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Der Sängerkrieg

Inmitten der geräumigen Wohnstube stand der große, breitschultrige Amtmann von Waldhausen und las seiner Frau, die neben ihm stand, mit lauter Stimme einen Brief vor; denn der Amtmann war ein rascher Mann, und was eben vorlag, mußte bei ihm sofort und auf dem Platz, wo er sich befand, ausgeführt werden. So war er vor wenig Minuten da stehen geblieben, wo ihm von dem Hausmädchen ein Brief überreicht worden war, hatte ihn schnell erbrochen und las nun den Inhalt seiner gespannt lauschenden Frau vor, die zu ihm hingetreten war. Auch noch andere Zuhörer waren da, die mit nicht geringerer Spannung den Worten folgten. Das waren die vier Kinder des Amtmanns, die eben jetzt am großen viereckigen Tische saßen, jedes mit einem Papier vor sich und einem Bleistift in der Hand. Alle vier machten die Augen auf, als wollten sie damit die Worte verschlingen, und mit zurückgehaltenem Atem folgten alle den Mitteilungen, die sichtlich von ganz besonderem Interesse für sie sein mußten. Als der Vater zu Ende gelesen hatte, steckte er den Brief ein und sagte befriedigt: »So ist's recht! Nur keine langen Vorbereitungen! Noch heute kommt er, da kann er gleich Preisrichter sein, und ist er ein guter Lehrer, so lehrt er den Max, daß es außer ihm auch noch zwei oder drei Menschen gibt, die etwas sind, und die Elsa – da ist nicht viel zu sagen; aber den Lex, den lehrt er, daß man auch in eine Tür treten kann, ohne sie vorher mit dem Kopf oder dem Stiefel halb einzuschlagen, und das Tilli, daß ein Mädchen in einem Kleid besser aussieht, wie in Fetzen. Liebe Frau, vor acht Uhr kann ich nicht wieder da sein, du mußt ihn empfangen.« Damit war der Amtmann zur Tür hinaus.

Nun brach ein ziemlich lauter Lärm in der Stube aus, wie es gewöhnlich zu gehen pflegte, wenn der Amtmann hinter sich die Tür schloß. Diesmal waren aber die Gemüter von der außerordentlichen Erwartung besonders aufgeregt, und die vier Stimmen schrien alle miteinander in verworrener Weise die Mutter an.

»So kann ich weder reden, noch könnt ihr mich verstehen, Kinder«, sagte sanftmütig die Mutter. »Wollt ihr wissen, um was es sich handelt, so seid still und ruhig, daß ich es auch erklären kann.«

Das half; denn die Neugierde war groß, da die Kinder dem Brief soviel entnommen hatten, daß es sich um die Ankunft einer Persönlichkeit handelte, die für sie von besonderer Wichtigkeit war. Jetzt setzte sich die Mutter zu den Kindern hin und erzählte ihnen, was dem Briefe vorangegangen war: ein alter Freund des Vaters, ein deutscher Beamter, hatte sich vor einiger Zeit schriftlich an den Vater mit der Anfrage gewandt, ob er ihm ein Haus nachweisen könnte, wo ein junger Theologe, ein naher Verwandter des Beamten, für einige Zeit Aufnahme und passende Beschäftigung finden könnte, da der Arzt ihm zur Stärkung seiner Nerven einen längeren Aufenthalt in frischer Landluft verordnet habe. Sofort hatte der Vater in Übereinstimmung mit der Mutter den Entschluß gefaßt, die günstige Gelegenheit zu ergreifen und dem jungen Herrn vorzuschlagen, in sein Haus einzutreten und während dieser Zeit den Unterricht der vier Kinder zu übernehmen. Dieser war bisher ziemlich mangelhaft teils vom Lehrer des Dorfes, teils von den stets wechselnden Vikaren (Hilfspredigern) des uralten Herrn Pfarrers von Waldhausen erteilt worden. Der Amtmann hatte alsbald den Vorschlag seinem Freunde mitgeteilt und von diesem die Zustimmung des jungen Theologen erhalten mit der Nachricht, dieser werde den Tag seiner Ankunft selbst anzeigen.

Das war heute geschehen, und zwar wollte der Erwartete noch denselben Abend eintreffen, weshalb er sich sehr ernstlich entschuldigte, da es Sonntag war. Er kam jedoch nicht aus der Ferne hergereist, sondern war am Abend vorher in einem Pfarrhaus der Umgegend festgehalten worden, wo er einen Auftrag von Bekannten bestellt hatte.

»Also heute abend kommt der junge Mann«, bemerkte mit einem Ton der Überlegenheit der vierzehnjährige Max, als die Mutter ihre Erzählung beendigt hatte.

»Lieber Max«, sagte die Mutter erschrocken, »für dich ist das kein junger Mann, was fällt dir denn ein? Es kann überhaupt ein sehr junger Mann nicht mehr sein, denn er unterschreibt sich ›Doktor Delmy‹.«

»Jetzt ist er auf einmal ein Doktor, und vorhin war er noch ein Pfarrer, ein Theolog«, warf Lex ein, »das ist doch einer, der fast Pfarrer ist.«

»Oh, du trauriger Lex, der du glaubst, ein Mensch könne nur dann ein Doktor sein, wenn er Pillen verschreibt und Geschwüre aufschneidet!« rief der ältere Bruder aus.

»Aber Max«, mahnte die Mutter, »welche Art zu sprechen! Und immer so von oben herab; du weißt doch auch noch nicht alles. Sieh, Lex, Herr Delmy ist Doktor der Theologie und kein Arzt.«

»Ach, Mama, wenn er doch nicht gerade heute käme«, klagte Elsa, »gerade heute abend; ich habe auch meinen Vers noch gar nicht gemacht und kann ihn gar nicht machen, und ich schäme mich furchtbar, ihn vorzulesen.«

»Ich gar nicht«, warf Lex ein, »und wenn dem Herrn Delmy mein Vers nicht gefällt, so kann er nur selber einen machen.«

»Das kann er«, bestätigte die jüngere Schwester Tilli, die meistens auf des Bruders Seite stand, wenn es galt, die zurückhaltende Elsa ein wenig herauszufordern, als auch gegen den etwas tyrannisch verfahrenden Max sich zu wehren. Mit ziemlichem Gepolter rannten die zwei Verbündeten jetzt davon, nachdem sie Papier und Bleistift so befriedigt in den Sack gesteckt, daß man sehen konnte: was damit vorgehen sollte, war besorgt. Die Mutter hatte sich auch entfernt, und nun stand auch Max von seiner Arbeit auf und drehte mit einiger Wichtigkeit seinen Stift in den silbernen Halter zurück; sichtlich war sein schönes Material für ihn beim Arbeiten keine Nebensache.

»Soll ich dir etwa zu einem Schluß deines Gedichtes verhelfen?« fragte er jetzt, zu Elsa gewandt, die, den Bleistift in der Hand, vor dem unbeschriebenen Papier saß und staunte.

»Zu einem Schluß!« erwiderte sie kläglich. »Ich habe ja noch keinen Anfang und gar nichts, nicht einmal einen Titel; ich weiß nicht, worüber ich nur einen Vers machen soll.«

»Gleich über deine Erlebnisse, siehst du, das ist leicht«, versicherte Max. »Überschrift: Zustand eines verunglückten Dichters.«

»Ach, Max, ich bin ja kein Dichter.«

»Nun ja, also denn so: Zustand einer sein sollenden Dichterin.«

»Bsch, Max«, sagte Elsa ängstlich, »hörst du nicht Wagenräder? Wenn es schon der fremde Herr wäre?«

Max lief ans Fenster. »Wahrhaftig! Da ist er schon! Er steigt aus. Der ist aber groß! Gewiß wie Papa, aber viel schmaler, sicher nur die Hälfte von Papa. Er hat schwarze Haare, alle nach hinten gestrichen, beträchtliche Nase – puff – da hat ihm Lex seinen Ball an den Kopf geworfen; der trifft immer dahin, wohin er nicht soll. Die Mutter hat's gesehen, sie sieht vor Schrecken gerade aus, als ob die Welt auf der Stelle untergehen müßte. Aber der ist höflich! Jetzt küßt er der Mutter die Hand – so etwas ist noch gar nie dagewesen! Der sieht aber wirklich aus wie ein Herr, der gefällt mir.«

»Ach, schweig doch, Max, es wird mir ja immer mehr angst«, jammerte Elsa. »Vor diesem Herrn sollen wir nun gleich unsere Verse lesen, und jetzt schäme ich mich so, daß ich gar keinen mehr machen kann.«

Jetzt nahten Stimmen und Tritte vom Hausflur her. Elsa packte Papier und Bleistift zusammen und schoß wie der Blitz ins Nebenzimmer hinein. Max lief ihr nach; denn auch ihn hatte eine Art Scheu vor dem »wirklichen« Herrn erfaßt.

Die Mutter trat mit Herrn Delmy ins Zimmer, wo sie ihn recht herzlich in ihrem Hause willkommen hieß. Dann folgten noch einmal die reichlichen Entschuldigungen für den freilich ungewollten Empfang, den ihm ihr Sohn Lex bereitet hatte. Dann sprach sie die ernstlich gemeinten Befürchtungen aus, die ländliche, noch sehr der Kultur bedürftige Art ihrer Kinder möchte Herrn Delmy empfindlich berühren und dadurch ihm das Leben in ihrem Hause mehr eine Last als eine Erholung werden. Herr Delmy beruhigte sie in freundlicher Weise darüber, und bald darauf saßen die Frau Amtmann und Herr Delmy nebeneinander in eingehendem Gespräch und verstanden sich so gut, als wären sie langjährige Freunde. Jetzt hörte man mit raschen Schritten den Amtmann herankommen.

Er trat in das Zimmer ein, begrüßte mit Herzlichkeit den angekommenen Gast und schlug ihm gleich einen kurzen Gang durch den Garten vor, sichtlich in der Absicht, das Feld für die Zubereitung zu der Abendmahlzeit frei zu machen.

Als nach einiger Zeit die Herren wieder eintraten, war auch schon alles bereit, und alle vier Kinder standen erwartungsvoll in einem Haufen zusammen.

»Stellt euch einmal der Reihe nach auf«, sagte der Amtmann, »so kann ich euch vorstellen. So! Nein, sagen Sie mir erst, Herr Doktor, wie wollen Sie von den Kindern genannt sein?«

»Mit meinem Namen, Delmy«, war die Antwort.

»Gut, Kinder, Herr Delmy aus Schlesien will so freundlich sein, euch eine Zeitlang Unterricht zu erteilen, wenn ihr nämlich so seid, daß er es mit euch aushält. Hier, Herr Delmy: mein Sohn Max, vierzehn Jahre alt; meine Tochter Elsa, zwölf Jahre; Alexander oder Lex, elf Jahre; Mathilde oder Tilli, zehn Jahre; jedes mit seiner eigenen Art oder Unart.«

Herr Delmy sagte jedem der Kinder ein freundliches Wort der Reihe nach; dann schlug der Amtmann vor, daß man sich zu Tische setze; Lex atmete auf, denn bis jetzt hatte er immer gewartet, Herr Delmy werde noch darauf anspielen, in welcher Weise er bereits seine Bekanntschaft eingeleitet hatte, was er nicht gern vor den Vater gebracht haben wollte. Da man sich nun zu Tische setzte und er sich in Sicherheit sah, griff er fröhlich zu. Nicht so seine Schwester Elsa. Sie saß neben der Mutter und schien gar keine Freude an dem gefüllten Teller zu haben, der vor ihr stand. Leise hatte sie die Mutter schon zweimal am Ärmel gezupft; aber diese hatte keine Antwort gegeben; denn sie war sehr beschäftigt, teils mit der Bedienung, teils mit der Unterhaltung. Aber jetzt gab es eine Pause; Elsa zupfte nochmals und sah die Mutter sehr bittend an, indem sie ein Papierchen und einen Bleistift unter ihren Teller schob und leise flüsterte: »Ich weiß gewiß, gewiß keinen Schluß.« Die Mutter schaute das Papierchen an und schrieb schnell ein paar Worte darauf.

Nachdem der Tisch abgedeckt war, wandte sich der Amtmann an seinen Gast: »Nun folgt der Sängerkrieg, Herr Delmy, der findet jeden ersten Sonntag im Monat statt; am zweiten wird von jedem der Kinder ein Aufsatz geliefert, am dritten wird gesungen, Solo und Chor, und am vierten werden schriftliche Fragen und Antworten geliefert, eine gute Übung in der Geistesgegenwart.«

»Alles gute Übungen, Herr Amtmann«, gab der Gast zurück; »nur merkwürdig, daß hier so ohne weiteres Dichtungen geliefert werden, das gelänge nicht überall gut.«

»Der Mensch kann, was er will«, entgegnete der Amtmann. »Man hat viele Anlagen und kennt sie nicht, bevor man sie anwendet; man soll alles versuchen, so geht nichts verloren. Die Woche durch bin ich immer beschäftigt, nur den Sonntagabend habe ich frei, den bring ich in der Familie zu; da muß aber die Unterhaltung einen Gewinn bringen; denn Zeit verlieren ist kein Vergnügen. Nun vorwärts, Max, angefangen!«

Die Mutter hatte mitten auf den Tisch ein Körbchen gestellt, in diesem lag ein prächtiger Apfel, in den ein weißes Messerchen gesteckt war, der Preis für das beste Gedicht.

Max räusperte sich vernehmlich als Vorbereitung und fing dann mit feierlicher Stimme zu lesen an:

»Abendempfindung.

Die Sonne sinkt, und der Abend siegt,
der Nachttau rauscht, und der Glühwurm fliegt;
aus dem lauen Teich blickt der Frosch hervor
und hebt in die Kühle sein grünes Ohr.
Es legt sich der Stier und brüllt nach Raub,
Heuschreckenrudel durchrauschen das Laub;
nun suchen die Menschen des Lagers Ruh
und machen die Augen und die Türe zu.«

»Hm, das Gedicht hat einige Sonderbarkeiten«, bemerkte der Vater, »es spricht aber entschieden von poetischen Anlagen. Nun weiter.«

Elsa begann leise und schüchtern:

»Eine Klage.

Ich will gern Röcke schneiden
und viele Menschen kleiden
und auch noch andre Dinge leiden.
Von allen Sachen
will ich am wenigsten gern
Lieder machen.«

»Es ist richtig, Elsa weiß etwas Besseres zu tun, als Lieder zu machen; darum kann sie so sagen«, erklärte der Vater. »Jetzt weiter!«

Lex erhob seine Stimme und las mit großer Deutlichkeit:

»Gesetz beim Eierlegen.«

»Vielversprechender Titel«, bemerkte der Amtmann.

Lex fuhr fort:

»Legt ein Huhn ein Ei für euch,
müßt ihr es nicht stören;
ist es fertig, wißt ihr's gleich,
denn man kann es hören.«

»Nun, Tilli, was bringst du uns noch?« fragte der Vater. Das eifrige Tilli hielt sich schon bereit und las sofort:

»Die vier Jahreszeiten.

Im Frühling ist's schön, denn da schmilzt schon der Reif;
im Sommer ist's schöner, wenn die Kirschen sind reif;
im Herbst ist's am schönsten, da gibt's Birnen so süß;
im Winter kann man rodeln, doch friert man an die Füß.«

»So, da wären wir am Ende«, sagte der Amtmann. »Nun handelt es sich darum, den Preis mit Gerechtigkeit zu erteilen. Ein paar Sonderbarkeiten abgerechnet, wäre doch die ›Abendempfindung‹ von Max gar nicht übel. Was sagen Sie dazu, Herr Delmy?«

»Max muß wohl stark unter dem Eindruck des Gelesenen stehen«, entgegnete lächelnd Herr Delmy; »wenn wir die paar Sonderbarkeiten seiner Dichtung wegräumen und eine kleine Änderung vornehmen, muß ich befürchten, kommt ein ziemlich bekanntes Gedicht von Freiligrath heraus.«

»Nun, Max, was sagst du dazu?« fragte der Vater.

»O ja, das ist schon möglich, daß ich vielleicht so etwas gelesen habe; wenn da etwas Ähnliches erscheint, so ist mein gutes Gedächtnis daran schuld«, erklärte Max in ziemlich unbefangener Weise.

»Da könnte dein gutes Gedächtnis dir vielleicht auch dazu verhelfen, daß du unterscheidest, was du einem anderen nimmst und was du selbst machst«, sagte der Vater; »du kriegst diesmal den Preis nicht, das ist sicher. Was meinen Sie, Herr Delmy, und was meint die Mama, wenn wir heut unserem Landwirt, dem Lex, den Preis zuerkennen würden? Sein Produkt ist doch wohl selbstgemacht?«

Die Befragten waren beide einverstanden, daß diese Poesie eigene Leistung sei, und daß sie den Preis erhalten solle. Lex nahm sein Messer beim Vater mit Befriedigung in Empfang; doch machte er gleich eine prüfende Bewegung an der Schneide, ob sie auch scharf und ein richtiges Werkzeug sei; denn Lex war praktisch und sah sich alles auf den Nutzen an. Es mußte aber gut stehen um den eroberten Preis; denn Lex steckte ihn sehr erfreut in seine Tasche.

Als Herr Delmy sich in sein Zimmer zurückgezogen hatte und auch die Kinder verschwunden waren, blieben der Vater und die Mutter noch eine Weile allein in der Stube. »Ich glaube, wir haben den rechten Mann im Haus«, sagte der Amtmann zu seiner Frau.

»Das glaube ich auch«, erwiderte diese.

»Der ist dem Max gewachsen«, fuhr der Amtmann fort, »diesem hochmütigen Bürschchen, das jeden Tag seinen Kopf einen halben Schuh höher trägt; auch hat der Mann eine Art und Weise, die dem klobigen Lex zu einiger Verfeinerung verhelfen und das verwilderte Tilli etwas zähmen wird, das wirst du sehen! Dabei sieht er eigentlich so aus, als könnte er keiner Fliege etwas zuleid tun.«

»Noch besser sieht er aus«, entgegnete die Frau Amtmann, »so als könnte er sogar einer Fliege etwas zulieb tun.«

»Nu, meinetwegen«, schloß ihr Mann, indem er sich anschickte, die Stube zu verlassen. »Ich sage nur soviel: das ist mein Mann.«

»Und der meine auch«, setzte die Frau hinzu, indem sie ihm folgte.


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