tat sich der berannte Schuldner wieder gemächlich auf den Bierbänken nieder, als sei alles zu seiner Zufriedenheit erledigt, schmunzelte pfiffig vor sich hin und meinte sarkastisch, daß die oberschlesischen Zeisige auch kein anderes Gesetzlein aufbrächten als die riesengebirgischen, wenn sie auch einen breiteren Schnabel hätten. Damit meinte er den Mund Alexander Neefes, der wirklich über das gewöhnliche Maß, fast bis in die Mitte der beiden Wangen, geschnitten war. Und da es sich nach diesem geschwinden Abflug Neefes herausstellte, daß er während der kurzen Anwesenheit in Wilkau zu einer großen Anzahl wesentlicher Männer unaufdringlich und angenehm in Beziehung getreten war, blieb von ihm in dem kleinen Städtchen allenthalben ein wohltuender Nachklang zurück. Der alte Pfarrer Kelwel nannte ihn eine gute Seele, der Gemeindevorsteher einen gewiegten Kopf. Der bärbeißige Arzt Fohl zuckte wohl etwas ironisch die Achseln, brummte aber doch sein seltenes »brav« hinter ihm her. Nur ein Teil des gewöhnlichen Volkes verhielt sich kritisch gegen den Abgereisten und stimmte lachend in das Urteil eines Mannes aus ihrer Mitte ein, der Neefe mit einer Uhr verglich, die anders geht als sie zeigt. So trudelten noch eine ganze Weile Munkelgeschichten in das Zwielicht hinein, das der abgereiste Alexander Neefe in Wilkau hinterlassen hatte, und eben war man in die Untersuchung der Frage eingetreten, ob er als Grubeninspektor entlassen oder pensioniert worden sei, als Neefe wieder in dem kleinen Städtchen erschien, und zwar diesmal nicht mit dem Überzieher, sondern mit seiner Frau am Arm, und nicht mit einem kleinen Köfferchen, sondern mit Sack und Pack. In lauter Fröhlichkeit dirigierte er seine beiden Möbelfuhren in das Schlosser Witschelsche Haus und machte es dem verdutzten, dicken Meister mit beißendem Lachen klar, daß die Zeisige, die in Oberschlesien singen gelernt hätten, das Gesetzlein doch besser könnten als die riesengebirgischen, und wenn er ihm nicht den ganzen zweiten Stock als Wohnung einräume, so wäre das nicht sein, sondern Witschels Nachteil. Denn er wisse wohl, daß übermorgen der Geldlegungstermin für die gekündigten Hypotheken sei. Wenn ihm aber Platz gemacht würde, so könne sich alles in Ruhe und Frieden abwickeln, wie es unter wohldenkenden Christenmenschen Sitte sei. Witschel betrank sich nach dieser Unterredung bis ins Augenstieren, prügelte seine Frau und zog anderen Tages in das kleine Hinterhaus. Denn er hatte auf seiner lässigen Suche nach einem Geldgeber keinen Erfolg gehabt, weil jede Fahrt mit einem kräftigenden Ermunterungstrunk in einer Schenke begonnen und einem grimmigen Ärgerguß über unnütze Mühe beendet worden war. Darum hatte der Neefe, dieser vermaledeite Halbpolake, wie er polterte, mit seiner hundechristlichen Liebenswürdigkeit schon recht. Da er nicht zahlen konnte, blieb ihm eben keine andere Wahl, entweder in seinem eigenen Hause als zusammengequetschter Aftermieter zu wohnen oder vom Gericht als Habenichts auf die Straße getrieben zu werden. Freilich wurde dieser Entschluß dem aus allen Kleidern quellenden Witschel nicht leicht und quälte ihn, auch nachdem er ausgeführt worden war. Er hieb in seiner Werkstelle mehr mit der Wut als dem Hammer Funken aus dem glühenden Eisen, geriet nach einigen Tagen sogar in einen Zustand fast irrer Aufgeregtheit, daß er nichts mehr als große Nägel schmiedete, mit denen unser Herr Jesus Christus ans Kreuz geschlagen worden sei. Die bot er in allen Gasthäusern zum Kauf an, fluchte sich die Kehle trocken und wankte dann, vor sich hinweinend, in sein »Bettelhaus« auf der Vogelsdorfer Straße zurück. Aber da Neefe die wilden Ausbrüche und Verwünschungen, die Witschel hinter ihm herkochte, nicht mit zorniger Münze zurückzahlte, sondern überall voll Güte und Bedauern von dem armen Schlosser sprach, ja ihn einmal in seiner Stube besuchte und seine Besorgnis wegen der Schuldsumme vorsorglich zerstreute, war der dicke Schlosser mit eins weich wie ein Nudelfaden, glaubte dem Grubeninspektor all seine Versprechungen und ließ sich, wie ein hereingefallenes Spänchen von dem liebenswürdigen Wortschwall Neefes in die alte träge Unbekümmertheit treiben. Er pinkte wieder wie früher sein gemächliches Arbeitsgesetzlein in der Werkstatt und wärmte abends da und dort die Bierbank nicht mehr so lange wie sonst und bot auch keinem mehr die Kreuznägel Jesu Christi zum Kauf an, sondern er redete gesammelt und überlegt von allen Belanglosigkeiten, wie es sich für einen richtigen Wilkauer gehört, daß das Städtchen Alexander Neefe verwundert auf der Straße nachschaute, weil es ihm gelungen war, den aus Feindschaft verrückt gewordenen Schlosser fast im Handwenden in den gewohnten trödeligen Fleiß zurückzudrehen.

Doch diese friedsame Luft um die beiden Männer dauerte nur einige Tage und wurde durch einen Umschwung vertrieben, als sei ihr Licht nur eine arglistige Spiegelung gewesen. Sie zerriß für alle, die darum wußten, aus einem Grunde, der nur schwer einzusehen war. Witschel geriet nämlich in seinem belanglosen Bierpalavern, wodurch er sich bei den Wilkauern wieder angenehm machen wollte, auch in den schon erkaltenden Tratsch, der noch immer um den begrabenen alten Maechler seine Blasen trieb. Als Wirt des Alexander Neefe spielte er sich eines Abends in dümmlicher Wichtigtuerei als einer auf, der nicht vom Sagenhören wie die meisten, sondern als ein Eingeweihter rede. Der alte Neefe, der Vater des Grubeninspektors, sei nicht von ungefähr im 54er Jahr in dem wilden Heidewasser umgekommen, sondern wirklich und wahrhaftig mit Absicht von dem Gerber hineingestoßen worden. Die letzten Worte sagte er dreimal gekaut, mit halber Stimme, unter vieldeutigem Zwinkern und lispelte einem aus dem Kreise der Neuigkeitschnapper, die um ihn saßen, ins Ohr, daß alles, was er sage, bis auf den letzten Tropfen wahr sei; denn der Herr Grubeninspektor habe es ihm sozusagen selber anvertraut und der müsse es als Sohn des Verunglückten doch wissen. Ja, und nun werde man auch verstehen, warum er, Witschel, in dem Streit mit Neefe ein X für ein U gemacht habe. Solle man mit einem Menschen nicht Mitleid empfinden, der als siebenjähriges Kind durch einen Verbrecher um seinen Vater gekommen sei? Drum möge der Herr Inspektor so lange in seinem Hause wohnen, wie's ihm gefalle.

Nach dieser Enthüllung glänzte Witschel über das ganze Gesicht, bestellte eine Runde Bier und stieß mit seinen Kumpanen auf das Wohl Neefes an.

Andern Tages wieselte diese Erzählung des Schlossers durch alle Lästermäuler und das Giftjauchen um das Gerberhaus in der Feldgasse fing wieder an, lebhafter zu brodeln.

Aber merkwürdig, Alexander Neefe, dessen Name aus diesem aufgewärmten Schandgericht doch höchst ehrenvoll duftete, nahm das Geschwätz des halbtrunkenen Schlossers nicht lächelnd hin wie vieles andere, das ihm Witschel schon angehängt hatte, sondern er ging jetzt mit einer Leidenschaft gegen ihn vor, die niemand dem umgänglich heiteren Manne zugetraut hätte. Zunächst rief er den Schlosser in seine Wohnung, schickte vorher seine eigne Frau fort, schloß die Fenster und begann dann ein Gericht über den verdatterten, immer mehr zusammensinkenden Witschel, daß er am Ende, von Neefe zur Tür hinausgeschubst, grau im Gesicht, am ganzen Körper bebend, kaum über die Stiege hinunter fand. Der Grubeninspektor aber stand auf dem oberen Flur und sah dem Davonstolpernden mit einem solchen Lächeln brutalen Triumphes nach, daß sein breiter Mund das Gesicht fast von Ohr zu Ohr spaltete. Und als der gezüchtigte Witschel auf der halben Treppe angekommen war, rief ihm Neefe ein »Halt, noch eins!« zu, daß der Schlosser, wie von einem unvermuteten grausamen Peitschenhieb getroffen, zusammenzuckend herumfuhr und voll ängstlicher Bereitwilligkeit hinaufsah.

»Also, Witschel, ich habe Ihre Unterschrift«, sagte Alexander Neefe, nun wieder verbindlich und freundlich, »überall wird die Lüge ausgetreten, verstanden!«

»Jawohl, Herr Inspektor«, antwortete Witschel gehorsam.

»Und das sage ich Ihnen noch …« Neefe wurde wieder von der Wut überfallen. In diesem Augenblicke trat Witschels Frau durch die hintere Tür auf den unteren Flur, und der Inspektor endete den angefangenen Satz anders.

»Nicht wahr, lieber Witschel, so machen wir's. Viel Glück«, sprach Neefe nun voll herzlicher Liebenswürdigkeit und zog sich eilig in seine Wohnung zurück.

»Nu, Heinrich, wo bist'n a so lange?« fragte Frau Witschel ihren verstörten Mann, der so eilig die letzten Stufen zu ihr hinunter stolperte, daß er fast gefallen wäre und sich nur mit ihrer Hilfe aufrechterhalten konnte.

»Verflucht, Minna«, stotterte Witschel, »verfluchte Welt! Komm och schnell 'naus.«

*

Und nun begann Neefe jenen Vernichtungsfeldzug gegen die lästerlichen Gerüchte um das Leben des verstorbenen Nathanael Maechler, der dem verrufenen Haus auf der Feldgasse wieder zu einem lichten Schein verhalf. Denn der scheinbar allen aufgeschlossene, jeder Gesinnung gefällige Mann war mit einem Male, fast über Nacht, wie umgewandelt. Es gab kein Gespräch, keine Unternehmung, kein Vorübergehen, daß er nicht in Entrüstung über die Lügen geriet, die sich nach Nathanael Maechlers Tode ungestraft in Wilkau noch immer breitmachten und nun gar den Versuch unternahmen, auch seine Person in diese Stinkluft zu ziehen. Hier höre seine Menschenfreundlichkeit auf. Duldung einer Schändlichkeit sei selbst schändlich. Wenn er bislang die Hinterhältigkeiten und das Schleichgift des albernen Schlossers lächelnd übersehen habe, so sei das jetzt mit jeder Schonung vorüber. Er lehne es ab, Witschels Vertrauter zu sein. Lüge von hunderten wiederholt, werde nicht Wahrheit. Und Lüge sei die Erzählung des Schlossers, sein seliger Vater sei das Opfer einer Untat des verstorbenen Maechler geworden, dieses Mannes, dem Wilkau seinen langen Glanz verdanke. Nein, als Ehrenmann, als Christ und Wilkauer dulde er das nicht, und jeder, dem Ehre, Christenpflicht und Bürgersinn noch etwas gelte, müsse ihm recht geben. Aus Krankheit sei sein Vater damals ins Heidewasser geraten, von niemand getrieben und gestoßen. Und Krankheit sei keine Schande. Alles das trug er mit eindringenden Schlagworten vor, daß niemand an seinem Reden und Tun zu mäkeln wagte, und vor dem Pfarrer Kelwel traten ihm sogar Tränen in die Augen aus Schmerz über den Zwang, im Kampf um die Wahrheit das Andenken seines unvergeßlichen Vaters zu versehren. Aber der geistliche Herr tröstete ihn und versprach, in einer der kommenden Predigten die Gläubigen über das rechte Maß aufzuklären, mit dem ein Christ den anderen schätzen müsse. Graf Eberhard Schilling belobte ihn wegen seines ehrenhaften Verhaltens – der Umschwung in Wilkau war vollkommen. Der Schlosser Witschel wagte sich kaum mehr aus dem Hause. Wenn jemand in seiner Gegenwart nur den Namen Neefe erwähnte, wehrte er entsetzt ab und lief davon. Er muckste auch gegen niemand, als ihm unauffällig von Neefe der Hals abgedreht wurde. Stillschweigend vollzog er die gerichtliche Überschreibung seines Hauses auf den Namen des gewesenen Grubeninspektors, saß einige Tage wie erschlagen in seiner engen Hinterhauswohnung und fing dann ein dumpfes Troddeln in die Schenken der umliegenden Dörfer an, weil er sich in Wilkau nicht mehr zu zeigen wagte.


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