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Der Amtmann erlebt, was er nicht erwartet hat

Am ersten Sonntag nach dieser großen Veränderung im Krankenhaus und nicht weniger im Amtshaus, wo die Kinder nun wieder zu einer ganz anderen Anwendung ihrer Freistunden übergegangen waren, schien die Sonne so schön und fröhlich über Waldhausen hin, als ob das alles in Freude aufgehen müßte. Aber am Mittagstische des Amtmanns sah es noch nicht ganz so aus; es lag wie ein Druck in der Luft, der die rechte Freudigkeit nicht aufkommen lassen wollte. Der Amtmann war eben noch im Garten gewesen und hatte gesehen, wie die ersten Butterbirnen am Spalier goldig angehaucht waren; aber er hatte nicht mehr die rechte Freude daran, wie vorher an den Aprikosen. Seit jenem Erlebnis und der kleinen Szene mit Gatti war dem Amtmann etwas im Gemüt sitzengeblieben, was ihn störte. Er wußte selbst nicht recht, was es war. Er wollte auch am liebsten gar nicht mehr daran denken; aber wenn er die Früchte sah, brachten ihm diese die Sache immer wieder in Erinnerung.

»Das verwilderte Kind hat doch noch eine gute Seite, daß es folgen kann«, sagte jetzt auf einmal der Amtmann am Tisch; »ich habe es nie mehr mit einem Auge erblickt, seit ich ihm verboten habe, sich wieder zu zeigen.«

»Das ist schade, Herr Amtmann«, sagte Herr Delmy; »Sie würden das Kind so verändert finden, daß Sie Ihre Freude daran haben müßten. Es ist ein völlig neues Wesen, seit es sich schön sauber hält und in einem guten Kleide des Tilli einherschreitet; haben Sie das nicht auch bemerkt, Frau Amtmann?«

»Gewiß, und mit großer Freude«, erwiderte diese, »und was mich noch mehr freut, ist, daß mir alle die Leute sagen, seit langer Zeit habe man nichts mehr davon gehört, daß Gatti etwas angestellt habe, und ich sehe auch, daß jetzt alle Leute das Kind so gern mögen; es ist eine merkwürdige Umwandlung mit ihm vorgegangen.«

»Gut, wenn's so bleibt«, sagte der Amtmann abschließend; denn er wollte jetzt gern auf einen anderen Gegenstand übergehen. »Mein Krankenhaus werde ich nun schließen können, Mühe und Kosten einstecken, die Betten verschenken und das Haus verfallen lassen. Was meinen Sie, Herr Delmy? Nachdem zwei miteinander dort hinausgetragen worden sind, wird gar keines mehr hineinwollen.«

Der Amtmann sprach sehr aufgeregt; denn das war sein empfindlichster Punkt.

»Ich hoffe, es kommt nicht so weit«, sagte Herr Delmy. »Unser Krankenhaus verfallen zu sehen, wenn ich je wieder nach Waldhausen käme, wäre mir ein großes Leid. Wie lieb ist mir dieses Haus geworden, wie lieb das ganze, liebliche Waldhausen! Es wird mir schwer werden, mich davon loszureißen; und doch naht nun die Zeit mit schnellen Schritten heran; in den letzten Oktobertagen muß ich Abschied nehmen.«

Während des Mittagessens war das Mädchen wohl schon sechsmal hereingekommen, um dem Amtmann zu melden, es sei wieder jemand gekommen, der mit ihm zu sprechen begehre. Jetzt trat es wieder ein und fragte, ob es vielleicht die Leute auf später bestellen sollte; eben seien noch drei miteinander gekommen, und jetzt ständen gewiß zehn draußen und warteten auf den Herrn Amtmann.

»Ich komme! Ich komme!« rief dieser dem Mädchen zu. »Daß sie doch alle mit ihren Angelegenheiten am Sonntag kommen müssen! Freilich, viele haben ja auch keine andere Zeit.« Damit stand der Amtmann auf und verließ das Zimmer.

Herr Delmy folgte ihm gleich nach; er trat in den Garten ein und wanderte da in Gedanken versunken zwischen den Blumenbeeten hin und her.

Herrn Delmys Worte mußten unterdessen stark in den Gemütern gearbeitet haben; denn sobald er die Tür hinter sich geschlossen hatte, stand Max vom Tisch auf und rannte in der höchsten Aufregung in der Stube auf und ab, indem er leidenschaftlich ausrief: »Dann geh ich auch! Dann geh ich auch! Wenn der Herr Delmy fort ist, dann kann es kein Mensch mehr in Waldhausen aushalten!«

Elsa hatte sich in eine Ecke am Fenster gesetzt; sie hatte die Hände in den Schoß gelegt und sah aus, als ob sie eben geopfert werden sollte. Lex war sitzengeblieben; er hatte beide Ellbogen auf den Tisch gestemmt und stützte seinen Kopf damit. Jetzt sagte er in dumpfem Ingrimm: »Wenn Herr Delmy für immer fortgeht, dann will ich lieber nichts mehr lernen und gleich ein Bauer werden, heute noch!«

Das sonst so ruhelose Tilli war ohne Regung neben ihm sitzengeblieben; es machte ganz erschreckliche Augen. Jetzt brach es auf einmal aus: »Ja, wenn es doch jetzt mit allem aus ist, mit der Irene und mit Gatti, und dann noch mit Herrn Delmy, so weiß ich auch gar nicht, warum man noch leben soll!«

»Kinder«, sagte die Mutter jetzt, »nun wollen wir einen Gang zusammen machen; draußen unter dem schönen blauen Himmel wollen wir uns über Herrn Delmys Weggehen untereinander trösten, so gut es geht. Wir sind alle nach dem Pfarrhaus Wildbach eingeladen; da könnt ihr euch bei euern Freunden ein wenig erholen.«

Augenblicklich schoß das lebensmüde Tilli auf wie ein Pfeil und lief davon, um seinen Hut zu holen, sehr beglückt über die Aussicht, die sich aufgetan hatte. Im Pfarrhaus Wildbach hatte es ja eine Hauptfreundin, und so mit allen auszuziehen, war ihm unerwartet erfreulich.

Auch den anderen war der Gang willkommen, und so zogen sie alle viere mit der Mutter aus; sie sollten aber für den Anfang nicht weit kommen. Draußen auf dem Platz standen ungefähr zehn oder zwölf Personen, Männer und Frauen, um den Amtmann herum; sie sprachen alle durcheinander und hatten sichtlich dringende Bitten vorzubringen; denn es drängte immer einer den anderen wieder ein wenig zurück und versicherte laut, er sei gewiß der Bedürftigste. Der Amtmann stand mitten in dem Knäuel und hob in ziemlicher Aufregung die Arme auf und nieder, und immer wieder sagte er auf die eine und dann auf die andere Seite: »Ich sag's euch ja, ich will ja gern allen helfen, nur nicht allen auf einmal, es geht nicht.«

Als er seine Frau erblickte, winkte er sie zu sich heran: »Vielleicht kannst du uns ein wenig nachhelfen!« rief er ihr entgegen. »Was meinst du, was die Leute von mir wollen? Alle haben Kranke daheim, die sie ins Krankenhaus bringen möchten. Könntest du drei fertige Betten aus unserem Haus hinüberschaffen? Ich denke, wir können eher auf den Ersatz warten als die Kranken; so könnten wir dann gleich beinahe alle unterbringen.«

Die Frau Amtmann mußte sich sehr über diese Nachricht verwundern. Sie sann ein wenig nach und besprach sich dann noch leise mit ihrem Manne; aber bevor sie noch ausgeredet hatten, kam schon wieder eine Frau keuchend den Berg herauf und drückte sich gewaltsam durch die Leute bis zum Amtmann heran, wo sie gleich einen großen Jammer erhob, daß ihr so viele zuvorgekommen seien und sie doch seine Hilfe nötig habe. Jetzt suchte die Frau Amtmann wegzukommen; aber es war nicht so leicht; denn jeder wollte sich noch ihrer Fürsprache versichern, und von vorn und von hinten und auf beiden Seiten redeten die Leute auf sie ein. Endlich kam sie doch heraus und wanderte nun mit den Kindern durch die sonnigen Wege unter den rotschimmernden Apfelbäumen dahin.

Unterdessen jammerte die Frau immerfort und klagte dem Amtmann ihre Not, wie sie mit ihren fünf Kindern, für die sie zu sorgen habe, fast nicht durchkomme, und dazu habe sie nun schon seit einem Vierteljahr den Mann in seiner bösen Krankheit zu pflegen, und der Doktor könne so selten kommen, weil sie so weit von ihm wohnten. So habe sie nun so fest gehofft, sie könne den Mann bald ins Krankenhaus bringen; der Herr Amtmann sollte doch ein Einsehen haben und ihr die Erlaubnis dazu geben, es sei gewiß kein Mensch so bedürftig wie sie.

»Frau«, sagte der Amtmann, als er endlich zum Worte kam, »wenn ich nicht irre, so seid Ihr dieselbe, die ich etwa vor einem Vierteljahr einmal beim Doktor angetroffen habe, und der wir beide schon damals gesagt haben, Ihr solltet Euren Mann ins Krankenhaus bringen, für Euch sei es eine große Erleichterung, und er werde da verpflegt werden, wie Ihr es ja nicht tun könnt. Warum habt Ihr's denn damals nicht getan, und heute tut Ihr, als wäre es das größte Glück für Euch und ihn, daß er da hineinkäme?«

»Ach, mein Gott, Herr Amtmann«, sagte die Frau ein wenig verlegen; »ich bin freilich die Frau; aber der Herr Amtmann weiß nicht, wie es dann so geht, und wie dann die Leute kommen und einem so dies und das sagen, und man solle sich inachtnehmen, man wisse gar nicht, was in einem solchen Krankenhaus mit den Kranken angefangen werde, und natürlich, dann hat man eben Furcht, und … und …«

»Und glaubt natürlich all den Leuten, die nichts wissen, mehr als dem Doktor und dem Amtmann, die die Sache kennen und wissen, was sie Euch sagen. Aber jetzt sagt mir, wem habt Ihr diesmal geglaubt, mehr als dem Doktor und dem Amtmann und allen anderen Leuten dazu?«

Die Frau machte einige verlegene Bewegungen und schwieg.

»Jetzt hört, Frau«, fuhr der Amtmann fort, »es fängt an, mich wunderzunehmen, wer euch alle mit einemmal von der Vortrefflichkeit einer Sache überzeugen konnte, von der der Doktor und ich euch zu hundert Malen geredet haben, ohne daß ihr uns ein Wort geglaubt habt. Denn das habe ich wohl bemerkt, alle die anderen haben, wie Ihr, auf einmal eine völlig andere Ansicht über die Dinge, die in unserem Krankenhaus vor sich gehen. Keiner von allen aber will mir antworten, woher das kommt; meiner Frage danach weichen sie alle aus; aber nun will ich wissen, wer euch alle so umgewandelt hat. Wenn Ihr mir nun sofort klar und offen sagt, wie es so gekommen ist, so will ich für Euren Mann noch einen Platz finden, daß Ihr ihn morgen schon bringen könnt.«

»Gott Lob und Dank!« sagte die Frau hocherfreut. »Jetzt will ich auch gleich alles sagen. Es war ja so ein verlaufenes Kind aufgenommen worden im Krankenhaus, und da weiß ich denn nicht, wie es kam; aber des Kesselflickers Gatti kam alle Tage dahin und sah nun alles, wie es da zugeht, und es lief in alle Häuser, Scheunen und Löcher hinein – denn es fährt überall herum –, und überall konnte es gar nicht genug erzählen, wie die Leute es im Krankenhaus haben, und wie man sie mit Güte behandle und tue, als wäre jedes etwas Besonderes; und gerade das verlaufene Kind, so eines, wie man sie sonst ja gar nicht achtet, das habe ein Leben gehabt wie eine Königin. Und das Kesselflickerkind sagte zu jedem im größten Ernst, es wüßte gar kein größeres Glück auf der Welt, als wenn es etwa einen Arm oder ein Bein brechen könnte, daß es auch eine Zeitlang ins Krankenhaus käme, so gehe es da zu. Und nun kann ja der Herr Amtmann schon begreifen, das Gatti ist ja eines wie wir und redet zu uns so, wie es denkt, so eines kann ja keine Hintergedanken haben.«

»So wie der Doktor und der Amtmann«, ergänzte dieser, »so wird's gemeint sein. Es ist aber recht, daß Ihr mir die Sache klargemacht habt, und nun halt ich mein Versprechen, morgen könnt Ihr den Mann bringen.«

Die Frau nahm unter vielen Danksagungen Abschied und entfernte sich mit den letzten, die von der Schar noch stehengeblieben waren.

Als spät unter dem schimmernden Sternenhimmel hin die frohe Gesellschaft aus Wildbach heimkehrte, begleitet von Herrn Delmy, der den Zurückkehrenden zu aller Freude und Überraschung weithin entgegengekommen war, empfing sie der Amtmann in sehr angeregter Stimmung.

»Ich muß einen Anbau an mein Krankenhaus machen, was sagen Sie dazu, Herr Delmy!« rief er diesem gleich entgegen. »Eine ganze Schar von Leuten ist heute dagewesen, und nach ihrer Aussage würden diese Woche wohl noch ebensoviele an mich gelangen; nicht nur von Waldhausen, aus allen Nachbargemeinden wollen sie ihre Kranken bei uns versorgen, und durch wen glauben Sie, daß unser Haus auf einmal zu dem Ruf gekommen ist?«

Und nun erzählte der Amtmann, was ihm die Frau mitgeteilt hatte, und wie die Erzählungen des Kesselflickerkindes mit einem Schlage bei den Leuten bewirkt hätten, was er und der Doktor seit einem Jahr mit allen Reden und Versprechungen vergebens angestrebt hatten.

»Das freut mich! Das freut mich recht von Herzen!« sagte Herr Delmy. »Aber nun werden Sie auch das Kind wieder in seine alten Rechte einsetzen, Herr Amtmann, nun darf es sich doch wieder bei uns zeigen?«

Das hocherstaunte Tilli sperrte ganz erwartungsvoll seine Augen auf und lauschte gespannt auf des Vaters Antwort.

»Gewiß, das wirst du tun«, fügte die Frau Amtmann bei; »laß das Gatti wieder herkommen in Haus und Garten wie ehemals, es soll ihm alles verziehen und vergessen sein.«

»Nein, nein! Das geht nicht! Das kann nicht sein!« wehrte der Amtmann, »jetzt ist ja im Garten gerade die Hauptreifezeit der Früchte, es würde ja das Kind in Versuchung geführt. Nein, nein! Das kann nicht sein, die Verheerung war zu groß! Das Kind hat ja keine Vernunft; wie waren mir alle feinen Pflanzen zerstampft und verdorben! Nein, nein, gib ihm Schuhe und Röcke von den Kindern und was du willst, aber zeigen soll es sich nicht mehr.«

Der Ausspruch tat allen leid, die ihn hörten. Die Frau Amtmann fand, es sei nun der Strafe genug, und das Kind hatte sich ja so zu seinem Vorteil geändert. Herr Delmy war überzeugt, daß das Kind die Strafe unschuldig trug. Elsa war überhaupt mitleidig; Max fand, man könnte nun einmal die Postfahrten wieder aufnehmen, und dem Lex und vor allem Tilli fehlte Gatti zu allen Unternehmungen und seine lustige Unterhaltung ersetzte nichts anderes. Aber es half nichts, der Amtmann blieb bei seinem Wort, und trotz des fröhlichen Spazierganges gingen doch alle in etwas gedämpfter Stimmung zu Bett.

Es schien, als wolle dem bewegten Sonntag ein noch geräuschvollerer Montag folgen. Noch war der Tag kaum angebrochen, als Herr Delmy von einem wahren Zetergeschrei erwachte. Erschrocken warf er sich in seine Kleider und trat ans Fenster, nach der Seite, von wo fortwährend dieselben Wehschreie herauftönten. Da erblickte er unten im Garten den Gärtner Joseph, der den Feldmauser-Michel fest an einem Ohr gepackt hatte und ihn so durch den Garten zu führen suchte. Dieser aber wehrte sich mit Händen und Füßen und schrie dazu wie ein Unsinniger. Herr Delmy ging nach dem Garten hinunter. Jetzt war Joseph mit seinem Gefangenen bei einem großen Birnbaum angelangt. Mit der einen Hand hielt er den Buben unentweglich am Ohr fest, mit der anderen hatte er einen Strick aus seinem Sack hervorgeholt und machte Anstalt, den stampfenden, stoßenden, immerfort laut kreischenden Michel an den Baum zu binden.

Bild: K. Mühlmeister

»Was ist es, Joseph, was hat er verbrochen?« fragte Herr Delmy hinzutretend.

»Das ist der Engerling, Herr Delmy, der Gartenfuchs, der Früchtedieb«, berichtete Joseph in Aufregung; »ich habe nicht vergebens schon seit zwei Nächten aufgepaßt; denn ich dachte: die Butterbirnen werden dem wohl auch gefallen, der die Aprikosen geholt hat. Richtig, heut vor Tag höre ich ihn heranschleichen, und dort am Spalier … sehen Sie nur, Herr Delmy – drei oder vier konnte er in aller Schnelligkeit abreißen – dann fahr ich herzu wie der Blitz, erwische ihn am Ohr, und hier … hier … der war's! Jetzt binde ich ihn an den Birnbaum fest und hole den Herrn Amtmann her.«

Der Michel riß wie ein Rasender am Strick und schrie immer unsinniger; denn bei jedem Riß gab es auch einen tüchtigen Ruck an seinem Ohr. Herr Delmy legte seine Hand auf Josephs Arm und sagte begütigend: »Laß ihn los, Joseph, wir kennen ja nun den Täter, entlaufen kann er uns nicht; ich möchte ihn gern selbst dem Amtmann übergeben, wenn es Euch so recht ist.«

Augenblicklich ließ Joseph das sehr rot gewordene Ohr los und sagte ergeben: »Ja, wenn Sie es so wollen, Herr Delmy, dann ist mir's auch recht; Ihnen wird er wohl stillhalten, ohne daß Sie ihn beim Ohr nehmen, mir nicht.« Damit ging Joseph zum Spalier zurück, um den Schaden näher zu untersuchen.

»Hör, Michel«, sagte jetzt Herr Delmy, »es ist ein großes Unrecht und eine große Schande für dich, so als Dieb in den Garten eingeschlichen zu sein; aber doppelt schlimm ist es von dir, weil du den Verdacht deiner bösen Tat auf einer Unschuldigen hast sitzen lassen. Es war dir wohl bekannt, warum Gatti nicht mehr in diesen Garten kommen durfte, und du hattest den Raub an den Aprikosen verübt. Heute verdienst du darum doppelt Strafe. Bekennst du nun gleich offen und reumütig, daß du auch die Aprikosen gestohlen und den Garten verwüstet hast, so will ich mich für dich verwenden, daß der Herr Amtmann gnädig mit dir verfährt.«

»Oh, ich hab es ja getan«, stöhnte der Michel; »aber ich will's ja nicht mehr tun.«

»Nun noch eins, Michel: ich gehe nun, den Herrn Amtmann zu holen; sagst du ihm deutlich und klar, was du getan hast, so sollst du diesmal ohne Strafe davonkommen, tust du dies nicht, so geht es nicht ohne eine Strafe ab, die dir recht wehtun wird. Was willst du tun?«

»Ich will alles sagen; aber ich will's ja nicht mehr tun«, jammerte der Michel wieder.

»Gut, nun bleib hier stehen, bis ich wiederkomme!« Damit verließ Herr Delmy den stöhnenden Michel und ging dem Hause zu.

Auch der Amtmann hatte das Geschrei vernommen; da er aber vermutete, heimziehende Nachtschwärmer machten sich in dieser Weise hörbar, hatte er sich nicht sehr beeilt und trat eben jetzt aus der Haustür.

Herr Delmy hielt ihn an: »Ein Wort, Herr Amtmann! Ich habe mein Wort verpfändet, daß der Aprikosen- und auch Birnendieb diesmal ohne Strafe davonkommt, wenn er alles klar vor Ihnen bekennt.«

»Da haben wir's!« rief der Amtmann aus. »Also auch die Birnen! Nun, Ihr Wort muß ich wohl achten, und strafen will ich ja das Kind nicht; aber recht hatte ich.«

Jetzt folgte der Amtmann Herrn Delmy unter den Birnbaum. Hier stand der Michel noch auf derselben Stelle und fing gleich stotternd vor Schrecken an: »Ich … ich … ich … ich habe die Aprikosen genommen und … und … und … und dann habe ich etwas gehört und … und … und dann bin ich fortgelaufen und … und … und dann habe ich ein paar Blumen niedergetreten, weil ich nicht mehr Zeit hatte, über die Wege zu laufen.«

Mit großem Erstaunen hatte der Amtmann den Michel erblickt und ihm zugehört. Jetzt brach er zornig los: »Also du warst's, du Erzlump! Hättest du das nicht früher sagen können? Mach, daß du fortkommst, und komm mir nie mehr unter die Augen!«

Sehr erfreut gehorchte der Michel und lief aus allen Kräften davon.

Der Amtmann lief in großer Erregung den Garten auf und ab; er hatte nicht einmal nach den Birnen gesehen, wie groß der Raub sei. Nach einiger Zeit kam auch die Frau Amtmann in den Garten hinaus, sie war ja auch aufgeweckt worden und wollte sehen, was zu so früher Stunde da unten vorging. Ihr Mann lief ihr entgegen. »Es ist ein unerträgliches Unrecht geschehen«, rief er ihr erregt zu, »nun ist das Kind seit Wochen verbannt und gekränkt worden, ganz unschuldigerweise, und während der Zeit noch hat es mir den größten Gefallen getan, den mir ein Mansch erweisen konnte! Das muß auf der Stelle gutgemacht werden, es muß etwas für das Kind getan werden. Wo ist Tilli? Sie soll sofort Gatti herholen!«

»Lieber Mann«, entgegnete die Frau Amtmann in großem Erstaunen, »unser Tilli liegt noch tief in seinem Bett und schläft; denn es ist fünf Uhr; aber es wird ein frohes Erwachen geben für das Kind, nun es seine Freundin Gatti wieder in alle alten Rechte einsetzen darf, und auch mir ist es eine große, herzliche Freude, daß sich alles so gewandt hat; wie ist es nur gekommen?«

»Das wird dir Herr Delmy erzählen, mir gibt mein Krankenhaus heute soviel zu tun, daß ich nicht früh genug anfangen kann.« Der Amtmann machte eine höflich auffordernde Bewegung gegen Herrn Delmy, wandte sich und ging mit großen Schritten dem Krankenhaus zu.

Erst als nach ein paar Stunden die Mutter, Herr Delmy und die Kinder beim Frühstück saßen, das um der Schule willen pünktlich eingenommen werden mußte, kam der Vater wieder zurück, ganz erfüllt von allem, was in seiner neubelebten Anstalt schon ausgeführt war und heute noch ausgeführt werden sollte. Auf einmal wandte er sich dem Tilli zu: »Tilli, heut bringst du deine Freundin Gatti mit nach Haus und bewirtest sie mit Kuchen und Kaffee, und schenkst ihr einen Rock und ein schönes Halstuch und so etwas, was du denkst, das ihr Freude mache, und sagst ihr auch, daß sie tagtäglich zu dir kommen darf, wie und wann es sie freut.«

Das erstaunte Tilli sperrte seine Augen so weit auf, als es nur möglich war, und konnte vor Überraschung kein Wort sagen; denn die Mutter hatte von dem ganzen Vorgang am frühen Morgen noch nichts gesagt; sie wollte den Vater machen lassen. Auch Lex war so verwundert über die Wendung der Dinge, daß er Löffel und Tasse wegschob und den Vater anstarrte.

»Es ist mein völliger Ernst«, fuhr dieser fort. »Dem Kinde ist ein großes Unrecht geschehen, und das soll ihm vergolten werden; es ist dazu ein ausnehmend vernünftiges Kind, mit dem etwas anzufangen ist. Du hast da eine ganz rechte Freundin, Tilli, wir wollen ihr alle Freundschaft erweisen.«

Über diese Nachricht, daß das alte Verhältnis mit dem Gatti völlig hergestellt und alles wieder werden sollte, wie es gewesen war, wurde das Tilli so von Freude überwältigt, daß es keinen Augenblick mehr stillsitzen konnte, sondern auf und davon schoß und in hohen Sätzen der Schule zustürmte, der Lex hinter ihm drein; denn er wollte sehen, welchen Eindruck die Nachricht bei dem Gatti hervorbringen würde. Das Gatti sprang dann auch ganz hoch auf und rief: »Juchhe! Juchhe!«

Und wie es nun am Abend zur festgesetzten Zeit herangerannt kam, da führten Lex und Tilli Gatti in ihrer Mitte ganz feierlich ins Haus hinein. In der Wohnstube, wo die Mutter einen herrlichen Kuchen- und Kaffeetisch bereitet hatte, bewillkommnete sie das Gatti mit Herzlichkeit, und es mußte sich zwischen Lex und Tilli an den Tisch setzen. Auch Max und Elsa kamen herzu und begrüßten es und setzten sich zu der Festlichkeit nieder. Dann erschien Herr Delmy und streckte dem Gatti in großer Freundlichkeit seine Hand hin, und es schoß wie ein Pfeil vom Tisch auf und ihm entgegen, und das ganze Gatti leuchtete vor Freude; denn für den Herrn Delmy hatte es eine unbegrenzte Verehrung. Zuletzt erschien auch noch der Herr Amtmann und schaute einen Augenblick verwundert auf den Gast zwischen Lex und Tilli; denn er erkannte Gatti nicht in seinem neuen Zustand, mit dem sauber glänzenden Gesicht und den glatten Haaren und dazu so ordentlich angezogen in Tillis Rock. Aber es stand gleich auf vom Tisch und sagte ganz anständig: »Guten Abend, Herr Amtmann!«

»So, so, du bist's, Gatti?« erwiderte er freundlich und gab ihm die Hand. »So ist's recht! Komm weiter zum Tilli, wenn es dich freut; denn ich weiß, daß du mich nicht belogen und den Diebstahl im Garten nicht begangen hast.«

In größter Fröhlichkeit wurde der Festabend fortgesetzt und beschlossen. Das Tilli legte sich heute mit besonders frohem Herzen nieder; denn welche beglückenden Aussichten standen ihm vor Augen auf alle die wiederkehrenden, schmerzlich entbehrten Unternehmungen in Feld und Wald, am Weiher und im Ried, im Trockenen und im Wasser, mit dem unermüdlich erfinderischen Gatti.


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